Beschluss vom Finanzgericht Hamburg (2. Senat) - 2 V 122/20

Tatbestand

I.

1

Die Antragstellerin betreibt seit dem ... das Restaurant "XXX" im sog. Portugiesenviertel in Hamburg. Sie ermittelte ihren Gewinn durch Einnahme-Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Gemäß Anordnung vom 17. Dezember 2013 erfolgte eine Außenprüfung für die Jahre 2009 bis 2011, in denen die Antragstellerin ausschließlich Verluste, und zwar in Höhe von ... Tsd. €, ... Tsd. € und ... Tsd. €, erklärt hatte. Aufgrund einer Kontrollmitteilung des Außenprüfers wurde am 28. März 2014 ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren und am 24. Juli 2014 das Strafverfahren gegen die Antragstellerin eingeleitet und die Außenprüfung auf das Streitjahr 2012 erweitert.

2

Der Außenprüfer stellte fest, dass die Buchführung nicht ordnungsgemäß war, hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Weil die Antragstellerin ihrer Verfahrensbevollmächtigten für die Erstellung der Steuererklärungen keine Unterlagen über Bargeldbewegungen vorgelegt hatte, hatte diese bei Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen für die Prüfungsjahre selbst Bareinnahmen hinzugeschätzt (... Tsd. € in 2009 und 2011 sowie ... Tsd. € in 2010 und offenbar knapp ... Tsd. € in 2012). Auch unter Einbeziehung dieser Zuschätzungen und vom Außenprüfer korrigierter Sachbezüge ergaben sich unter dem niedrigsten Wert der Richtsatzsammlung liegende Rohgewinnaufschlagsätze (RGAS), und zwar in

                          

2009   

112,48 %

(170 % bis 335 %)

2010   

112,77 %

(186 % bis 400 %)

2011   

150,27 %

(203 % bis 426 %)

2012   

177,31 % (Wert ohne korrigierte Sachbezüge)

(186 % bis 400 %)

3

Gemäß Außenprüfungsbericht vom 18. April 2019 (2009 bis 2011) und Ergänzungsbericht vom 15. Mai 2019 (2012) erfolgte eine Schätzung auf Grundlage des erklärten Wareneinsatzes unter Anwendung des Mittelwerts der Richtsatzsammlung (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Berichte Bezug genommen).

4

Am 1. Juli 2019 ergingen Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag 2012 (Gewerbesteuermessbetrag = 0 €) und 2013 (Gewerbesteuermessbetrag = 1.064 €), die jeweils am 27. Dezember 2019 geändert wurden; der Gewerbesteuermessbetrag für 2012 wurde auf 815 €, der für 2013 auf 0 € festgesetzt. Ebenfalls am 27. Dezember 2019 wurde der Bescheid über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2012 vom 1. Juli 2019 aufgehoben. Mit Bescheid über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2013 vom 1. Juli 2019 war die Feststellung mangels vortragsfähigen Verlustes abgelehnt worden.

5

Unter dem 20. November 2019, nochmals geändert am 27. Dezember 2019, erging der geänderte Bescheid für 2012 über Einkommensteuer.

6

Hiergegen richteten sich die am 29. Juli 2019 und 26. November 2019 (Einkommensteuer) eingegangenen Einsprüche, mit denen die Antragstellerin Zweifel gegen die Feststellungen der Außenprüfung und der Steuerfahndungsstelle geltend machte und Aussetzung der Vollziehung beantragte. Die Gewährung von Aussetzung der Vollziehung lehnte der Antragsgegner am 29. November 2019 (Einkommensteuer) und 21. Januar 2020 (Gewerbesteuer) ab. Ein hiergegen gerichtetes Einspruchsverfahren blieb erfolglos. Mit Entscheidung vom 8. Juni 2020 wurden auch die Einsprüche zur Hauptsache zurückgewiesen.

7

Am 9. Juli 2020 hat die Antragstellerin Aussetzung der Vollziehung bei Gericht beantragt und Klage erhoben (2 K 121/20), über die noch nicht entschieden ist.

8

Die Antragstellerin nimmt nicht in Abrede, dass Zuschätzungen vorzunehmen seien, weil die Buchführung fehlerhaft gewesen sei. Zu beanstanden sei aber, dass den Schätzungen der Mittelwert der Richtsatzsammlung zu Grunde gelegt worden sei. Hierdurch seien persönliche Umstände, wie beispielsweise erstmalige Aufnahme einer gastronomischen Tätigkeit, Öffnungszeiten, Urlaub und Ferienzeiten der Familie und persönliche Überforderung nicht berücksichtigt worden. Auch wenn sich das Restaurant in einer guten Lage befinde, sei bei der Prüfung nicht verprobt worden, ob sie, die Antragstellerin, die geschätzten Umsätze überhaupt habe erwirtschaften können.

9

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Bescheide für 2012 über den Gewerbesteuermessbetrag, die Gewerbesteuer, über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2012, jeweils vom 27. Dezember 2019, und auf den 31. Dezember 2013 vom 1. Juli 2019 sowie über Einkommensteuer für 2012 vom 27. Dezember 2019, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. Juni 2020 und über Umsatzsteuer für 2012 vom 1. Juli 2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2020 von der Vollziehung auszusetzen.

10

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

11

Angesichts der festgestellten Mängel der Buchführung und der Verletzung der Mitwirkungspflichten sowie des Umstandes, dass selbst die Verfahrensbevollmächtigte im Rahmen der Umsatzsteuervoranmeldungen Zuschätzungen vorgenommen habe, sei die Schätzung anhand eines äußeren Betriebsvergleichs nach Maßgabe des Mittelwerts der Richtsatzsammlung nicht zu beanstanden. Die Hinweise auf besondere persönliche Umstände seien zu unspezifiziert. Im Übrigen seien ausweislich des Ergänzungsberichts vom 15. Mai 2019 Umsätze wie von der Beraterin in den Voranmeldungen angegeben, zugrunde gelegt worden; Betriebsausgaben seien in Höhe einer während der Prüfung vorliegenden Datev-Aufstellung berücksichtigt worden.

...

Entscheidungsgründe

II.

12

Der Antrag hat keinen Erfolg.

13

1. Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht Aussetzung der Vollziehung gewähren, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies ist dann der Fall, wenn eine summarische Prüfung ergibt, dass neben der für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umstände gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen (ständige Rechtsprechung; Nachweise bei Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 89). Dabei muss der Erfolg nicht wahrscheinlicher sein als der Misserfolg (z.B. Bundesfinanzhof (BFH)-Beschluss vom 21. Dezember 1993, VIII B 107/93, BStBl II 1994, 300). In dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als summarischem Verfahren entscheidet das Gericht nur auf der Basis der ihm vorliegenden Unterlagen, d.h. nach Aktenlage und aufgrund von präsenten Beweismitteln. Dabei haben die Beteiligten die entscheidungserheblichen Tatsachen glaubhaft zu machen, § 155 FGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 der Zivilprozessordnung. Es ist Sache der Beteiligten, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, soweit ihre Mitwirkungspflicht reicht (BFH-Beschluss vom 20. März 2002, IX S 27/00, BFH/NV 2002, 809 m.w.N.). Wie im Hauptsacheverfahren gelten auch im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO grundsätzlich die Regeln über die objektive Feststellungslast (BFH-Beschluss vom 26. August 2004, V B 243/03, BFH/NV 2005, 255).

14

2. Es bestehen nach Maßgabe des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfungsmaßstabes keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide.

15

a) Der Antrag ist bezüglich des Gewerbesteuerbescheides für 2012 und des Bescheides über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2013 bereits mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Bei beiden Bescheiden handelt es sich um Folgebescheide, einerseits des Gewerbesteuermessbescheides für 2012 und andererseits des Bescheides über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2012 bzw. des Gewerbesteuermessbescheides für 2013, die nicht gesondert angefochten werden können (§ 351 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO)).

16

b) Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.

17

Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann, wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen bestehen. Dabei ist zum einen die umsatzsteuerrechtliche Verpflichtung zur Aufzeichnung der Betriebseinnahmen gemäß § 22 des Umsatzsteuergesetzes, §§ 63 bis 68 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung zu beachten, da sie auch unmittelbar für das EStG wirkt (vgl. z.B. Bundesfinanzhofs (BFH)-Urteil vom 12. Dezember 2017, VIII R 5/14, BFH/NV 2018, 602, Rz 34, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 8. August 2019, X B 117/18, BFH/NV 2019, 1219 m.w.N.)

18

Darüber, dass der Antragsgegner dem Grunde nach zur Schätzung gemäß § 162 Abs. 1 AO berechtigt war, weil die Buchführung der Antragstellerin erhebliche Mängel aufwies, besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Ebenfalls besteht kein Streit über die Korrektur der Sachentnahmen nach Maßgabe der Pauschalen für Warenentnahmen und über die Aufteilung in regulär und ermäßigt zu besteuernde Umsätze.

19

Die danach allein streitige Höhe der Schätzung erweist sich bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Betrachtungsweise als rechtmäßig, die hiergegen vorgebrachten Einwendungen greifen nicht durch.

20

Der Antragsgegner hat seine Schätzung auf einen externen Betriebsvergleich nach Maßgabe der Werte der amtlichen Richtsatzsammlung gestützt. Die Anwendung der amtlichen Richtsatzsammlung ist eine anerkannte Schätzungsmethode (z.B. BFH-Beschlüsse vom 14. August 2018, VI B 2/18, BFH/NV 2019, 1; vom 8. August 2019, X B 117/18, BFH/NV 2019, 1219 m.w.N.) und wird als solche letztlich auch nicht substantiiert von der Antragstellerin in Frage gestellt. Grundsätzlich ist die Schätzungsmethode zu wählen, welche die größte Gewähr dafür bietet, mit zumutbarem Aufwand das wahrscheinlichste Ergebnis zu erzielen; ein Anspruch auf Anwendung einer bestimmten Schätzungsmethode besteht nicht (z.B. BFH-Beschlüsse vom 27. Januar 2009, X B 28/08, BFH/NV 2009, 717; vom 3. September 1998, XI B 209/95, BFH/NV 1999, 290). Angesichts der gravierenden Mängel der Aufzeichnungen der Antragstellerin, etwa dass Bareinnahmen nicht erfasst wurden, weder ein Kassenbuch noch Z-Bons vorhanden waren, gewichtige Anzeichen für Schwarzeinkäufe aufgefunden wurden und die Privateinlagen die Privatentnahmen deutlich überstiegen, bestehen keine Bedenken dagegen, eine Schätzung auf der Grundlage des externen Betriebsvergleichs anhand der Werte der Richtsatzsammlung vorzunehmen. Unter diesen Umständen drängen sich insbesondere keine anderen Schätzungsmethoden auf.

21

Der Antragsgegner hat bei seiner Schätzung den von der Antragstellerin erklärten Wareneinsatz zugrunde gelegt. Hierauf hat er einen Rohgewinnaufschlag (RGAS) von 257 % vorgenommen, dies entspricht dem Mittelwert der Rohgewinnaufschlagsätze für Gast- und Speisewirtschaften von 186 % bis 400 % für das Streitjahr 2012. Der Ansatz dieses Wertes ist im summarischen Verfahren nicht zu beanstanden, erweist sich vielmehr eher als moderat.

22

Nach den Feststellungen der Außenprüfung und der Steuerfahndung konnte anhand der Auswertung einer größeren Bewirtungsrechnung ein durchschnittlicher tatsächlicher RGAS von 360,80 % ermittelt werden (Ergänzungsbericht vom 15. Mai 2019 Tz. 17.4.); bei Softgetränken ergab sich ein RGAS von 619 %, bei Wein von 716 % und Kaffee und Spirituosen von 1.300 %, d.h. Werte, die erheblich über dem Mittelwert liegen. Demgegenüber beliefen sich die RGAS nach Maßgabe der Steuererklärungen in einem atypisch niedrigen Bereich unterhalb des untersten Wertes der Richtsatzsammlung, der in keiner Weise nachvollziehbar ist.

23

Die von der Antragstellerin geltend gemachten persönlichen Umstände sprechen ebenfalls nicht gegen den Ansatz des Mittelwertes. Unerfahrenheit in der Gastronomie dürfte im Streitjahr, dem vierten Jahr nach Betriebseröffnung, keine maßgebliche Rolle gespielt haben. Urlaubs- und Ferienzeiten der Familie lassen ebenfalls keinen erkennbaren Einfluss auf die der Schätzung zugrunde gelegten Parameter erkennen, weil diese an den Wareneinsatz anknüpfen, der in Urlaubszeiten aber entfällt. Gleiches gilt für die Öffnungszeiten, auch hier ist ein Einfluss auf die "Marge" nicht erkennbar, weil sich der Wareneinsatz an den Absatzmöglichkeiten während der Öffnungszeiten orientieren wird.

24

Der vom Antragsgegner für das Streitjahr ermittelte Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von ... € hält auch einer Plausibilitätskontrolle stand. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin hat der Senat keine Zweifel daran, dass sich dieser Gewinn im Streitjahr wirtschaftlich erzielen ließ. Das Restaurant befindet sich in einer ausgesprochen guten und nachgesuchten Lage für Gastronomiebetriebe an den Landungsbrücken am Hafen. Das sog. Portugiesenviertel wird gleichermaßen von Touristen und Hamburgern aufgesucht und ist zudem von größeren Bürokomplexen, ..., umgeben, von deren Beschäftigten die Gastronomie ebenfalls profitieren kann. Das Restaurant wird in den Medien (...) und auch von den Betriebsprüfen, die sich bei einem Testessen einen eigenen Eindruck verschafft haben, ausgesprochen positiv beurteilt hinsichtlich der dargebotenen Speisen und der Atmosphäre und als gut besucht wahrgenommen.

25

c) Eine Gewährung von Aussetzung der Vollziehung kommt auch nicht wegen einer unbilligen, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte (§ 69 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 FGO) in Betracht. Nachteile, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und nicht oder schwer wiedergutzumachen wären, oder eine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz durch die Vollziehung hat die Antragstellerin nicht dargetan; Anhaltspunkte hierfür sind auch nach Aktenlage nicht erkennbar.

26

Der Antrag kann danach keinen Erfolg haben.

III.

27

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Gründe für die Zulassung der Beschwerde gemäß § 128 Abs. 3 FGO liegen nicht vor.

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