Urteil vom Finanzgericht Münster - 1 K 3623/20 AO
Tenor
Die Haftungsbescheide vom 5.4.2019 sowie die Einspruchsentscheidung vom 20.12.2020 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leisten.
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Tatbestand
2Die Kläger sind Geschwister und Erben ihres am 00.00.2014 verstorbenen Vaters O E .
3Die Familienkasse C hob mit Bescheid vom 16.6.2011 die Kindergeldfestsetzung für die Klägerin zu 1. gegenüber dem Vater ab Dezember 2009 auf und forderte das bis einschließlich November 2010 gezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 2.188 € von ihm zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Der Vater zahlte den mehrfach (zuletzt am 28.2.2014) von der Beklagten angemahnten Betrag nicht.
4Nachdem die Beklagte vom Tod des Vaters und der Erbenstellung der Kläger Kenntnis erlangt hatte, nahm sie beide Kläger durch Haftungsbescheide vom 5.4.2019 nach § 1967 des Bürgerlichen Gesetzbuchs jeweils in Höhe von 3.521 € (Rückforderungsbetrag zzgl. Säumniszuschläge) in Haftung.
5Hiergegen legten beide Kläger fristgerecht Einsprüche ein und beriefen sich zur Begründung auf Verjährung.
6Mit Einspruchsentscheidung vom 20.11.2020 wies die Beklagtenvertreterin den Einspruch des Klägers zu 2. als unbegründet zurück und führte aus, dass sich aus der Akte keine Anhaltspunkte für eine Verjährung ergäben.
7Am 28.12.2020 haben beide Kläger Klage erhoben, mit der sie - nach Hinweis des Gerichts auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25.2.2021 (III R 36/19) - ergänzend vortragen, dass die Beklagte sachlich nicht für den Erlass der Haftungsbescheide zuständig gewesen sei.
8Die Kläger beantragen sinngemäß,
9die Haftungsbescheide von 5.4.2019 sowie die Einspruchsentscheidung vom 20.11.2020 aufzuheben.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit weist sie darauf hin, dass das BFH-Urteil noch nicht im Bundessteuerblatt veröffentlicht worden sei mit der Folge, dass es in der Praxis noch nicht angewendet werden könne.
13Auf Antrag der Kläger hat der BFH mit Beschluss vom 11.2.2021 (VII S 3/21 V), auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, das Finanzgericht Münster als das für den Rechtsstreit zuständige Gericht bestimmt.
14Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 27.1.2021 (Beklagte) und vom 19.10.2021 (Kläger) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
15Entscheidungsgründe
16Die Klage ist zulässig und begründet.
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I. Der Umstand, dass lediglich der Einspruch des Klägers zu 2. mit Einspruchsentscheidung vom 20.11.2020 zurückgewiesen wurde, während der Einspruch der Klägerin zu 1. unentschieden blieb, steht der Zulässigkeit der Klage der Klägerin zu 1. nicht entgegen. Grundsätzlich setzt eine Anfechtungsklage gemäß § 44 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zwar den Abschluss des außergerichtlichen Vorverfahrens voraus. Dies gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO jedoch nicht, wenn die Behörde über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat, wobei die Klage nach Satz 2 dieser Vorschrift grundsätzlich nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des Einspruchs erhoben werden kann. Im Streitfall ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, dass ca. 1,5 Jahre nach Einspruchseinlegung lediglich über den Einspruch des Klägers zu 2., nicht aber über den in der Sache gleich gelagerten Einspruch der Klägerin zu 1. entschieden wurde.
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II. Die Haftungsbescheide vom 5.4.2019, für den Kläger zu 2. in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.11.2020, sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Die Rechtswidrigkeit folgt bereits daraus, dass die Bescheide von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurden. Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) kann derjenige, der kraft Gesetzes für eine Steuer haftet, als Haftungsschuldner durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem auch das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern zuständig. Nach Satz 2 dieser Vorschrift stellt Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG).
22Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben auf eine Familienkasse nicht die örtliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ (worunter möglicherweise der Erlass von Haftungsbescheiden fällt) auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es vielmehr bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse. Der Senat folgt insoweit den zur Frage der sachlichen Zuständigkeit der Beklagten ergangenen BFH-Urteilen vom 25.2.2021 (III R 36/19, BFH/NV 2021, 956 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 7.7.2021 (III R 21/18) und nimmt auf deren Entscheidungsgründe Bezug. Die (bislang) nicht erfolgte Veröffentlichung dieser Entscheidungen im Bundessteuerblatt steht dem nicht entgegen.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO
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IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
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Referenzen
- III R 36/19 2x (nicht zugeordnet)
- FGO § 46 1x
- § 16 AO 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 100 1x
- FGO § 135 1x
- III R 28/20 1x (nicht zugeordnet)
- III R 21/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG 2x (nicht zugeordnet)
- VII S 3/21 1x (nicht zugeordnet)