Beschluss vom Finanzgericht Münster - 12 V 16/21 AO
Tenor
1. Unter Änderung des Beschlusses vom 16.03.2021 wird der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 25.05.2020 abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens bis zum 16.03.2021 trägt der Antragsgegner und im Übrigen die Antragstellerin.
3. Die Beschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe:
1I.
2Die Beteiligten streiten über die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der in einem Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge.
3Der Antragsgegner setzte für den Voranmeldungszeitraum 02/2013 Umsatzsteuer fest, die in der Folgezeit durch Umbuchung vollständig getilgt wurde. In 2016 beantragte die Antragstellerin den Erlass der entstandenen Säumniszuschläge zu dieser Umsatzsteuer, die sich auf X € beliefen. Weil bei der Antragstellerin Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung vorgelegen hätten, erließ der Antragsgegner daraufhin die Hälfte der Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit. Er führte aus, ein weitergehender Erlass komme nicht in Betracht, da die Säumniszuschläge im Übrigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung und einen Ausgleich für die Verwaltungskosten darstellten. Auf Antrag der Antragstellerin hin erließ der Antragsgegner am 25.05.2020 einen Abrechnungsbescheid, der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2013 für einen Zeitraum vor dem 01.01.2019 i. H. v. X € sowie eine entsprechende Zahlung durch die Antragstellerin auswies.
4Die Antragstellerin hat am 27.10.2020 Klage unter dem Az. 12 K 3010/20 AO erhoben, über die der Senat noch nicht entschieden hat.
5Aufgrund eines Antrages der Antragstellerin hat der Senat mit Beschluss vom 16.03.2021 die Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 25.05.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 20.10.2020 ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Entscheidung im Klageverfahren 12 K 3010/20 AO bzw. einer anderweitigen Erledigung des Klageverfahrens 12 K 3010/20 AO insoweit aufgehoben, als darin Säumniszuschläge i. H. v. X € ausgewiesen sind.
6Die dagegen von der Antragstellerin erhobene Beschwerde hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss vom 10.06.2021 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat der BFH unter anderem angeführt, dass nicht nur gegen die Höhe der in § 233a der Abgabenordnung (AO) und in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssätze ab dem Jahr 2012 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestünden, die eine Aussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geboten erscheinen lassen, sondern, dass auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestünden. Dies gelte jedenfalls insoweit, als den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukomme, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion. Ob und inwieweit der weitere Zweck, den Verwaltungsaufwand auszugleichen, hier ebenfalls zu berücksichtigen sei, sei bislang noch nicht entschieden.
7Mit Schreiben vom 08.09.2021 beantragt der Antragsgegner eine Änderung des Beschlusses vom 16.03.2021 gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO. Zur Begründung führt er an, dass sich nach Ergehen des Aussetzungsbeschlusses im März 2021 durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 08.07.2021 Az.: 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 neue Umstände im Sinne des § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO ergeben hätten. In dieser Entscheidung habe das Bundesverfassungsgericht die die Vollverzinsung umfassenden Regelungen des § 233a AO i. V. m. § 238 AO lediglich für einen Verzinsungszeitraum ab dem 01.01.2019 für die Zukunft für verfassungswidrig und unanwendbar erklärt. Die hier streitigen Säumniszuschläge beträfen aber Zeiträume vor dem 01.01.2019.
8Die Antragstellerin trägt vor, dass das Finanzgericht für den Änderungsantrag nicht zuständig sei (vgl. BFH-Beschluss vom 15.09.2010 – I B 27/10, BStBl II 2010, 935). Allenfalls sei nach dem Geschäftsverteilungsplan des Finanzgerichts Münster der 5. Senat zuständig.
9Außerdem verstoße § 240 AO gegen den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BFH, EuGH-Vorlage vom 08.06.2021- VII R 44/19, juris).
10Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 12 K 3010/20 AO und 12 V 16/21 AO und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
11II.
12Der zulässige Antrag ist begründet.
13Gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Nach § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht der Hauptsache.
141. Der Senat ist als Gericht der Hauptsache für eine Entscheidung nach § 60 Abs. 6 Satz 2 FGO zuständig, da die Hauptsache beim Senat unter dem Aktenzeichen 12 K 3010/20 AO anhängig ist. Die von der Antragstellerin angeführte Rechtsprechung des BFH (I B 27/10) betrifft den hier nicht vorliegenden Fall der Änderung eines Aussetzungsbeschlusses von Amts wegen nach § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO.
15Der Senat ist auch der zuständige gesetzliche Richter in dieser Sache.
16Zu Unrecht meint die Antragstellerin, dass für die hier streitige Rechtsfrage der Höhe der Säumniszuschläge (§ 240 AO) der 5. Senat nach dem Geschäftsverteilungsplan (Gvpl.) des Gerichtes zur Entscheidung berufen sei.
17Nach Teil B. I. Ziff. 1 und 2 Gvpl. fallen in die Bezirkszuständigkeit eines Senats alle Klagen, die einen ihm zugeordneten Finanzamtsbezirk betreffen, sofern keine Spezialzuständigkeit eingreift (Bezirkssenat). Die Bezirkszuständigkeit umfasst insbesondere auch Verfahren aus dem Bereich des allgemeinen Abgabenrechts sowie der Vollstreckung (Sechster Teil der Abgabenordnung und §§ 151 ff. FGO), sofern keine Spezialzuständigkeit (B. II.) eingreift. Nach Teil A. I. ist der 12. Senat u. a. zuständig für den Bezirk des Festsetzungsfinanzamtes B soweit – wie hier – das Verfahren nach dem 31.12.2018 beim Gericht eingegangen ist.
18In die Spezialzuständigkeit eines Senats fallen alle Klagen, die ein ihm nach Maßgabe von Teil A. Gvpl. als Spezialzuständigkeit zugeordnetes Arbeitsgebiet betreffen (Spezialsenat). Die Spezialzuständigkeit greift vorbehaltlich abweichender Regelungen in Teil A. Gvpl. auch ein, wenn ein Sachzusammenhang zum Arbeitsgebiet einer Spezialzuständigkeit besteht und es sich dabei insbesondere um steuerliche Nebenleistungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AO handelt. Zwar sind Säumniszuschläge steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 Nr. 5 AO), ein Sachzusammenhang mit einem weiteren Klagegegenstand, der in die Spezialzuständigkeit des 5. Senats fällt, besteht allerdings nicht, da es in diesem Verfahren allein um die Höhe der Säumniszuschläge zu rechtskräftig festgesetzten Umsatzsteuern geht.
192. Zu Recht beruft sich der Antragsgegner für seinen Änderungsantrag nach § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17.
20a) Zu den Umständen, die einen Beteiligten berechtigen, einen Änderungsantrag nach § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO zu stellen, gehören auch Änderungen des Gesetzes oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 167. Lieferung, § 69 FGO Rz. 166 m. w. N. zur Rspr.).
21Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 stellt einen solchen Umstand dar, da diese Entscheidung die Frage der Verfassungswidrigkeit der Vollverzinsung gemäß § 233a AO i. V. m. § 238 AO klärt und eine Unanwendbarkeit dieser Normen erst ab dem Verzinsungszeitraum 01.01.2019 ausspricht und damit auch Auswirkungen bzgl. der Frage der Verfassungswidrigkeit der Säumniszuschläge entfalten kann.
22b) Aufgrund der vorgenannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat der Senat nunmehr keine erheblichen Bedenken an der Gültigkeit des § 240 AO. Dies gilt jedenfalls soweit mit dieser Norm auch Zinsvorteile des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden sollen.
23Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich die Fortgeltung der § 233a AO i. V. m. § 238 AO für die Zeit vor dem 01.01.2019 angeordnet. Soweit das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, dass eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung zulasten des Steuerpflichtigen, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach §§ 234, 235 und 237 AO, nicht in Betracht komme, und darüber hinaus keine Ausführungen zu den Säumniszuschlägen im Sinne des § 240 AO enthält, folgt daraus für die hier zu treffende Entscheidung nichts Gegenteiliges. Denn wenn schon die Vollverzinsung nach § 233a AO i. V. m. § 238 AO trotz verfassungsrechtlicher Bedenken bis zum 31.12.2018 nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes weiter gilt, so folgt daraus im Erst-Recht-Schluss, dass auch Säumniszuschläge zumindest bis zum 31.12.2018 und jedenfalls bzgl. des darin enthaltenen Verzinsungsanteils nicht wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben sind. Denn Säumniszuschläge verfolgen nicht nur den Zweck, Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuer zu sein, sondern sind auch Druckmittel, um den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung der festgesetzten Steuerschuld anzuhalten, und dienen auch der Abgeltung von Verwaltungsaufwendungen, die bei der verwaltenden Körperschaft dadurch entstehen, dass der Steuerpflichtige eine fällige Steuern nicht oder nicht fristgemäß zahlt (vgl. dazu BFH, Urteile vom 26.01.1988 - VIII R 151/84, BFH/NV 1988, 695; vom 30.03.2006 - V R 2/04, BStBl II 2006, 612; BFH-Beschluss vom 02.03.2017 – II B 33/16, BStBl II 2017, 646). Im vorliegenden Fall wurden die Säumniszuschläge zu 50 % erlassen, sodass der Restbetrag im Wesentlichen dem gleichen Zweck wie eine Verzinsung nach § 233a AO i. V. m. § 238 AO dient. Gelten aber nach der oben genannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Regelungen zur Vollverzinsung – trotz verfassungsrechtlicher Bedenken – bis zum 31.12.2018 fort, so gilt dieses nach Auffassung des Senates – jedenfalls bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung – für den vorliegenden Fall entsprechend. Denn die der Antragstellerin nicht erlassenen Säumniszuschläge betragen – ohne Berücksichtigung, dass damit auch Verwaltungskosten abgegolten sein könnten – bei prozentualer Betrachtung für jeden angefangenen Monat nur 0,5 Prozent.
24c) Etwas anders folgt auch nicht aus der von der Antragstellerin angeführten EuGH-Vorlage des BFH vom 08.06.2021 und des dort benannten unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Im Gegensatz zur dortigen Vorlageentscheidung steht hier die maßgebliche Norm des § 240 AO nicht in einem möglichen Widerspruch zu einer unionsrechtlichen Richtliniennorm. Vielmehr ist der Regelungsbereich des § 240 AO allein dem innerstaatlichen Recht vorbehalten.
253. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und berücksichtigt, dass das Verfahren nach § 69 Abs. 6 FGO im Vergleich zum Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO ein eigenständiges Verfahren ist (Gosch, AO/FGO, 162. Lieferung, § 69 FGO Rz. 344.4; Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur AO/FGO, § 69 FGO Rz. 1397). Es verbleibt daher bei der Kostenentscheidung im Beschluss vom 16.03.2021, die der Senat zur Klarstellung in seiner Kostenentscheidung nur wiederholt hat. Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Bundesfinanzhof entschieden.
264. Gründe für die Zulassung der Beschwerde gemäß § 128 Abs. 3 FGO i. V. m. § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.
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