Urteil vom Finanzgericht Münster - 8 K 7/20 Kg
Tenor
Der Bescheid vom 19.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.10.2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
1
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für ein Kind, das im Streitzeitraum nur in den Ferienzeiten in der Wohnung des Klägers und ansonsten mit seiner Mutter in der Türkei lebte und dort die Schule besuchte.
3Der Kläger ist Vater der Kinder F. (geboren am ...03.204), T1. (geboren am ...07.2007), P1. (geboren am ...09.2008) und T2. (geboren am ...09.2011) P. Der Kläger stammt gebürtig aus Y. in der Türkei. Seine Eltern sind bereits verstorben; seine Geschwister leben – wie er – in X. Der Kläger ist in X. Inhaber eines Betriebs. Die Kindesmutter ist bulgarische Staatsangehörige und war dort Teil der türkischstämmigen Minderheit. Ihre Eltern leben in Bulgarien. Die Kinder lebten seit ihrer Geburt mit ihren Eltern in X.
4Im September 2014 entschieden der Kläger und die Kindesmutter, dass die Kinder in Y. die Grundschule besuchen sollten. Die Kinder sollten zweisprachig aufwachsen und auch die türkische Sprache lernen. Der Kläger mietete in Y. eine Wohnung für die Kindesmutter und die Kinder. Der Kläger und die Kindesmutter hatten auch die Unterbringung in einem Internat in Erwägung gezogen; die Kinder waren dafür aber zu jung. Die Familienwohnung in X. kündigte der Kläger und zog innerhalb X.s in eine kleinere und günstigere Wohnung um. In der Wohnung waren für Aufenthalte der Kinder Etagenbetten aufgestellt. Das Ehebett stand in einem auch als Büro genutzten Zimmer.
5In den folgenden Sommerferien kehrten die Kindesmutter und die Kinder nach X. zurück. Im Sommer 2015 holte der Kläger die Kindesmutter und die Kinder mit dem Auto zu Beginn der Sommerferien ab und brachte sie gegen Ende der Sommerferien wieder zurück. In den Folgejahren erfolgte die Hin- und Rückreise mit dem Flugzeug: Die Kindesmutter und die Kinder flogen im Jahr 2016 am 09.06. nach Deutschland und am 09.09 in die Türkei, im Jahr 2017 am 13.06. nach Deutschland und am 01.09. in die Türkei und im Jahr 2018 am 11.06. nach Deutschland und am 19.08. in die Türkei.
6Im Jahr 2017 kündigte der Kläger diese Wohnung und mietete ab Oktober eine andere Wohnung mit mehr Zimmern in X. an.
7Aus den Auszügen aus dem Melderegister der Stadt X., die sich in den Kindergeldakten befinden, ergeben sich folgende Daten:
8[...]
9Im Rahmen eines Datenabgleichs mit der Meldebehörde stellte die Beklagte fest, dass die Kinder F., T1., P1. und T2. im Zeitraum September 2014 bis September 2015 nicht behördlich gemeldet waren, F. seit Februar 2017 nach unbekannt abgemeldet wurde und T1., T2. und P1. von März bis August 2017 nicht unter der Adresse des Klägers gemeldet waren.
10Mit Schreiben vom 10.10.2017 und vom 06.02.2018 forderte die Beklagte den Kläger zur Stellungnahme auf. Nachdem dieser nicht reagierte, hob sie mit Bescheid vom 19.04.2018 die Kindergeldfestsetzung für das Kind F. für den Zeitraum Oktober 2014 bis Juni 2015 und von März 2017 bis September 2017 auf und forderte die Erstattung der überzahlten Beträge. Der Bescheid wurde damit begründet, dass das Kind nicht im Haushalt des Klägers gelebt hätte. Für die anderen Kinder erging am Tag darauf ebenfalls ein Aufhebungsbescheid.
11Mit Schreiben vom 08.05.2018 teilte die Straf- und Bußgeldstelle der Beklagten dem Kläger mit, es werde ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet; das Schreiben nahm auf die Bescheide vom 19. und 20.04.2018 Bezug. Mit Schreiben vom 24.05.2018 teilte der Kläger mit, er habe das Schreiben vom 08.05.2018, nicht aber die Bescheide vom 19. und 20.04.2018 erhalten.
12Die Bescheide wurden mit Schreiben vom 01.06.2018 erneut übersandt, nachdem vorsorglich eingelegte Einsprüche als unzulässig zurückgewiesen worden waren, weil die Bescheide nicht bekannt gegeben worden seien. Der Kläger legte am 11.06.2018 erneut Einspruch gegen den Bescheid vom 19.04.2018 ein. Der Einspruch wurde nicht begründet, nachdem ein Antrag auf Akteneinsicht abgelehnt worden war. Mit Einspruchsentscheidung vom 09.10.2018 wurde der Einspruch mangels Begründung als unbegründet zurückgewiesen.
13Im Rahmen des Verfahrens des Klägers hinsichtlich der Kinder T1., P1. und T2. fiel den Beteiligten aufgrund eines richterlichen Hinweises auf, dass keine Klage wegen des Kindes F. anhängig war. Der Kläger teilte mit, wegen des Kindes F. keine Einspruchsentscheidung erhalten zu haben. Die Einspruchsentscheidung wurde mit Schreiben vom 04.12.2019 erneut bekanntgegeben, wobei die Beklagte darauf hinwies, dass nach Aktenlage die Einspruchsentscheidung vom 09.10.2018 bekannt gegeben worden sei, da kein Postrücklauf vorliege.
14Mit der am 02.01.2020 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und beruft sich zu Begründung auf den Vortrag im Verfahren 8 K 3457/18 Kg. In jenem Verfahren trägt der Kläger vor:
15Die Abmeldung der Kindesmutter und der Kinder aus der Wohnung „B-Straße 02“ sei wohl von Amts wegen erfolgt. Dies sei im Sommer 2017 bei einer Ausweisbeantragung aufgefallen. Die (Neu‑)Anmeldung im August sei nicht unter der Adresse des Klägers erfolgt, weil er, der Kläger, zum Zeitpunkt der Ausweisverlängerung seine alte Wohnung schon gekündigt habe (weshalb der Vermieter keine Bescheinigung habe ausstellen wollen), die neue Wohnung aber noch nicht bezogen habe. Die Adresse in der C-Straße sei die Adresse eines Moscheevereins. Der Moscheeverein verfüge über einige Zimmer zur Anmietung. Tatsächlich hätten die Kindesmutter und die Kinder nach Oktober 2014 in seiner, des Klägers, Wohnung gewohnt, und zwar sowohl vor als auch nach dem Umzug im Jahr 2017. Die Kindesmutter und die drei Kinder hätten sich in der Zeit ab Oktober 2014 in den schulfreien Sommermonaten in Deutschland aufgehalten. Im Jahr 2015 habe der Aufenthalt von Ende Mai/Anfang Juni bis Ende August/Anfang September gedauert; die genauen Daten seien nicht mehr bekannt, weil er, der Kläger, seine Familie mit dem Auto aus der Türkei abgeholt und zurückgebracht habe.
16Die Kinder hätten in beiden Wohnungen ein Kinderzimmer gehabt; ihre persönlichen Sachen wie Kleidung und Spielzeuge hätten sich in den Wohnungen befunden. Auch das gesamte soziale Umfeld und ihre Freunde (Cousins und Cousinen, Freunde aus dem Moscheeverein) seien in X. gewesen.
17Der Umzug im Oktober 2017 sei erfolgt, damit er zwei Schlafzimmer für die Kinder gehabt habe. Jetzt könnten seine beiden Mädchen und seine beiden Jungen in getrennten Zimmern schlafen.
18Anlass für den Umzug in die Türkei seien mehrere Vorkommnisse in der Schule seines ältesten Sohnes gewesen. Dies seien u. a. die Zusammensetzung der Klassengemeinschaft und Prügeleien auf dem Schulhof sowie ein Elternsprechtag gewesen. Er hätte das Gefühl gehabt, dass seine Kinder auf der Schule eher rumänisch als deutsch lernten. Deshalb sollten sie wenigstens ihre Muttersprache korrekt lernen.
19Der Kläger trägt in jenem Verfahren weiter vor, er habe einem Sachbearbeiter der Beklagten kurz vor dem Umzug der Kinder in die Türkei diesen Umzug mündlich an Amtsstelle mitgeteilt. Der Sachbearbeiter habe ihm mitgeteilt, er sei deutscher Staatsangehöriger und habe damit einen Rechtsanspruch auf Zahlung des Kindergelds, auch wenn die Kinder in einem Land außerhalb der EU die Schule besuchen würden.
20Der Kläger beantragt,
21den Bescheid vom 19.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.10.2018 aufzuheben.
22Die Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Sie beruft sich ebenfalls auf ihre Ausführungen im Verfahren 8 K 3457/18 Kg. In jenem Verfahren trägt die Beklagte vor:
25In sog. Schulausbildungs-Fällen minderjähriger Kinder genügten Ferien-Aufenthalte von drei Monaten pro Jahr nicht, um eine Beibehaltung des inländischen Wohnsitzes rechtfertigen zu können.
26Auf Nachfrage des Gerichts hat die Beklagte in jenem Verfahren mitgeteilt: Hinweise auf mündliche Vorsprachen im Jahr 2014 seien nicht aktenkundig. Bei einer telefonischen Rücksprache mit dem ehemaligen Teamleiter Kindergeld in ... habe dieser mitgeteilt, es seien nur noch die Dienstpläne für den Kundenschalter in den Jahren 2018 und 2019 aufbewahrt. Er habe mitgeteilt, im Jahr 2014 habe es ein rollierendes System der Besetzung des Kundenschalters gegeben.
27Im Verfahren 8 K 3457/18 Kg hatte vor Klageerhebung ein Erörterungstermin stattgefunden, in dem die Beteiligten vereinbart hatten, auch im Verfahren hinsichtlich des Kindes F. auf mündliche Verhandlung zu verzichten. Nach Klageerhebung haben die Beteiligten diesen Verzicht schriftlich erklärt.
28Entscheidungsgründe
29Die Klage, über die der Einzelrichter mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO), ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.
30Der Klage steht nicht der Ablauf der Klagefrist entgegen. Die Einspruchsentscheidung ist dem Kläger erst durch das Schreiben vom 04.12.2019 bekannt gegeben worden. Das Gericht konnte nicht feststellen, dass die Einspruchsentscheidung vom 09.10.2018 dem Kläger schon beim erstmaligen Versand zugegangen ist. Bestreitet ein Steuerpflichtiger, einen Verwaltungsakt überhaupt bekommen zu haben, obliegt der Behörde der volle Beweis über den Zugang. Ein Anscheinsbeweis greift nicht; der Zugang muss mittels allgemeiner Beweisregeln, insbesondere durch einen Indizienbeweis, nachgewiesen werden (Bundesfinanzhof – BFH –, Urteil vom 29.04.2009, X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777 m.w.N.).
31Ein solcher Beweis ist im Streit nicht geführt worden. Die Beklagte führt lediglich aus, dass in der Akte kein Postrücklauf festgehalten sei. Es ist aber offensichtlich, dass nicht in jedem Fall, in dem ein Brief nicht zugestellt wird, ein Postrücklauf erfolgt. Insbesondere ist auch kein Anlass ersichtlich, warum ein Postrücklauf hätte erfolgen sollen. Die Einspruchsentscheidung wegen der Kinder T1., P1. und T2. vom gleichen Tag ist an die gleiche Adresse der Bevollmächtigten versandt worden und dort angekommen. Ein Adresswechsel hat nicht stattgefunden. Indizien, die das Bestreiten des Zugangs als nicht glaubhaft erscheinen lassen, gibt es nicht. Das Gericht verkennt nicht, dass auch der Zugang der ursprünglichen Bescheide bestritten (und von der Beklagten anerkannt) wurde. Dies ist aber schon deshalb nicht von Belang, weil die Einspruchsentscheidung nicht (wie die Aufhebungsbescheide) an den Kläger, sondern an dessen Bevollmächtigte versandt wurde. Insofern ist der Zusammenhang zwischen den beiden Verwaltungsakten, deren Zugang bestritten wird, unterbrochen.
32Weitere Zweifel an der Zulässigkeit der Klage bestehen nicht.
33Der Kläger hat für den Streitzeitraum (Oktober 2014 bis Juni 2015 sowie März bis September 2017) einen Anspruch auf Kindergeld für das Kind F.
34Wie zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist, ist der Kläger anspruchsberechtigt im Sinne des § 62 Einkommensteuergesetz (EStG), weil er im Inland seinen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG). Die Identifikation durch eine Steueridentifikationsnummer ist nicht Voraussetzung der Anspruchsberechtigung, weil die gesetzliche Regelung in § 62 Abs. 1 Satz 2 nur für Kindergeldfestsetzungen nach dem 31.12.2015 oder für Kindergeldfestsetzungen auf Anträge, die nach dem 31. 12.2015 gestellt werden, gilt (§ 52 Abs. 49a Sätze 4 und 5 EStG).
35Das Kind F. ist berücksichtigungsfähig im Sinne des § 63 EStG.
36Das Kind ist ein leibliches Kind des Klägers, §§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Der Berücksichtigung steht auch nicht entgegen, dass das Kind keinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 a.F., Satz 6 n.F. EStG). Denn das Kind hat seinen Wohnsitz im Inland auch nach Aufnahme des Schulbesuchs in der Türkei beibehalten.
37Die Frage, ob Kinder, die im Ausland die Schule besuchen, ihren Inlandswohnsitz beibehalten, ist nach folgenden Grundsätzen zu beurteilen:
38Bei Kindern, die zum Zwecke der Schul-, Hochschul- oder Berufsausbildung auswärtig untergebracht sind, reicht es für einen Inlandswohnsitz nicht aus, wenn die elterliche Wohnung dem Kind weiterhin zur Verfügung steht (BFH, Urteil vom 25.09.2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655). Bei Schulbesuchen im Ausland, die voraussichtlich länger als ein Jahr andauern werden (zu Fällen voraussichtlicher Rückkehr innerhalb eines Jahres vgl. BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655; BFH, Urteil vom 23.06.2015, III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102), ist vielmehr anhand einer Mehrzahl von Anhaltspunkten zu entscheiden, ob der inländische Wohnsitz aufrechterhalten oder aufgegeben wurde. Unter diesen Anhaltspunkten kommt nach ständiger Rechtsprechung des BFH der Dauer und Häufigkeit der Inlandsaufenthalte erhebliche Bedeutung zu. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Urlaubszwecken, Besuchszwecken oder familiären Zwecken, die nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleichkommen, reicht nicht aus, um die Beibehaltung eines inländischen Wohnsitzes anzunehmen (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655 m.w.N.). Jedenfalls im Fall von Schul- oder sonstigen Ausbildungsaufenthalten erwachsener Kinder kommt es darauf an, ob die ausbildungsfreien Zeiten zumindest überwiegend im Inland verbracht werden (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655 m.w.N.; einschränkend im Fall von minderjährigen Kindern Hessisches FG, Urteil vom 16.08.2017, 2 K 775/16, juris; FG Hamburg, Urteil vom 05.07.2019, 6 K 215/18, juris). Dabei können außerhalb des kindergeldrechtlichen Streitzeitraums liegende tatsächliche Umstände berücksichtigt werden, da es sonst – trotz vergleichbarer Sachverhaltskonstellationen – von den verfahrensmäßigen Zufälligkeiten abhinge, ob die Beibehaltung eines Wohnsitzes zu bejahen oder zu verneinen wäre (BFH, Urteil vom 23.06.2015, III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102). Daneben sind die voraussichtliche Dauer der auswärtigen Unterbringung, die Art der Unterbringung am Ausbildungsort auf der einen und im Elternhaus auf der anderen Seite, der Zweck des Auslandsaufenthalts, die persönlichen Beziehungen des Kindes am Wohnort der Eltern einerseits und am Ausbildungsort andererseits zu berücksichtigten (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655, m.w.N.).
39Folgende Gesichtspunkte sind für die Beurteilung regelmäßig nicht maßgeblich:
40– die persönlichen oder finanziellen Beweggründe für fehlende oder nur kurze Inlandsaufenthalte (BFH, Urteil vom 23.06.2015, III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102; BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655;
41– die Herkunft des Klägers und (indirekt) der Kinder (BFH, Urteil vom 23.06.2015, III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102) und die Staatsangehörigkeit der Familienmitglieder (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655);
42– die Rückkehrabsicht (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655 m.w.N.), sofern nicht, wie oben dargelegt, von vorneherein kein Aufenthalt von mehr als einem Jahr geplant war;
43– Aufenthalte der Eltern mit den Kindern außerhalb von Deutschland (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655);
44– melderechtliche Umstände (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655);
45– die Größe der zur Verfügung stehenden Wohnung im Inland, wenn diese nur für Besuchsaufenthalte genutzt wird (BFH, Beschl. vom 05.02.2004, VIII B 271/03, juris);
46– die Verkleinerung der Wohnverhältnisse nach dem Umzug von Familienmitgliedern in das Ausland, um Mietkosten zu sparen (Finanzgericht – FG – Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.07.2018, 3 K 3220/17, juris; BFH, Urteil vom 25.07.2019, III R 46/18, BFH/NV 2020, 208 m.w.N.).
47Mit Blick auf den Sonderfall, dass sich ein Elternteil mit im Ausland aufhält, hat der BFH entschieden, dass auch in diesen Fällen eine Gesamtbetrachtung erforderlich ist, weil Kinder weder automatisch sämtliche Wohnsitze ihrer Eltern teilen noch ein Erfahrungssatz dahingehend besteht, dass ein Kind, das mit einem Elternteil im Ausland wohnt und dort zur Schule geht, immer nur diesen einen Wohnsitz hat und keinen weiteren Wohnsitz der Eltern teilt (BFH, Urteil vom 25.07.2019, III R 46/18, BFH/NV 2020, 208 m.w.N.). Allerdings kann der Mit-Aufenthalt eines Elternteils gerade dazu führen, dass sich das Kinder (anders als bei der Unterbringung bei Verwandten) nicht längerfristig in die dortigen Lebensverhältnisse einlebt, sondern die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kind für die Dauer der Ausbildung durchgängig erhalten bleibt (BFH, Urteil vom 25.07.2019, III R 46/18, BFH/NV 2020, 208).
48Bei einer Würdigung der Gesamtumstände ist das Gericht der Überzeugung, dass der inländische Wohnsitz der Kinder (und auch der Kindesmutter) beibehalten wurde.
49Die Dauer und Häufigkeit der Inlandsaufenthalte sind weder von vornherein zu gering, um eine Beibehaltung zu begründen, noch genügen sie für sich genommen, um auf die Beibehaltung des Wohnsitzes schließen zu lassen. Sie liegen im Jahr 2016 bei ca. drei Monaten, im Jahr 2017 bei ca. zwei Monaten und drei Wochen und im Jahr 2018 bei ca. zwei Monaten und einer Woche. Das Gericht – das, wie die Beklagte, keine Anhaltspunkte dafür sieht, den Vortrag des Klägers, er habe seine Familie im Jahr 2015 in den Sommerferien mit dem Auto aus der Türkei abgeholt und zu Schulanfang mit dem Auto zurückgebracht, dem Grunde nach anzuzweifeln – geht davon aus, dass die Familie im Jahr 2015 mindestens zwei Monate in X. war. Dabei berücksichtigt es die fehlende Angabe der genauen Daten der Fahrten, indem es die kürzeste Aufenthaltsdauer in den Folgejahren heranzieht und um eine Woche kürzt.
50Mit Blick auf den Umfang dieser Aufenthalte ist zwar der BFH im von der Beklagten angeführten Urteil vom 23.11.2000 (VI R 165/99, BStBI II 2001, 279) bei einem bei den Großeltern untergebrachten Kind, das sich weniger als drei Monate pro Jahr bei den Eltern aufhält, vom bloßen Besuchscharakter dieser Aufenthalte ausgegangen. Auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des BFH zu erwachsenen Kindern, bei den ein überwiegender Aufenthalt während der unterrichtsfreien Zeiten für ausreichend erachtet wird (BFH, Urteil vom 25.09. 2014, III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655 m.w.N.; BFH, Urteil vom 23.06.2015, III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102), haben mehrere Finanzgerichte dreimonatige Ferienaufenthalte von minderjährigen Kindern, die ansonsten bei den Großeltern untergebracht sind, nicht als hinreichend für die Beibehaltung des Inlandswohnsitzes angesehen (Hessisches FG, Urteil vom 16.08.2017, 2 K 775/16, juris; FG Hamburg, Urteil vom 05.07.2019, 6 K 215/18, juris). Der Streitfall ist jedoch schon wegen des Mit-Aufenthalts der Kindesmutter nicht vergleichbar mit Fällen der Unterbringung bei Verwandten (zur Differenzierung nach Fallgruppen ausführlich BFH, Urteil vom 23.11.2000, VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294), zumal im vorliegenden Fall gerade nicht festgestellt werden konnte, dass sich die Kinder für einen Zeitraum von neun Jahren im Ausland aufhalten sollen. Hinzu kommt, dass ein bloßer Besuchscharakter (jedenfalls auch) anhand anderer Indizien als der Aufenthaltsdauer festgestellt werden muss.
51Umgekehrt genügen die Aufenthalte nicht schon für sich genommen, um von einer Beibehaltung des Inlandswohnsitzes auszugehen. Denn der Aufenthalt von zwei bis drei Monaten pro Jahr lässt nicht für sich genommen den Schluss zu, dass diesen Aufenthalten Wohncharakter zukommt. Vielmehr kommt nach Auffassung des Gerichts bei der „grenzwertigen“ streitgegenständlichen Dauer und Häufigkeit der Aufenthalte den weiteren Anhaltspunkten eine größere Bedeutung zu.
52Gegen die Beibehaltung des Wohnsitzes sprechen insbesondere die Dauer des Auslandsaufenthalts (im Entscheidungszeitpunkt bereits mehr als fünf Jahre) sowie der Zweck des Aufenthalts, die türkische Sprache zu lernen, weil dies für eine Lösung von der Verwurzelung im Inland spricht. Dem Umstand, dass der Kläger nach dem Umzug der Kinder und Kindesmutter in die Türkei eine kleinere Wohnung angemietet hat, misst das Gericht keine erhebliche Bedeutung bei (vgl. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.07.2018, 3 K 3220/17, und nachfolgend BFH, Urteil vom 25.07.2019, III R 46/18, BFH/NV 2020, 208). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger umgekehrt angegeben hat, wegen des Alters seiner Kinder ab Oktober 2017 wieder eine größere Wohnung mit getrennten Schlafzimmer für seine beiden Jungen und seine beiden Mädchen angemietet zu haben.
53Für die Beibehaltung des Wohnsitzes spricht, dass sich die Verwandtschaftsbeziehungen der Familie, die für die zu Beginn des Streitzeitraums zwischen (gerade) drei und zehn Jahre alten Kinder des Klägers regelmäßig noch eine größere Bedeutung haben als für ältere Kinder, nach dem glaubhaften und unwidersprochenen Vortrag des Klägers vor allem in X. abspielen. Auch hat der Kläger glaubhaft und plausibel geschildert, dass die Kinder zahlreiche weitere Kontakte pflegen und etwa mitgeteilt, dass er für diese Zwecke ein Auto für die Kindesmutter bereithalte.
54Maßgebliche Bedeutung misst das Gericht im Rahmen seiner Gesamtwürdigung dem Umstand bei, dass die Kindesmutter die Kinder in die Türkei begleitet hat. Diesen Umstand, der auch im erst nach dem Erörterungstermin im Verfahren 8 K 3457/18 Kg veröffentlichten Urteil des BFH vom 16.07.2019 (III R 46/18, BFH/NV 2020, 208) gewürdigt wird, hatte der Einzelrichter im Erörterungstermin vorläufig tendenziell dahingehend gewürdigt, dass dadurch die Beziehungen zum Inland gelockert würden. Unter Aufgabe dieser Auffassung ist das Gericht nach abschließender Würdigung nunmehr der Ansicht, dass die familiäre Gemeinschaft trotz des Schulbesuchs der Kinder in der Türkei aufrechterhalten wurde. Das Gericht geht davon aus, dass bei nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten vermutet werden kann, dass diese einen gemeinsamen Familienwohnsitz haben (vgl. zum Wohnsitz von Ehegatten FG Hamburg, Urteil vom 12.04.2018, 1 K 202/16, EFG 2018, 1079 m.w.N.). Da der Kläger das Familieneinkommen im Rahmen einer selbständigen Tätigkeit erwirtschaftet und schon aus diesem Grund nicht regelmäßig für längere Zeit in der Türkei sein kann, kommt nur die Inlandswohnung als Familienwohnsitz in Betracht. Zugleich teilen minderjährige Kinder grundsätzlich den Wohnsitz ihrer Eltern, auch wenn sie nicht gleichsam automatisch sämtliche Wohnsitze ihrer Eltern teilen, wenn diese über mehrere Wohnsitze verfügen (BFH, Urteil vom 07.04.2011, III R 77/09, BFH/NV 2011, 1777). Im Streitfall haben die Kinder auch am Familienwohnsitz einen Wohnsitz. Denn anders als im Fall des Auslandsschulbesuchs mit Unterbringung bei Verwandten bleibt die familiäre Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft durch den Mit-Aufenthalt der Kindesmutter grenzüberschreitend erhalten, sodass keine Ausnahme vom Grundsatz zu machen ist, wonach Kinder den Wohnsitz ihrer Eltern teilen. Vor diesem Hintergrund haben die Aufenthalte im Inland nicht bloßen Besuchscharakter. Dies gilt umso mehr, als nach Angaben des Klägers weiterhin ein intensiver Kontakt über die sozialen Medien zwischen dem Kläger und seiner Familie gepflegt wird (vgl. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.07.2018, 3 K 3220/17).
55Darauf, ob der Aufhebungsbescheid auch wegen einer Verletzung von Vertrauensschutzgrundsätzen rechtswidrig ist, kommt es nicht mehr an.
56Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
57...
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- X R 35/08 1x (nicht zugeordnet)
- 1 K 202/16 1x (nicht zugeordnet)
- EStG § 62 Anspruchsberechtigte 1x
- FGO § 100 1x
- VI R 165/99 1x (nicht zugeordnet)
- VIII B 271/03 1x (nicht zugeordnet)
- 8 K 3457/18 4x (nicht zugeordnet)
- 6 K 215/18 2x (nicht zugeordnet)
- EStG § 63 Kinder 2x
- III R 46/18 5x (nicht zugeordnet)
- 3 K 3220/17 3x (nicht zugeordnet)
- EStG § 32 Kinder, Freibeträge für Kinder 1x
- FGO § 135 1x
- III R 10/14 11x (nicht zugeordnet)
- 2 K 775/16 2x (nicht zugeordnet)
- III R 38/14 5x (nicht zugeordnet)
- III R 77/09 1x (nicht zugeordnet)
- VI R 107/99 1x (nicht zugeordnet)