Beschluss vom Finanzgericht Hamburg (1. Senat) - 1 K 175/20

Tatbestand

I.

1

Das Klageverfahren hat den Einkommensteuerbescheid der Kläger für das Jahr 2016 zum Gegenstand.

2

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragte im Rahmen seiner Klagebegründung vom 5. August 2020 Akteneinsicht und bat um eine zweitägige Überlassung der Akten zur Durchsicht in seinen Kanzleiräumlichkeiten. Da er selbst zu den vom Robert-Koch-Institut benannten Risikogruppen gehöre, sei ihm eine Akteneinsicht in den Diensträumen des Finanzgerichts Hamburg nicht möglich. Mit Verfügung vom 21. September 2020 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger die begehrte Akteneinsicht gewährt, jedoch unter der Maßgabe, dass diese in "Diensträumen" im Sinne des § 78 Abs. 3 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO), etwa der Geschäftsstelle des Finanzgerichts Hamburg, zu erfolgen habe.

3

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger erschien sodann am 25. November 2020, nach vorheriger Terminabsprache, zur Akteneinsicht im Finanzgericht Hamburg. Nachdem er es, trotz mehrfacher Ermahnung durch Mitarbeiter der Geschäftsstelle, nicht unterließ, einzelne Blätter aus der Akte auszuheften, offenbar um diese mit dem Handy vollständig fotografieren zu können, wurde die Akteneinsicht abgebrochen und der Prozessbevollmächtigte aus den Räumlichkeiten des Finanzgerichts Hamburg verwiesen.

4

In der Folge erneuerte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mehrfach seinen Akteneinsichtsantrag, wobei diesen Anträgen jeweils unter der Maßgabe stattgegeben wurde, dass die Akteneinsicht in "Diensträumen" zu erfolgen habe. Mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2020 verlangten die Kläger sodann die Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf. Mit Schriftsatz vom 22. März 2021 beantragten die Kläger für den Fall der erneuten Ablehnung der Übersendung der Originalfinanzamtsakten bzw. einer vollständigen Kopie an die Kanzleiadresse ihres Prozessbevollmächtigten, über die Akteneinsicht im Beschlusswege zu entscheiden.

5

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten vollumfänglich auf die Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten der Kläger verwiesen.

Entscheidungsgründe

II.

6

Dem Akteneinsichtsgesuch kann nur im tenorierten Umfang entsprochen werden. Soweit der Antrag auf Übersendung der vollständigen Akten im Original oder in Kopie in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger gerichtet ist bzw. auf die Bereitstellung des Inhalts sämtlicher Akten auf Abruf, wird der Antrag als unbegründet abgelehnt.

1.

7

Der Senat ist für die Entscheidung über Akteneinsicht funktional zuständig.

8

Wenn auch die funktionale Zuständigkeit für die Entscheidung über Akteneinsicht nach § 78 Abs. 1 FGO und damit auch für die damit eng zusammenhängende Erteilung von Ausfertigungen etc. nach § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO (außerhalb der elektronischen Zugriffsrechte nach § 78 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 FGO) nicht abschließend geklärt sein dürfte (vgl. die Ausführungen von Stalbold in Gosch, AO/FGO, Stand: 1. März 2018, § 78 Rz. 56 m.w.N.), steht zumindest fest, dass jedenfalls auch der Senat zuständig für die Ablehnung derartiger Anträge ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 1974, VII B 88/74, BFHE 114, 173, BStBl II 1975, 235; vom 20. Oktober 2005, VII B 207/05, BFHE 211, 15, BStBl II 2006, 41; vom 5. Mai 2017, X B 36/17, BFH/NV 2017, 1183).

2.

9

Nach § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017, BGBl I 2017, 2208) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Gemäß § 78 Abs. 3 FGO wird, wenn die Prozessakten - wie vorliegend - in Papierform geführt werden, die Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (Satz 1). Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden (Satz 2).

a.

10

Diensträume in diesem Sinne sind nicht nur die Diensträume des Gerichts, sondern Räumlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd dem öffentlichen Dienst zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein Träger öffentlicher Gewalt das Hausrecht ausübt. Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten sind hingegen keine Diensträume i. S. des § 78 Abs. 3 FGO (BFH, Beschlüsse vom 13. Juni 2020, VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268; vom 4. Juli 2019, VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235).

b.

11

Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme nach wie vor möglich. Sie ist allerdings nicht der Regelfall, sondern bleibt auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt (BFH, Beschlüsse vom 13. Juni 2020, VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268; vom 28. November 2019, X B 132/19, BFH/NV 2020, 377). Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung. Dabei sind die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, d. h. das dienstliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang einerseits (beispielsweise Gefahr von Aktenverlusten bzw. -beschädigungen oder gar -manipulationen, Schutz von potenziellen Beweismitteln [Steuererklärungen mit Originalbelegen], jederzeitige Verfügbarkeit der Akten sowie Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten) mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten im Falle der Gewährung der Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen andererseits (BFH, Beschluss vom 13. Juni 2020, VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268). Im Rahmen dieses Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen einer Akteneinsicht in und außerhalb von Diensträumen zu beachten. Hieraus folgt, dass Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit den ungünstigeren Rahmenbedingungen für eine ungestörte Akteneinsicht in Diensträumen verbunden sein können (z.B. räumliche Enge, Fahrt- und Zeitaufwand), keine Ausnahme von der Regel des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO nach sich ziehen können (BFH, Beschlüsse vom 13. Juni 2020, VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268; vom 4. Juli 2019, VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235).

12

Nach Maßgabe dieser Grundsätze kommt die Gewährung der Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten der Kläger vorliegend nicht in Betracht. Dabei hat der Senat unter Berücksichtigung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von § 78 Abs. 3 FGO sämtliche Umstände des Einzelfalls, welche für und gegen eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumlichkeiten des Prozessbevollmächtigten sprechen, im Rahmen einer Gesamtbetrachtung miteinander abgewogen. Das Ergebnis dieser Abwägung ließ - mangels hinreichender, eine ausnahmsweise Aktenübersendung an den Prozessbevollmächtigten rechtfertigender Umstände - keine Ermessensausübung im Form der beantragten Akteneinsicht zu.

aa.

13

Im Rahmen dieser Abwägung hat der Senat unter anderem berücksichtigt, dass die Akten, in die Einsicht genommen werden soll, vorliegend nicht außergewöhnlich umfangreich oder unübersichtlich sind. Vielmehr hat die Gerichtsakte lediglich einen Umfang von 85 Blatt, die dem Gericht vorliegende Einkommensteuerakte Bd. III einen Umfang von 158 Blatt und die Rechtsbehelfsakte einen Umfang von 155 Blatt. Dabei dürften die dem Prozessbevollmächtigten der Kläger bislang unbekannten Aktenbestandteile nur einen geringen Anteil der dem Gericht vorliegenden Akten ausmachen, da die Gerichtsakte und die Rechtsbehelfsakte jeweils vornehmlich aus seiner Korrespondenz mit der Beklagten bzw. dem Gericht besteht. In Anbetracht dieser Umstände, ist es dem Prozessbevollmächtigten der Kläger ohne weiteres möglich, sich innerhalb eines angemessenen Zeitraums über den Akteninhalt in den Diensträumen des Finanzgerichts Hamburg - oder anderen Diensträumen - zu informieren.

bb.

14

Ferner hat der Senat im Rahmen seiner Ermessensausübung insbesondere berücksichtigt, dass die Kanzleiräumlichkeiten des Prozessbevollmächtigten laut dem Routenplaner Google Maps lediglich rund 4 km entfernt sind und sich damit in unmittelbarer Umgebung des Finanzgerichts Hamburg befinden, sodass eine Akteneinsicht in den Räumlichkeiten des Finanzgerichts Hamburg auch keine unzumutbare Wegstrecke nach sich zieht.

cc.

15

Auch hat der Senat in seine Gesamtabwägung miteinbezogen, dass der Prozessbevollmächtigte im Rahmen der Akteneinsicht vom 25. November 2020 Aktenbestandteile aus der Akte herausgelöst hat und dieses Verhalten trotz mehrfacher Hinweise bis zu seinem Verweis aus dem Gebäude nicht abgestellt hat. Es besteht daher die begründete Vermutung, dass der Prozessbevollmächtigte bei Überlassung der Akte ohne jegliche Kontrollmöglichkeiten erneut einzelne Bestandteile der Akte ausheften wird und damit die Gefahr des Verlustes oder der Beschädigung einzelner Aktenbestandteile nicht ausgeschlossen werden kann.

dd.

16

Vorliegend besteht auch nicht aufgrund der aktuellen Pandemielage und den in Hamburg aktuell stetig absinkenden Infektionszahlen ein Ausnahmefall, der zwingend eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten gebietet. Dabei hat der Senat auch die besondere Gefährdungssituation des Prozessbevollmächtigten in seine Gesamtabwägung miteinbezogen. Das Finanzgericht hat ausreichend Vorkehrungen getroffen, um eine Akteneinsicht auch unter den aktuellen Vorzeichen der Corona-Pandemie sicher in den Diensträumen durchführen zu können. Es verfügt über einen separaten, vom Gerichtsflur aus zugänglichen Akteneinsichtsraum, in dem - nach vorheriger telefonischer Terminabsprache - die Akteneinsicht genommen wird. Um die Kontakte während der Akteneinsicht so weit wie möglich zu reduzieren, wird den Beteiligten bzw. Prozessbevollmächtigten vorab ein Auskunftsbogen zugesandt und von diesen ausgefüllt an die Geschäftsstelle zurückgesandt. Hierdurch wird sichergestellt, dass die Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts ohne vorheriges Betreten der Geschäftsstelle erfolgen kann. Der Raum wird lediglich für höchstens eine Akteneinsicht am Tag vergeben und regelmäßig gelüftet, so dass ein hinreichender Luftaustausch sichergestellt wird.

17

Etwas Anderes folgt im Übrigen auch nicht aus der vom Prozessbevollmächtigten der Kläger zitierten Entscheidung des FG Hamburg vom 1. Februar 2021 (4 K 136/20, EFG 2021, 386-389), da dieser ein in wesentlichen, entscheidungserheblichen Aspekten anderer Sachverhalt zugrunde lag. Nach der von den Klägern zitierten Entscheidung ist ein Akteneinsichtsrecht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten dann ausnahmsweise anzunehmen, wenn aufgrund der Corona-Pandemie und den nach § 3 Abs. 1 der sog. Eindämmungsverordnung (Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 21.01.2021, HmbGVBl. S. 25) vorgesehenen Kontaktreduzierungen eine Akteneinsicht in den Diensträumen des Finanzgerichts nicht gestattet werden kann. Aufgrund der gegenüber dem Entscheidungszeitpunkt der zitierten Rechtsprechung erheblich verbesserten Infektionslage ist jedoch seit dem 8. März 2021 eine Akteneinsicht in den Diensträumen des Finanzgerichts Hamburg wieder möglich. Auch betraf die zitierte Entscheidung - anders als vorliegend - die Zollverwaltung und nicht die Finanzverwaltung. In der Zollverwaltung werden jedoch von allen an das Gericht übersandten Sachakten Kopien angefertigt, um einen effektiven Schutz vor dem Verlust oder der Manipulation der Sachakten zu erreichen (vgl. Schoenfeld, EFG 2021, 386). Die Akten der Finanzverwaltung liegen dem Gericht jedoch vorliegend, wie üblich, nur im Original vor, sodass der Gefahr der Beschädigung bzw. des Verlusts von Akten nicht über das Vorhandensein von Kopien begegnet werden kann.

3.

18

Soweit die Kläger rügen, eine ungestörte Akteneinsicht sei wegen der Anwesenheit von Mitarbeitern der Geschäftsstelle während der Durchsicht der Akten nicht möglich, weist der Senat darauf hin, dass ein Prozessbevollmächtigter keinen Anspruch darauf hat, dass eine Akteneinsicht in Diensträumen ohne Beisein von dortigen Bediensteten stattfindet. Die hierdurch entstehenden Unannehmlichkeiten führen nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Akteneinsicht (BFH, Beschluss vom 28. November 2019, X B 132/19, BFH/NV 2020, 377-380, zitiert nach juris Rz. 25).

4.

19

Die Kläger haben auch keinen Rechtsanspruch auf Anfertigung und Überlassung vollständiger Kopien, d. h. einer "Zweitakte". Ein Beteiligter kann jedenfalls nicht ohne jede Konkretisierung und vorherige Prüfung auf Erheblichkeit der Aktenbestandteile für die Rechtsverfolgung sowie darauf, inwieweit die darin enthaltenen Schriftsätze, Bescheide etc. ihm bereits vorliegen, gleichsam "ins Blaue" oder "auf Verdacht" die Ablichtung einer gesamten, umfänglichen Akte verlangen. Ein Beteiligter hat nämlich grundsätzlich keinen Anspruch auf Überlassung von Fotokopien der gesamten Gerichtsakte, sondern allenfalls dann, wenn er ausnahmsweise substantiiert und nachvollziehbar darlegen kann, weshalb die Überlassung im konkreten Einzelfall erforderlich ist, um die Prozessführung zu erleichtern (BFH, Beschluss vom 12. Februar 2018, X B 8/18, BFH/NV 2018, 635; FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Dezember 2019, 2 K 770/17, ZD 2020, 662).

20

Nach diesen Maßstäben scheidet ein solcher Anspruch vorliegend bereits deswegen aus, da die Kläger nicht substantiiert und nachvollziehbar dargelegt haben, warum im konkreten Einzelfall eine solche Überlassung die Prozessführung erleichtern würde.

5.

21

Ein Anspruch auf Aktenübersendung in die Kanzleiräume ergibt sich schließlich auch nicht aus § 78 Abs. 3 Satz 2 FGO. Nach dieser Norm kann Akteneinsicht, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden. Dies würde jedoch, wenn - wie im Streitfall - die Behördenakten in Papierform geführt werden, die Herstellung einer elektronischen Fassung der Papierakten und die Ermöglichung eines elektronischen Zugriffs auf diese Akten voraussetzen. Insofern ist die Regelung nicht dahin zu verstehen, dass die Finanzgerichte eine Pflicht trifft, Behördenakten zu digitalisieren (BFH, Beschluss vom 6. September 2019, III B 38/19, BFH/NV 2020, 91).

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