Urteil vom Finanzgericht Münster - 1 K 2028/17 F
Tenor
Die Bescheide für 2002 und 2003 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 03.11.2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 05.05.2017 und in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 01.06.2017 werden ersatzlos aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leisten.
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Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Frage, ob ein Fall von geringer Bedeutung i. S. d. § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) vorlag und der Beklagte demzufolge keine Feststellungsbescheide erlassen durfte.
3Die Kläger unterhielten mit ihren Eltern, den Eheleuten I E und G E, ein gemeinsames Konto beim Bankhaus D. Im Außenverhältnis führten Herr G E, Frau I E und der Kläger zu 1. das Konto. Im Innenverhältnis waren Herr G E, Frau I E, der Kläger zu 1. und der – nicht nach außen auftretende – Kläger zu 2. an dem Konto zu gleichen Teilen beteiligt (jeweils zu 25 %). Hieraus erzielten sie Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) i. H. v. insgesamt xxx € (2002) und xxx € (2003). Auf die einzelnen Beteiligten entfielen xxx € (2002) und xxx € (2003).
4Die jeweiligen Einkommensteuerklärungen für 2002 und 2003 gaben die Eheleute I E und G E sowie die Kläger nach eigenen Angaben im auf den jeweiligen Veranlagungszeitraum folgenden Jahr ab (in 2003 für 2002, in 2004 für 2003). Einkünfte aus dem gemeinsamen Konto beim Bankhaus D erklärten sie in ihren Einkommensteuererklärungen nicht. Sie gaben auch keine Feststellungserklärungen ab.
5Im Juli 2010 verstarb Frau I E . Erben waren Herr G E und die Kläger. Im Mai 2012 verstarb Herr G E . Erben waren die Kläger.
6Mit Schreiben vom 8.11.2015, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, teilten die Kläger dem Beklagten mit, dass die Kapitalerträge aus dem gemeinsamen Konto beim Bankhaus D bisher nicht erklärt worden seien. Die Kläger gingen von einem Vermögensbestand im Jahr 2004 i. H. v. ca. xxx € aus. Hieraus ergäben sich bei Zugrundelegung von Erträgen bzw. Veräußerungsgewinnen von durchschnittlich jeweils 5 % pro Jahr die entsprechenden steuerlichen Einkünfte. Bei diesen 5 % handle es sich um eine freie Schätzung. Etwaige Werbungskosten (Depotgebühren, Provisionen etc.) und etwaig anrechenbare Steuern seien nicht berücksichtigt. Zu diesen Einkünften hätten sie rein vorsorglich folgende Sicherheitszuschläge vorgenommen. Hierzu führten sie aus:
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Der bekannte Vermögensbestand (ca. xxx €) werde sicherheitshalber mit einem Aufschlag i. H. v. 75 % auf xxx € geschätzt.
- 9
Die Erträge würden i. H. v. jeweils 7,5 % des erhöhten Vermögensbestands unterstellt.
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Vorsorglich würde unterstellt, dass die Einkünfte nach § 20 EStG und § 23 EStG aus mehreren Anlagezeiträumen in einem Veranlagungszeitraum zusammengeballt zugeflossen sein könnten.
Alleiniger Hintergrund dieser Sicherheitszuschläge sei es, dem strafrechtlichen Vollständigkeitsgebot zu genügen. Für die Streitjahre gaben die Kläger die folgenden Werte an:
12[…]
13Die Kläger beantragten, gemäß § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AO keine Feststellungsbescheide zu erlassen. Die Mitglieder der Kapitalgemeinschaft würden bei demselben Finanzamt und sogar in demselben Veranlagungsbezirk geführt. Außerdem sei die Kapitalgemeinschaft zwischenzeitlich – in 2010 – aufgelöst worden. Schließlich sei die Höhe der Einkünfte einfach zu ermitteln und auch die Zurechnung/Verteilung sei nicht streitig. Im Übrigen gingen sie von einer steuerlichen Festsetzungsverjährung für die Zeiträume vor 2004 aus.
14Im August 2016 vereinbarten die Kläger und der Beklagte im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Erlass von Steuerbescheiden für die Jahre 2004 und 2005, dass ergänzende Bank- und Steuerunterlagen durch die Kläger eingereicht werden (Bl. 85 f. der elektronischen Gerichtsakte). Daraufhin übersandten die Kläger im September 2016 verschiedene Unterlagen zur Konkretisierung der Nacherklärung aus dem November 2015 in Bezug auf die Jahre ab 2004.
15Im Oktober 2016 erließ der Beklagte geänderte Einkommensteuerbescheide für 2004 für die Kläger und die Eheleute I E und G E .
16Der Beklagte erließ unter dem 03.11.2016 Bescheide für 2002 und 2003 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen. Inhaltsadressaten waren die Kläger als Gesellschafter der E Kapitalgemeinschaft und zugleich als Rechtsnachfolger der verstorbenen I E und G E . Mit den Bescheiden stellte der Beklagte Einkünfte aus Kapitalvermögen i. H. v. jeweils xxx € und sonstige Einkünfte i. H. v. jeweils xxx € fest und teilte diese zu jeweils 25 % auf die an der E Kapitalgemeinschaft beteiligten Personen auf. In den Erläuterungen führte er aus, dass dem klägerischen Antrag, gemäß § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AO keine Feststellungsbescheide zu erlassen, nicht gefolgt werden könne. Hier liege aufgrund der Höhe der Einkünfte und des Auslandssachverhalts kein Fall von geringer Bedeutung vor.
17Nach dem Erlass der Feststellungsbescheide für 2002 und 2003 teilte der Beklagte die Steuernummer der „E Kapitalgemeinschaft, A-Straße 25, 00000 S“ mit.
18Im Dezember 2016 erließ der Beklagte geänderte Einkommensteuerbescheide für 2005 für die Kläger und die Eheleute I E und G E .
19Gegen die Feststellungsbescheide für 2002 und 2003 legten die Kläger Einsprüche ein. Zur Begründung führten sie an, dass die Bescheide sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach rechtswidrig seien.
20Dem Grunde nach hätte keine Feststellung von Besteuerungsgrundlagen ergehen dürfen. Gegenstand seien zwar Einkünfte, an denen mehrere Personen beteiligt seien, jedoch handle es sich um einen Fall von geringer Bedeutung i. S. d. § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AO. Ein Fall geringer Bedeutung liege bei Einkünften aus Kapitalvermögen vor, wenn die Aufteilung des festgestellten Betrags feststehe. Dies sei zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Feststellungsbescheide der Fall gewesen, da die Aufteilung unstreitig sei. Die Festsetzung betreffe lediglich Einkünfte einer Einkunftsart und einer Steuerart und in allen Fällen sei der Beklagte zuständig, sodass auch insoweit von einem Fall von geringer Bedeutung auszugehen sei. Es bestünde auch keine abstrakte Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen, da für die Beteiligten jeweils zum gleichen Zeitpunkt (Festsetzungs-)Verjährung eingetreten sei. Mit der Nacherklärung aus dem November 2015 sei der Sachverhalt „Gemeinschaftskonto“ bereits offengelegt worden. Die Kläger seien aber zu keiner Zeit zur Abgabe von Erklärungen zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte aufgefordert worden.
21Der Höhe nach würden die angefochtenen Feststellungsbescheide die Schätzwerte aus der Nacherklärung aus dem November 2015 berücksichtigen. Im September 2016 wären die Werte für die Jahre ab 2004 von den Klägern konkretisiert worden. Die erzielten Kapitalerträge lägen in den Folgejahren deutlich unter den Werten der Schätzung aus der strafrechtlichen Nacherklärung aus dem November 2015. Dies sei nach § 162 Abs. 2 AO bei einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zu berücksichtigen. Die geschätzten Kapitaleinkünfte seien daher an den Durchschnittswert der für die Folgejahre ermittelten Kapitalerträge anzupassen. Ferner sei bei der Berechnung der Kapitalerträge der Sicherheitszuschlag mit in die zugrunde gelegten Kapitaleinkünfte eingerechnet worden. Zweck des Sicherheitszuschlags sei allein, dem strafrechtlichen Vollständigkeitsgebot Rechnung zu tragen. Er sei bei der Festsetzung – unter Berücksichtigung der für die Folgejahre nachgewiesenen Erträge – daher nicht mit einzubeziehen.
22Während des Einspruchsverfahrens erbat der Beklagte erstmalig Kontounterlagen für die Jahre 2002 und 2003. Daraufhin übersandten die Kläger Bankunterlagen sowie ihre Auswertung mit der Ermittlung der steuerpflichtigen Einkünfte für 2002 und 2003 an den Beklagten. Hierzu führten sie aus, dass die Bankunterlagen für diese Veranlagungszeiträume umfassend und vollständig vorlägen. Unsicherheiten wegen der Höhe der Kapitalerträge bestünden daher nicht. Die Bankunterlagen seien zuvor allein deshalb nicht ausgewertet worden, weil dafür aufgrund der eingetretenen Verjährung keine Veranlassung bestanden habe. Nach Vorlage der Kontendokumentation für die Jahre 2002 und 2003 sähen sie keinen Grund, den vom Beklagten zitierten „Auslandssachverhalt“ für die Notwendigkeit des Feststellungsverfahrens heranzuziehen.
23Daraufhin änderte der Beklagte die angefochtenen Feststellungsbescheide entsprechend der klägerischen Unterlagen. Er stellte unter dem 05.05.2017 folgende Besteuerungsgrundlagen fest:
24[…]
25Im Übrigen teilte er diese Besteuerungsgrundlagen zu jeweils 25 % auf die an der E Kapitalgemeinschaft beteiligten Personen auf.
26Mit Einspruchsentscheidung vom 01.06.2017 wies der Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass ein Fall von geringer Bedeutung nicht vorliege, wenn aus Sicht des für das Feststellungsverfahren zuständigen Bearbeiters die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen bestehe, weil nicht zu übersehen sei, ob der Einkommensteueranspruch gegenüber den weiteren Feststellungsbeteiligten bereits verjährt sei (BFH-Urteil vom 07.07.1987, IX R 116/82, BFH/NV 1988,433). Der Verzicht auf eine gesonderte und einheitliche Feststellung wegen geringer Bedeutung gemäß § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 AO in einem solchen Fall werde gerade nicht dem Vereinfachungszweck der Norm gerecht. Der Erlass der gesonderten und einheitlichen Feststellung vor Ablauf der Feststellungsfrist erfülle vielmehr den im Beschluss des Großen Senats des BFH vom 11.04.2005 (GrS 2/02 – BStBl. II 2005,679) hervorgehobenen Zweck der Vorschriften der §§ 179 Abs. 2 Satz 2, 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) AO, in verfahrensrechtlich gestufter Art und Weise die notwendigen Entscheidungen verbindlich vorzugeben, um auf dieser Grundlage die Folgebescheide erlassen oder anpassen zu können.
27Es liege aber auch deshalb kein Fall von geringer Bedeutung vor, weil durch den Erlass der gesonderten und einheitlichen Feststellungen für die Streitjahre gewährleistet werde, dass die Folgebescheide aller Feststellungsbeteiligten noch geändert werden könnten. Die gesonderten und einheitlichen Feststellungen seien noch innerhalb der für sie gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO geltenden (gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verlängerten) Feststellungsfrist ergangen (Ende mit Ablauf des Kalenderjahres 2016). Die Festsetzungsverjährung auf Ebene der Folgebescheide für die Streitjahre sei jedoch offensichtlich bereits eingetreten, sodass durch den Erlass der Bescheide zur gesonderten und einheitlichen Feststellung eine einheitliche Steuerfestsetzung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO in den Folgebescheiden der Feststellungsbeteiligten gewährleistet werde (vgl. insbesondere BFH-Urteil vom 12.04.2016, VIII R 24/13, BFH/NV 2016, 1537).
28Hinzukommend sei zu berücksichtigen, dass die Höhe der Einkünfte zunächst im Schätzungswege festgesetzt werden musste und erst im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens eine korrekte niedrigere Berechnung seitens der Kläger erfolgt sei. Zusätzlich handele es sich im Streitfall um eine Selbstanzeige, die dem gesamten Sachverhalt deutlich mehr Gewicht beimesse.
29Hiergegen haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie ihren bisherigen Vortrag. Ergänzend tragen sie vor, dass die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Feststellungsfrist auf 10 Jahre nicht vorlägen. Es sei keine vorsätzliche Steuerhinterziehung hinsichtlich der Nichtabgabe von Feststellungserklärungen für 2002 und 2003 feststellbar. Der subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung durch Unterlassen erfordere, dass der Steuerpflichtige es zumindest ernsthaft für möglich gehalten und gebilligt habe, das Finanzamt über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen zu haben, er die Tatsachen kannte, die eine Verpflichtung zur Abgabe einer gesonderten und einheitlichen Feststellung für das betreffende Jahr begründet haben und er auch billigend in Kauf genommen habe, durch sein Verhalten einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil zu erlangen (BFH-Urteil vom 12.04.2016 VIII R 24/13, BFH/NV 2016, 1537). Die Kläger hätten das Erfordernis einer Abgabe von Feststellungserklärungen für das gemeinsame Konto nicht gekannt und hätten daher hinsichtlich der Nichtabgabe von Feststellungserklärungen für 2002 und 2003 nicht vorsätzlich gehandelt. Der Beklagte habe zum subjektiven Tatbestand hinsichtlich der Nichtabgabe der Feststellungserklärungen nichts vorgetragen, obwohl ihn insoweit die Feststellungslast treffe. Jedenfalls sei den Klägern erst seit 2013 bekannt, dass für gemeinsame Einkünfte Feststellungserklärungen einzureichen seien.
30Jedenfalls sei für 2002 Feststellungsverjährung am 31.12.2015 und nicht am 31.12.2016 eingetreten. Eine Ablaufhemmung (§ 171 Abs. 9 AO) greife nicht. Es seien Einkünfte für Einkommensteuerveranlagungen und nicht Einkünfte für eine Gemeinschaft im Wege der gesonderten und einheitlichen Feststellung nacherklärt worden.
31Im Übrigen heben die Kläger hervor, dass einziger Zweck der streitgegenständlichen Feststellungsbescheide gewesen sei, die bereits für die Kläger eingetretene Festsetzungsverjährung zu umgehen.
32Schließlich sei für die Annahme eines Vorsatzes hinsichtlich der Abgabe einer Feststellungserklärung entscheidend, dass bei den betreffenden Personen ein „Bewusstsein für verfahrensrechtliche Besonderheiten“ im Hinblick auf die Besteuerung von Einkünften, an denen mehrere Personen beteiligt sind, bestand. Dies sei bei den Klägern nicht der Fall gewesen. Der Beklagte differenziere nicht zwischen der Kenntnis unvollständiger Einkommensteuererklärungen einerseits und der Unkenntnis einer Abgabepflicht einer Feststellungserklärung aufgrund der Unkenntnis des Vorliegens einer steuerpflichtigen Feststellungsgemeinschaft andererseits.
33Die Kläger beantragen,
34die Bescheide für 2002 und 2003 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 03.11.2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 05.05.2017 und in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 01.06.2017 ersatzlos aufzuheben.
35Der Beklagte beantragt,
36die Klage abzuweisen,
37hilfsweise, die Revision zuzulassen.
38Zur Begründung verweist er zunächst auf seine Einspruchsentscheidung. Ergänzend trägt er vor, dass die subjektiven Voraussetzungen für eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen als gegeben angesehen werden könnten. Zudem liege bei der Höhe der Geldanlage und der Tatsache, dass die Anlage im Ausland erfolgte, unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung nahe, dass den an der E Kapitalgemeinschaft beteiligten Personen bewusst gewesen sein müsse, dass eine Steuerpflicht vorgelegen habe.
39In der Sache haben am 22.03.2019 ein Erörterungstermin vor dem damaligen Berichterstatter und am 09.03.2021 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden. Wegen der Einzelheiten wird auf die jeweilige Sitzungsniederschrift verwiesen.
40Entscheidungsgründe
41Die Klage hat Erfolg.
42I. Die Bescheide für 2002 und 2003 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 03.11.2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 05.05.2017 und in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 01.06.2017 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Sie sind ersatzlos aufzuheben.
43Es liegt ein Fall von geringer Bedeutung i. S. d. § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AO vor. Der Beklagte durfte kein Feststellungsverfahren durchführen.
44Besteuerungsgrundlagen werden durch Feststellungsbescheid gesondert festgestellt, soweit dies in der AO oder in den Steuergesetzen bestimmt ist (§ 179 Abs. 1, § 157 Abs. 2 AO). Gesondert festgestellt werden u. a. die einkommensteuerpflichtigen und körperschaftsteuerpflichtigen Einkünfte und mit ihnen in Zusammenhang stehende andere Besteuerungsgrundlagen, wenn an den Einkünften mehrere Personen beteiligt sind und die Einkünfte diesen steuerlich zuzurechnen sind (§ 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) AO). Dies gilt u. a. nicht, wenn es sich um einen Fall von geringer Bedeutung handelt, insbesondere weil die Höhe des festgestellten Betrags und die Aufteilung feststehen (§ 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Halbsatz 1 AO).
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1. § 180 Abs. 3 AO ist aus § 215 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung entwickelt worden und soll nach dem Willen des Gesetzgebers verhindern, dass gesonderte Feststellungen vorgenommen werden, für die in der Praxis kein Bedürfnis besteht (BT-Drucks. VI/1982, 157 zu § 161 Abs. 2; BT-Drucks. 7/4292, 102). Nach der ursprünglichen Fassung sollte § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) AO u. a. nicht gelten, „wenn es sich um Fälle von geringerer Bedeutung handelt“. Eine Erläuterung, unter welchen Umständen solche Fälle von geringerer Bedeutung vorliegen, enthielt die ursprüngliche Fassung nicht. Jedoch wurde § 180 Abs. 3 AO dahingehend durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 ergänzt. Nach der ergänzten Fassung handelt es sich insbesondere dann um einen Fall von geringer Bedeutung, wenn die Höhe des festgestellten Betrags und die Aufteilung feststehen. Mit dieser Ergänzung sollte sichergestellt werde, dass ein Feststellungsverfahren nur in verfahrensmäßig bedeutsamen Fällen durchgeführt werde. Die Finanzbehörde solle von der Einleitung eines Feststellungsverfahrens absehen, wenn es zur einheitlichen Rechtsanwendung und zur Erleichterung des Besteuerungsverfahrens nicht erforderlich sei (vgl. BT-Drucks. 10/1636, 46).
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2. Nach der Rechtsprechung des BFH ist das Merkmal der geringen Bedeutung in § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 AO ein auslegungsbedürftiger unbestimmter Rechtsbegriff. Der BFH hat für die Beurteilung der Frage, ob ein Fall von geringer Bedeutung vorliegt, in der bisherigen Rechtsprechung auch Umstände einbezogen, die sich nicht auf die Höhe und Aufteilbarkeit der festzustellenden Beträge beziehen. Demzufolge hat eine gesonderte und einheitliche Feststellung nicht wegen geringer Bedeutung zu unterbleiben, wenn aus Sicht des für das Feststellungsverfahren zuständigen Bearbeiters die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen besteht, weil nicht zu übersehen ist, ob der Einkommensteueranspruch gegenüber den weiteren Feststellungsbeteiligten bereits verjährt ist. Ein Fall von geringer Bedeutung ist daher zu verneinen, wenn eine gesonderte und einheitliche Feststellung noch innerhalb der für sie gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 geltenden (ggf. gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verlängerten) Feststellungsfrist ergehen kann, aber die Festsetzungsverjährung auf Ebene der Folgebescheide bereits eingetreten ist und somit durch den Erlass der gesonderten und einheitlichen Feststellung eine einheitliche Steuerfestsetzung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO in den Folgebescheiden der Feststellungsbeteiligten gewährleistet wird (BFH-Urteil vom 12.04.2016 VIII R 24/13, BFH/NV 2016, 1537 Rz. 17 f. m. w. N.).
Diese Rechtsprechung des BFH bestätigt den in vereinzelten Entscheidungen durch den BFH schon zuvor ausgesprochenen Grundsatz, dass sich die Beurteilung der Frage der „geringen Bedeutung“ einer einheitlichen und gesonderten Feststellung nicht nur nach Kriterien „innerhalb des Bescheids“ (den zu treffenden Feststellungen) richtet, sondern auch auf außerhalb des Bescheids liegenden Umständen beruhen kann. Ein solcher Umstand kann nach dieser Rechtsprechung des BFH vorliegen, wenn die Gefahr unterschiedlich laufender Festsetzungsverjährungen auf Ebene der Folgebescheide gegeben ist (vgl. Levedag, HFR 2016, 1037).
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3. Vor diesem Hintergrund ist der Senat der Überzeugung, dass vorliegend kein Feststellungsverfahren durchzuführen war. Es liegt ein Fall von geringer Bedeutung i. S. d. § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 AO vor.
a) Die Beteiligung der Kläger an dem Gemeinschaftskonto stellt sich als ein leicht überschaubarer Vorgang dar. Die Ermittlung und Aufteilung der gemeinschaftlich erzielten Einkünfte war nach einem einfachen Verteilungsschlüssel (pro Kopf, jeweils 25 % bei 4 beteiligten Personen) möglich. Die Höhe der Einkünfte beruhte zunächst auf einer einvernehmlichen Schätzung der Einkünfte und sodann auf der zwischen den Beteiligten nicht problematisierten (Nach-)Erklärung der Kläger. Keine festzustellende Besteuerungsgrundlage war zwischen den Beteiligten umstritten. Auch der Umstand, dass es sich um einen Sachverhalt mit ausländischen Einkünften handelt, führte zu keinerlei Klärungsbedarf zwischen den Beteiligten. Schließlich ergibt sich aus den vorliegenden Akten nicht, dass der Beklagte vor dem Erlass der streitgegenständlichen Bescheide Ermittlungsmaßnahmen für die Streitjahre durchgeführt hat. Wären diese durchgeführt worden, hätte die Höhe der Kapitalerträge durch Anforderung und Vorlage von Belegen bereits vor Erlass der erstmaligen Feststellungsbescheide festgestanden.
53b) Der Beklagte war unstreitig sowohl für die Feststellung als auch für die Festsetzung zuständig. Für alle Beteiligten war das Feststellungsfinanzamt mit dem Wohnsitzfinanzamt identisch. Auch dies ist ein Indiz für einen Fall von geringer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich die von den Klägern beantragte Vernehmung der Sachbearbeiterin.
54c) Eine Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen auf Festsetzungsebene bestand nicht. Im hier zu entscheidenden Fall bestand – im Gegensatz zu dem vom BFH mit Urteil vom 12.04.2016 VIII R 24/13, BFH/NV 2016, 1537 entschiedenen Fall – keine Gefahr unterschiedlich laufender Festsetzungsverjährungen auf Ebene der Folgebescheide. Die Festsetzungsfristen begannen und liefen für alle Beteiligten parallel. Im Übrigen waren jedenfalls bei Erlass der streitgegenständlichen Feststellungsbescheide die Festsetzungsfristen für sämtliche Beteiligte abgelaufen. Nach Aktenlage ergeben sich keinerlei Hinweise auf eine problematische Bestimmung des Fristbeginns. Die jeweiligen Einkommensteuererklärungen für 2002 und 2003 wurden im jeweils darauffolgenden Veranlagungszeitraum eingereicht (in 2003 für 2002 und in 2004 für 2003). Anhaltspunkte für etwaige Ablaufhemmungen hat der Beklagte nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.
55d) Schließlich liegt zur Überzeugung des Senats nicht allein deshalb kein Fall geringer Bedeutung vor, weil durch den Erlass eines Feststellungsbescheids die für sämtliche Beteiligte eingetretene Festsetzungsverjährung faktisch umgangen werden kann. Dies ist ein Gedanke, der allein von dem Ziel einer Steuerfestsetzung, aber nicht von dem dem § 180 Abs. 3 Nr. 2 AO zugrunde liegenden Vereinfachungszweck getragen wird.
564. Da ein Fall von geringer Bedeutung vorliegt, kann dahinstehen, ob die Feststellungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verlängert war. Außerdem kann dahinstehen, ob jedenfalls für 2002 Feststellungsverjährung bereits am 31.12.2015 eingetreten ist. Schließlich kommt es vor diesem Hintergrund auch nicht auf die von der Prozessbevollmächtigten der Kläger in der mündlichen Verhandlung nochmals geltend gemachten Beweisanträge an.
57II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
58III. Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Revisionsgrund i. S. v. § 115 Abs. 2 FGO vorliegt. Die Rechtssache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung. Es handelt sich vielmehr um eine Einzelfallentscheidung, die unter Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ergangen ist.
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