Urteil vom Finanzgericht Hamburg (5. Senat) - 5 K 60/16

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Änderung der Bescheide über Gewerbesteuermessbetrag 2010 und 2011.

2

Der Kläger war wenigstens seit 2009 an "A GmbH", seit 05.10.2010 firmierend "B GmbH, beteiligt (im Folgenden: GmbH). Nach übereinstimmendem Vortrag der Beteiligten lag die Beteiligung bis zum 04.03.2009 bei weniger als 15 %, ab dem 04.03.2009 bis mindestens Ende 2011 bei 25,2 %. Im Handelsregister ist für die A GmbH allein die Gesellschafterliste vom 04.03.2009 und eine weitere Liste vom 26.03.2018 hinterlegt.

3

In den Gewerbesteuererklärungen der Jahre 2009 - 2011 befindet sich jeweils in der Zeile für die Hinzurechnungen gem. § 8 Nr. 5 GewStG keine Eintragung des Klägers.

4

Die Körperschaftsteuererklärungen für die Jahre 2009 - 2011 enthalten jeweils eine Eintragung in der Zeile für Bezüge i. S. v. § 8b Abs. 1 KStG.

5

Auf dem Ausdruck der Probeberechnung für den Gewerbesteuermessbetrag 2009 findet sich als handschriftliche Anmerkung zu den Erläuterungen betr. die Hinzurechnung gem. § 8 Nr. 5 GewStG die Bemerkung: "Anteil an A GmbH < 15 %".

6

Bei den Bescheiden über den Gewerbesteuermessbetrag des Jahres 2009 ebenso wie bei den entsprechenden Bescheiden für 2010 vom 13.06.2012 und für 2011 vom 26.02.2013 nahm der Beklagte eine Hinzurechnung vor, und zwar in Höhe von 14.362 € für 2010 und in Höhe von 11.969 € für 2011. Die ohne Vorbehalt der Nachprüfung erlassenen, der prozessbevollmächtigten Rechtsanwaltsgesellschaft (Vollmacht nebst Zustellungsvollmacht vom 10.02.2006) bekannt gegebenen Bescheide enthalten jeweils die Erläuterung "Gemäß § 8 Nr. 5 GewStG ist eine Hinzurechnung für die nach § 8b Abs.1 KStG außer Ansatz bleibenden Gewinnanteile (Dividenden) in Höhe von ... vorzunehmen.

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Mit Schriftsatz vom 03.04.2013 beantragte der Kläger die Änderung der Gewerbesteuermessbetragsbescheide für 2010 und 2011 gem. § 129 AO. Er bezog sich auf eine telefonische Auskunft des Beklagten, wonach dem Ansatz der Beteiligungshöhe unter 15 % eine Überprüfung im Rahmen der Veranlagung 2009 zugrunde gelegen habe. Dies widerspreche jedoch dem Anstieg der Beteiligungshöhe im Jahr 2009 auf 25,2 %.

8

Mit Bescheid vom 17.04.2013 lehnte der Beklagte den Änderungsantrag ab. Die Unrichtigkeit der Bescheide beruhe nicht auf einem mechanischen Fehler, sondern auf unterlassener Sachverhaltsaufklärung, sodass eine offenbare Unrichtigkeit i. S. v. § 129 AO nicht vorliege. In Zukunft werde darauf geachtet werden, ob § 8 Nr. 5 GewStG Anwendung finde.

9

Den am 06.05.2013 eingelegten Einspruch, den der Kläger zusätzlich mit Hinweis auf Sinn und Zweck des § 9 Nr. 2a GewStG auf § 174 AO stützte, wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 18.04.2016 als unbegründet zurück. Die Berücksichtigung eines bestimmten Betrages in mehreren Bescheiden stelle keinen bestimmten Sachverhalt i. S. v. § 174 AO dar. Zudem sei eine mehrfache Erfassung nach materiellem Recht nicht zwingend ausgeschlossen.

10

Am 21.05.2016 hat der Kläger Klage erhoben.

11

Eine Anfrage des Gerichts, welche Ermittlungen oder Erkenntnisquellen dem handschriftlichen Zusatz auf der Probeberechnung für den Gewerbesteuermessbetrag 2009 zugrunde gelegen haben, vermochte der Beklagte nicht zu beantworten.

12

Der Kläger trägt vor:
Die Voraussetzungen des § 129 AO lägen vor. Es handele sich um die lediglich technische Übernahme eines zwischenzeitlich unzutreffend gewordenen Beteiligungssatzes aus den Vorjahren. Eine neue rechtliche oder tatsächliche Subsumtion sei nicht durchgeführt worden. Die Unrichtigkeit sei der Dienststelle bekannt und für den Beklagten daher erkennbar gewesen, da die ausschüttende Körperschaft in demselben Bezirk wie der Kläger veranlagt werde.
Zusätzlich greife auch § 174 Abs. 1 AO. Derselbe Sachverhalt, nämlich rechtlich ein Gewerbeertrag, werde doppelt der Gewerbebesteuerung unterworfen. Nach der Wertung des § 9 Nr. 2a GewStG sei ein Gewerbeertrag, der bereits bei der ausschüttenden Körperschaft der Gewerbebesteuerung unterworfen wurde, bei dem Dividendenempfänger nicht erneut zu besteuern. Die Nichtanwendung des § 174 AO verstoße gegen den Gleichheitssatz.
Sollte es sich bei der zutreffenden Beteiligungshöhe doch um eine dem Beklagten erst nachträglich bekannt gewordene Tatsache handeln, ergebe sich die Änderungsmöglichkeit jedenfalls aus § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, da den Kläger kein Verschulden daran treffe, dass der Sachbearbeiter die Überprüfung frei zugänglicher Grundlagen unterlassen habe.

13

Der Kläger beantragt,
den Bescheid für 2010 über den Gewerbesteuermessbetrag vom 13.06.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.04.2016 dahingehend zu ändern, dass der Gewerbesteuermessbetrag ohne Berücksichtigung der Hinzurechnungen in Höhe von 14.362 € auf 0 € festgesetzt wird, sowie
den Bescheid für 2011 über den Gewerbesteuermessbetrag vom 26.02.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.04.2016 dahingehend zu ändern, dass der Gewerbesteuermessbetrag ohne Berücksichtigung der Hinzurechnungen in Höhe von 11.969 € auf 76 € festgesetzt wird.

14

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

15

Der Beklagte trägt vor:
Mit den Gewerbesteuermessbescheiden für 2010 und 2011 sei wie schon bei der Veranlagung für 2009 von den Steuererklärungen abgewichen worden. Eine entsprechende Erläuterung sei den Bescheiden hinzugefügt worden. Dies spreche nicht für ein technisches Versehen, sondern für eine bewusste (nachvollziehbare) Subsumtion, auch wenn diese sich nachträglich als unzutreffend erwiesen habe. Welche Erkenntnisquellen dem handschriftlichen Vermerk auf der Probeberechnung für 2009 zugrunde gelegen haben, sei nicht ersichtlich.
Auch hinsichtlich der fehlenden Änderungsmöglichkeit gem. § 174 Abs.1 AO halte er, der Beklagte, an seiner Rechtsauffassung fest.
Eine Änderung gem. § 173 Abs.1. Nr. 2 AO komme nicht in Betracht. Den steuerlich beratenen Kläger treffe ein grobes Verschulden daran, dass die höhere Beteiligung erst nach formeller Rechtskraft der Bescheide bekannt geworden sei. Dass auch der Beklagte die Möglichkeit der Ermittlung gehabt habe, stehe dem nicht entgegen.

16

Dem Senat haben jeweils Band I der Körperschaftsteuerakten, der Gewerbesteuerakten, der Bilanzakten, der Rechtsbehelfsakten und der Akte Allgemeines vorgelegen. Auf die rechtlichen Hinweise des Gerichts vom 08.02.2018 und vom 25.07.2018 sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 09.08.2018 wird verwiesen.

17

Der Rechtsstreit ist mit Beschluss des Senats vom 06.07.2018 auf die Einzelrichterin übertragen worden.

Entscheidungsgründe

I.

18

Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

19

Der Beklagte hat die Änderung der Bescheide zu Recht mangels Vorliegens der Voraussetzungen einer Änderungsnorm abgelehnt.

20

Eine Änderung ist weder gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO noch nach § 129 AO, § 174 Abs. 1 AO oder § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO möglich.

21

1. Eine Änderung gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO scheidet aus, da die Einspruchsfrist zur Zeit des Änderungsantrags abgelaufen war.

22

Die Erstbescheide sind auf der Grundlage der Empfangsvollmacht wirksam der Rechtsanwaltsgesellschaft bekannt gegeben und damit nach Ablauf der Einspruchsfrist bestandskräftig geworden. Der Kläger hat die Bekanntgabe an die Berater auch nicht beanstandet.

23

2. Gem. § 129 AO können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigt werden. Offenbare Unrichtigkeiten i. S. des § 129 AO sind mechanische Versehen, wie beispielsweise Eingabe- und Übertragungsfehler. Die Unrichtigkeit ist offenbar, wenn der Fehler auf der Hand liegt, durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist. Maßgeblich ist, ob der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist. Unerheblich ist dagegen, ob der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit anhand des Bescheids und der ihm vorliegenden Unterlagen erkennen konnte. Von § 129 AO nicht erfasst sind hingegen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, unrichtige Tatsachenwürdigung, die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung beruhen. Besteht auch nur die Möglichkeit, dass der Fehler auf Mängel bei der Ermittlung oder Würdigung des Sachverhalts zurückgeht, kommt eine Berichtigung nach § 129 AO nicht in Betracht. Diese Möglichkeit darf allerdings nicht nur theoretischer Natur sein. Vielmehr muss sie sich durch vom Gericht festgestellte Tatsachen belegen lassen. Deuten die Gesamtumstände des Falles auf ein mechanisches Versehen hin und liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Fehler auf rechtliche oder tatsächliche Erwägungen zurückzuführen ist, so kann berichtigt werden (vgl. insgesamt zu den Voraussetzungen des § 129 AO BFH Urteile vom 08.12.2011 VI R 45/10, BFH/NV 2012, 694, vom 13.06.2012 VI R 85/10, BStBl II 2013, 5, und vom 06.11.2012 VIII R 15/10, juris; BFH Urteil vom 16.01.2018 VI R 41/16, BFH/NV 2018, 551).

24

Entsprechend ist nicht jede versehentlich unberücksichtigte Tatsache mit einer unvollständigen Sachverhaltsermittlung gleichzusetzen. Eine der Berichtigung entgegenstehende unvollständige Sachverhaltsermittlung ist erst anzunehmen, wenn für die Besteuerung wesentliche Tatsachen nicht durch ein mechanisches Versehen unberücksichtigt geblieben sind. Ermittlungsfehler gehen über mechanische Versehen bei der Heranziehung des Sachverhalts zur Steuerfestsetzung hinaus, weil ein Teil des rechtserheblichen Sachverhalts wegen fehlerhaft unterlassener oder unrichtiger Tatsachenaufklärung noch nicht bekannt ist. Ist dagegen ohne weitere Prüfung erkennbar, dass ein Teil des bekannten Sachverhalts aus Unachtsamkeit bei der Steuerfestsetzung nicht erfasst worden ist, darf diese offenbare Unrichtigkeit korrigiert werden (BFH Urteil vom 16.01.2018 VI R 41/16, BFH/NV 2018, 551; BFH Urteil vom 27.05.2009 X R 47/08, BStBl II 2009, 946; BFH Urteil vom 29.03.1985 VI R 140/81, BStBl II 1985, 569 Tz. 12 Juris).

25

Voraussetzung für die Annahme eines - eine Änderung gem. § 129 AO ausschließenden - Rechtsfehlers ist, dass der zuständige Amtsträger die entsprechende Angabe in der Steuererklärung bzw. den vollständigen Sachverhalt, deren/dessen Erfassung in der Steuerfestsetzung fehlerhaft ist, überhaupt zur Kenntnis genommen hat (von Wedelstädt in: Beermann/Gosch § 129 AO Stand 01.01.2018 Rn. 17); im Gegensatz dazu liegt eine offenbare Unrichtigkeit vor, wenn er den richtigen oder vollständigen Sachverhalt aus Unachtsamkeit oder Flüchtigkeit nicht in seine Willensbildung aufgenommen hat.

26

Von einer offenbaren Unrichtigkeit ist nicht auszugehen, wenn sie für den zuständigen Sachbearbeiter nur erkennbar gewesen wäre, wenn er die Steuererklärung der Vorjahre hinzugezogen hätte. In diesen Fällen handelt es sich um eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderliche, vom Sachbearbeiter jedoch - ggf. pflichtwidrig - unterlassene Sachverhaltsermittlung, die kein mechanisches Versehen ist und in der Regel eine offenbare Unrichtigkeit ausschließt (BFH Urteil vom 14.02.1995 IX R 101/93, BFH/NV 1995, 1033; BFH Urteil vom 27.05.2009 X R 47/08, BStBl II 2009, 946; beide Fälle betreffend sog. Übernahmefälle, d. h. die Übernahme von offenkundig fehlerhaften Angaben in der Steuererklärung). Hiervon zu unterscheiden ist z. B. die unterlassene Auswertung einer für das Streitjahr eingegangenen Kontrollmitteilung, das Übersehen eines Grundlagenbescheides oder anderer für das Streitjahr übersandter Unterlagen, soweit aus ihnen die steuerlich erhebliche Tatsache ohne weiteres erkennbar ist (BFH Urteil vom 27.05.2009 a. a. O. Tz. 21).

27

Die objektive Beweislast für das Vorliegen einer offenbaren Unrichtigkeit trägt derjenige, der sich darauf beruft; ein Anscheinsbeweis genügt (BFH Urteil vom 19.03.2009 IV R 84/06, BFH/NV 2009, 1394 Tz. 21 juris).

28

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze liegt nach Würdigung der im Streitfall festgestellten Umstände eine offenbare Unrichtigkeit nicht vor.

29

Der Bearbeiter hat in den Bescheiden für 2010 und 2011 zwar einen schon im Bescheid für 2009 enthaltenen Hinweis auf die Hinzurechnung in den Erläuterungstext aufgenommen. Er hat diesen aber durch Angabe des das jeweilige Jahr betreffenden Gewinnanteils geändert. Dies zeigt, dass er den Erläuterungstext nicht etwa versehentlich mechanisch übernommen, sondern bewusst hinzugefügt, sich damit über die Hinzurechnung und die hierdurch erfolgte Abweichung von der Steuererklärung Gedanken gemacht und bewusst die schon in den Vorjahren erfolgte Handhabung wiederholt hat. Die Unrichtigkeit beruhte ersichtlich darauf, dass der Bearbeiter nicht nochmals den in dem jeweiligen Streitjahr aktuellen Stand der Beteiligungshöhe aufgeklärt hat, mithin auf unvollständiger Sachverhaltsermittlung. Dass sich die Beteiligungshöhe möglicherweise aus den ggf. in demselben Bezirk geführten Akten der ausschüttenden Gesellschaft bzw. aus der beim Handelsregister für diese hinterlegten und für den Sachbearbeiter des Beklagten einsehbaren Gesellschafterliste ergab, vermag die Unrichtigkeit nicht offenbar zu machen.

30

3. Die begehrte Änderung kann nicht auf § 174 Abs. 1 AO gestützt werden.

31

Für eine Änderungsbefugnis gem. § 174 Abs. 1 AO bedarf es der Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen.

32

Als "Sachverhalt" im Sinne des § 174 AO ist nicht nur ein einzelnes Merkmal, sondern der Sachverhaltskomplex anzusehen (s. nur BFH Urteil vom 19.08.2015 X R 50/13, BStBl II 2017, 15; BFH Urteil vom 08.04.2014 I R 51/12, BStBl II 2014, 982).

33

Dieser muss den verschiedenen Steuerbescheiden aber nicht zwingend vollen Umfangs zugrunde liegen; teilweise Deckungsgleichheit genügt (vgl. zu § 174 Abs. 4 AO BFH Urteil vom 19.08.2015 a. a. O. Tz. 21).

34

Die "mehreren Berücksichtigungen" desselben Sachverhalts müssen zueinander in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, das eine nochmalige Berücksichtigung desselben Sachverhalts nach materiellem Recht zwingend (denkgesetzlich) ausschließt (BFH Urteil vom 11.07.1991 IV R 52/90, BStBl II 1992, 126; BFH Urteil vom 02.08.1994 VIII R 65/93, BStBl II 1995, 264; BFH Urteil vom 26.01.1994 X R 57/89, BStBl II 1994, 597; BFH Urteil vom 09.04.2003 X R 38/00, BFH/NV 2003, 1035). Hiervon abzugrenzen ist ein mögliches gesetzliches Modell der Wechselwirkung, das nicht einem zwingenden Verhältnis der Unvereinbarkeit entspricht (BFH Urteil vom 26.01.1994 X R 57/89, BStBl II 1994, 597 zur Behandlung von Versorgungsleistungen beim Leistungsempfänger einerseits und beim Leistenden andererseits das Verhältnis zwischen § 22 Nr. 1 EStG und § 10 Abs.1 Nr. 1a EStG a. F.).

35

Im Streitfall liegt die für § 174 Abs. 1 AO erforderliche denkgesetzliche Ausschließlichkeit der Gewerbebesteuerung bei der GmbH einerseits und dem Kläger andererseits nicht vor.

36

Allerdings deckt sich der in den Gewerbesteuermessbescheiden betreffend die ausschüttende GmbH einerseits und den Kläger andererseits berücksichtigte Sachverhalt (für die GmbH hier die Berücksichtigung unterstellt) teilweise.

37

Als "bestimmter Sachverhalt" i. S. v. § 174 Abs. 1 AO ist nicht der/ein in dem Bescheid angesetzte/r Betrag an sich, sondern der dem zugrunde liegende Sachverhaltskomplex anzusehen. Hierzu gehören nicht nur die Tatsachen für die Qualifizierung als Gewinn bzw. als Ausschüttung/Beteiligungsertrag, sondern auch die Beteiligungshöhe, zumal allein Letztere für die Besteuerung zuungunsten beim Kläger relevant ist. Zwar ist für die Besteuerung der ausschüttenden GmbH in den Streitjahren der Gewinn als solcher (vor Ausschüttung) relevant, nicht aber die Höhe der Beteiligung desjenigen, an den ausgeschüttet wird oder werden soll; für § 174 Abs. 1 AO genügt aber - wie dargelegt - die teilweise Deckungsgleichheit des relevanten und berücksichtigten Sachverhalts.

38

Eine mehrfache Berücksichtigung kann grundsätzlich darin gesehen werden, dass bei der ausschüttenden GmbH der Gewinn vor Ausschüttung besteuert und bei dem Dividendenempfänger die Ausschüttung selbst angesetzt wird. In beiden Fällen ist ein teilidentischer Sachverhalt berücksichtigt, die unterschiedliche Perspektive dürfte hieran nichts ändern.

39

Jedoch schließt die Gesetzessystematik eine "doppelte" Besteuerung sowohl bei der ausschüttenden Körperschaft als auch bei dem Dividendenempfänger gerade nicht generell aus, sondern nur bei Überschreiten einer bestimmten Beteiligungshöhe.

40

In die Ermittlung des Gewinns aus Gewerbebetrieb wird die Ausschüttung gem. § 8 S. 1 GewStG über die Anknüpfung an die Ermittlung des Gewerbeertrags nach dem Körperschaftsteuergesetz (§ 7 GewStG) zunächst nicht einbezogen. Insoweit wirkt sich das körperschaftsteuerliche Schachtelprivileg gem. § 8b Abs. 1 KStG (zur Vermeidung der Doppel- bzw. Mehrfachbelastung bei mehrstöckigen Beteiligungen, d. h. bei Gewinnausschüttungen zwischen Kapitalgesellschaften) zunächst auch auf die Gewerbesteuer aus - weshalb eine Kürzung des Gewinns gem. § 9 Nr. 2a GewStG nicht in Betracht kommt. Jedoch ist das gewerbesteuerliche Schachtelprivileg gem. § 8 GewStG modifiziert. Die gewerbesteuerliche Freistellung der Beteiligungserträge greift nur, wenn die Beteiligung wenigstens 15 % beträgt, d. h. eine Hinzurechnung erfolgt, wenn die Beteiligung unter 15 % liegt. Dies folgt aus der Verknüpfung von § 8 Nr. 5 GewStG mit § 9 Nr. 2a GewStG, wonach eine Hinzurechnung vorzunehmen ist, soweit die Beteiligung nicht die Voraussetzungen gem. § 9 Nr. 2a GewStG erfüllt, d. h. nicht zu Beginn des Erhebungszeitraums 15 % oder mehr erreicht. Der gewerbesteuerlich relevante Streubesitz ist mithin von dem Schachtelprivileg im Rahmen des § 8 Nr. 5 GewStG ausgenommen (zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Mindestbeteiligungsquote und dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Steuerbegünstigung durch das Schachtelprivileg vgl. BFH Urteil vom 30.05.2014 I R 12/13, BFH/NV 2014, 1402, und FG Hamburg Urteil vom 06.04.2017 1 K 87/15, EFG 2017, 1117 zu § 9 Nr. 2a GewStG).

41

Der von dem Beklagten nach Aktenlage zugrunde gelegte Sachverhalt einer Beteiligungshöhe von weniger als 15 % führte - seine Richtigkeit unterstellt - zu Recht zu einer Erfassung sowohl bei der Gewerbesteuer der GmbH als auch des Klägers. Wenn das Finanzamt die nach dem gesetzlichen Modell gewollte Wechselwirkung nicht zutreffend umsetzt, weil es entweder die Rechtslage verkennt oder aber - wie im Streitfall - den Sachverhalt falsch würdigt bzw. einschätzt, so kann dieser Fehler nicht über § 174 AO ausgeglichen werden (vgl. BFH Urteil vom 26.01.1994 X R 57/89, BStBl II 1994, 597).

42

3. Auch eine Änderung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kommt nicht in Betracht.

43

Nach der genannten Vorschrift sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

44

Im Streitfall kann unentschieden bleiben, ob die zutreffende Beteiligungshöhe erst nachträglich, d. h. nach der erstmaligen Festsetzung bekannt geworden ist, da auch im Falle erst nachträglichen Bekanntwerdens den Kläger grobes Verschulden hieran zur Last fiele.

45

a) Eine Tatsache ist dann nachträglich bekannt geworden, wenn sie dem zuständigen Bediensteten des Finanzamts bei Abschluss der Willensbildung in Bezug auf den zu ändernden Steuerbescheid nicht bekannt war. Nach der Rechtsprechung des BFH kommt es nicht auf die Kenntnis der "Finanzbehörde" als solche, sondern auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalls organisatorisch berufenen Dienststelle bzw. der zuständigen Personen (regelmäßig Sachbearbeiter, Sachgebietsleiter und Vorsteher) an (BFH Urteil vom 13.06.2012 VI R 85/10, BStBl II 2013, 5 Tz. 23 ff.; BFH Urteil vom 14.11.2007 XI R 48/06, BFH/NV 2008, 367; a. A. Loose in: Tipke/Kruse, AO § 173 AO Lfg. April 2017 Tz. 31).

46

Anders als bei einer Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO kann eine aus den Akten nicht hervorgehende Tatsache, die sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkt, im Rahmen des § 173 Abs.1 Nr. 2 AO nach der Rechtsprechung des BFH nicht als bekannt angesehen werden, die der zuständige Bedienstete lediglich hätte kennen können oder kennen müssen. Die Behörde könne sich nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen (durch Nichtberücksichtigung für den Steuerpflichtigen günstiger Tatsachen) auf ein eigenes Versäumnis oder Verschulden berufen. Maßgeblich sei daher allein die positive Kenntnis (BFH Urteil vom 19.11.2008 II R 10/08, BFH/NV 2009, 548 Tz. 13, 15; BFH Urteil vom 26.11.1996 IX R 77/95, BStBl II 1997, 422). Demgegenüber sind nach der Rechtsprechung des BFH alle diejenigen Tatsachen bekannt, die sich aus den von der zuständigen Stelle geführten Akten oder elektronischen Informationssystemen ergeben, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters ankommt (BFH Urteil vom 13.06.2012 VI R 85/10, BStBl II 2013, 5 Tz. 25; BFH Urteil vom 13.01.2011 VI R 61/09, BStBl II 2011, 479). Dies soll - für § 173 Abs. 1 Nr. 1 ebenso wie für Nr. 2 - nicht nur für die Akten der Streitjahre oder der Veranlagungsstelle gelten, sondern auch für die Akten der Vorjahre oder die der Rechtsbehelfsstelle vorliegenden Akten (BFH Urteil vom 27.11.2001 VIII R 3/01, BFH/NV 2002, 473 Tz. 32 ff. juris). Mit Urteil vom 27.11.2001 VIII R 3/01 weist der BFH für § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO und gegen abweichende Stimmen aus Rechtsprechung und Literatur zu § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO für Tatsachen aus Akten des Streitjahres oder des unmittelbaren Vorjahres darauf hin, dass diese ohne Rücksicht auf die bewusste Kenntnisnahme oder noch im Gedächtnis befindliche Kenntnis "bekannt geworden" seien (Tz. 32, 34 juris).

47

Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des BFH an.

48

Die vorliegenden Akten des Beklagten lassen keine konkreten Hinweise auf die Höhe der Beteiligung an der GmbH erkennen. Anhaltspunkte dafür, dass sich Hinweise hierauf in etwaigen bei dem Beklagten geführten elektronischen Registern ergaben, liegen nicht vor. Allenfalls ist eine Schlussfolgerung aufgrund der Tatsache möglich, dass in der Gewerbesteuererklärung in der hierfür vorgesehenen Spalte kein Hinzurechnungstatbestand eingetragen wurde. Bei unterstellter korrekter Ausfüllung der Erklärung ließe dies den Schluss darauf zu, dass die in den Körperschaftsteuererklärungen erklärten Beteiligungen gem. § 8b Abs. 1 KStG die Voraussetzungen für eine Hinzurechnung nicht erfüllten, d. h. (gem. § 8 Nr. 5 GewStG i. V. m. § 9 Nr. 2a GewStG) wenigstens 15 % betrugen.

49

Wollte man aufgrund dieses Umstandes die Beteiligungshöhe als "bekannt" ansehen, wäre diese Tatsache nicht "nachträglich" bekannt geworden.

50

Etwas anderes würde gelten, wenn man entweder die mögliche Schlussfolgerung aus nicht erfolgten Angaben nicht genügen lassen wollte oder davon ausginge, dass die auf besagte Art und Weise ehemals ggf. bekannt gewordene Tatsache dadurch wieder "unbekannt geworden" wäre, dass der Kläger sich nicht mit Einsprüchen gegen die insoweit erfolgte Abweichung von der Steuererklärung gewendet hat. Dann wäre die Tatsache erst mit dem Änderungsantrag vom 03.04.2013 und damit nachträglich bekannt geworden.

51

b) Selbst wenn man im Streitfall von einer erst nachträglich bekannt gewordenen Tatsache ausgehen wollte, schiede eine Änderung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen groben Verschuldens des Klägers an dem nachträglichen Bekanntwerden aus.

52

Bei der nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erforderlichen Prüfung des groben Verschuldens der Steuerpflichtigen ist auf die nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt abzustellen. Diese Sorgfalt muss in einem ungewöhnlichen, nicht entschuldbaren Maß verletzt sein (BFH Urteil vom 19.11.2008 II R 10/08, BFH/NV 2009, 548 Tz. 17).

53

Grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO liegt dann nicht vor, wenn die Abgabe einer unvollständigen Steuererklärung allein auf einem subjektiv entschuldbaren Rechtsirrtum beruht.

54

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH hat der Steuerpflichtige auch ein Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung zu vertreten (z. B. BFH-Urteil vom 03.12.2009 VI R 58/07, BStBl II 2010, 531; BFH Urteil vom 17.11.2005 III R 44/04, BStBl II 2006, 412; krit. Loose in: Tipke/Kruse § 173 Lfg. April 2017 Tz. 82 ff.). Die Zurechnung des Verschuldens des steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung ergibt sich aus der Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Richtigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung (§ 150 Abs. 2 Satz 1 AO). Dieser Verantwortung kann er sich nicht dadurch entziehen, dass er die Ausarbeitung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater überträgt.

55

Für das grobe Verschulden genügt auch ein Verhalten bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft, wenn es der Steuerpflichtige oder sein Berater versäumt, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt im Rahmen eines fristgerechten Einspruchs mitzuteilen und damit verhindert, dass der zutreffende Sachverhalt im Bescheid erfasst wird (BFH Urteil vom 09.05.2017 VIII R 40/15, BStBl II 2017, 1049 Tz. 29).

56

Angesichts der zutreffenden Angaben im Rahmen der Steuererklärung kann ein schuldhaftes Verhalten des Klägers im Streitfall nur darin gesehen werden, dass er bzw. sein Berater nicht spätestens mit Zugang der die Abweichung von den Erklärungen deutlich machenden Bescheide im Rahmen eines fristgerechten Einspruchs die tatsächliche Beteiligungshöhe mitgeteilt haben.

57

Die Steuerbescheide sind der Rechtsanwaltsgesellschaft zugesandt worden.

58

Der Rechtsanwalt, dessen Verhalten dem Kläger zuzurechnen ist, hätte die Abweichung von der Erklärung erkennen, den Schluss auf den Ansatz einer möglicherweise unzutreffenden Beteiligungshöhe ziehen, diese überprüfen und im Interesse des Mandanten das Amt durch Einspruch informieren müssen.

59

Das Unterlassen eines entsprechenden Hinweises ist als grob schuldhaft zu werten.

60

Zwar liegt auch ein Verschulden des Amtes vor, das offenbar im Rahmen der Veranlagungen für 2010 und 2011 nicht (nochmals ) die Beteiligungshöhe ermittelt hat und allein auf der Grundlage der Ermittlungen für 2009 (deren Art nicht, wohl aber deren Ergebnis feststeht: unter 15%) wieder von den Steuererklärungen abgewichen ist.

61

Jedoch hat das Verhalten des Finanzamts nach ständiger Rechtsprechung bei der Würdigung des groben Verschuldens des Steuerpflichtigen jedenfalls dann außer Betracht zu bleiben, wenn ein Steuerpflichtiger eine Änderung der Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten begehrt (vgl. BFH Urteil vom 09.08.1991 III R 24/87, BStBl II 1992, 65; BFH Urteil vom 04.02.1993 III R 78/91, BFH/NV 1993, 641).

II.

62

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 135 Abs.1 115 Abs. 2 FGO.

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