Urteil vom Finanzgericht Münster - 2 K 2243/21 Kg
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12.03.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2021 verpflichtet, gegenüber der Klägerin Kindergeld für deren leibliche Kinder H und J für den Zeitraum von September 2020 bis August 2021 festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf Festsetzung und Auszahlung von Kindergeld für ihre beiden leiblichen Töchter H, geboren am xx.xx.2009 (H ), und J, geboren am xx.xx.2011 (J ), für den Zeitraum von September 2020 bis August 2021 (Streitzeitraum) hat.
2Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und lebt ausweislich der Vermieterbescheinigung vom 31.08.2021 gemeinsam mit H, J und Herrn T in U. T ist rumänischer Staatsangehöriger, nichtleiblicher Vater von H und J sowie ausweislich der Heiratsurkunde vom xx.xx.2019 in rumänischer und englischer Sprache seit dem xx.xx.2019 mit der Klägerin verheiratet. Ausweislich der amtlichen Meldebestätigung für die Anmeldung vom 05.11.2019 ist die Klägerin gemeinsam mit H und J seit dem 01.11.2019 in U gemeldet. Ausweislich der Meldebestätigung vom 09.08.2019 ist T seit dem 01.08.2019 in U gemeldet.
3T übte von Dezember 2019 bis 04.05.2021 eine Tätigkeit als Hilfskraft bei der B GmbH in F und sodann bei der C GmbH in U aus.
4Im Dezember 2019 beantragte T bei der Beklagten Kindergeld für H und J . Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.02.2020 für den Monat November 2019 ab und setzte mit Bescheid vom 06.03.2020 ab Dezember 2019 Kindergeld fest. Im August 2020 teilte das Jobcenter Kreis … der Beklagten mit, dass die Heiratsurkunde für die Ehe zwischen der Klägerin und T nicht gültig sei, da T mit Frau L verheiratet sei und keine Unterlagen vorgelegt worden seien, dass diese Ehe geschieden worden sei. Daraufhin hob die Beklagte gegenüber T die Kindergeldfestsetzung ab September 2020 auf. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 02.12.2020 als unbegründet zurück. Das hiergegen geführte finanzgerichtliche Klageverfahren 2 L 3570/20 wurde im Oktober 2021 durch übereinstimmende Erledigungserklärungen, ohne Änderung der vorstehenden Bescheidlage, beendet. Mit Bescheid vom 04.12.2020 hob die Beklagte gegenüber T die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Dezember 2019 bis August 2020 auf; gegen diesen Bescheid wurde kein Einspruch eingelegt.
5Im Oktober 2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Kindergeld für H und J.
6Mit Bescheid vom 12.03.2021 lehnte die Beklagte gegenüber der Klägerin die Festsetzung von Kindergeld für H und J ab September 2020 ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, nach § 64 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) werde für jedes Kind nur einer Person Kindergeld gezahlt. Die Kinder lebten im gemeinsamen Haushalt der Klägerin und T; die Klägerin habe T zum Kindergeldberechtigten bestimmt.
7Hiergegen legte die Klägerin am 08.04.2021 Einspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, T sei nicht leiblicher Vater von H und J. Sie nehme die Bestimmung des T zum Kindergeldberechtigten zurück.
8In einem familiengerichtlichen Verfahren, dessen Beteiligter u.a. T war, stellte das Amtsgericht …, Familiengericht, mit Beschluss vom 08.06.2021, 325 F 55/20, fest, dass das leibliche Kind der L, K, nicht von T abstammt. In einem weiteren familiengerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht …, 325 F 56/20, beantragte T festzustellen, dass er nicht mit der leiblichen Mutter von K, L , wirksam die Ehe geschlossen hat.
9Mit Einspruchsentscheidung vom 09.08.2021 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, ob eine Anspruchsberechtigung nach § 62 EStG bestehe. Die Klägerin habe nicht die angeforderten Unterlagen eingereicht.
10Hiergegen hat die Klägerin am 03.09.2021 Klage erhoben.
11Die Klägerin ist im Wesentlichen der Auffassung, sie habe einen Anspruch auf Kindergeld für H und J. Sie sei wirksam mit T verheiratet.
12Mit Beschluss vom 09.09.2021 ist das Verfahren nach teilweise Klagerücknahme eingestellt worden, soweit Kindergeld ab September 2021 begehrt worden ist.
13Die Klägerin beantragt sinngemäß,
14die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.03.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2021 zu verpflichten, ihr gegenüber Kindergeld für ihre leiblichen Kinder H und J für den Zeitraum von September 2020 bis August 2021 festzusetzen.
15Die Beklagte beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Die Beklagte ist im Wesentlichen der Auffassung, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kindergeld. Die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG lägen nicht vor. Insbesondere lägen die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) nicht vor. Es lasse sich nicht feststellen, dass es sich bei dem Partner der Klägerin um einen Familienangehörigen i.S.d. § 1 Ans. 3 Nr. 3 FreizügG/EU handele.
18Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Verwaltungsvorgänge und die beigezogene Gerichtsakte samt Verwaltungsvorgängen des Verfahrens 2 L 3570/Bezug genommen.
19Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
20Die Klage, über die aufgrund der Einverständnisse der Beteiligten nach § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte, ist begründet.
21I.. Die Die Ablehnung des Kindergeldantrages mit Bescheid vom 12.03.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Die Klägerin hat für den Streitzeitraum einen Anspruch auf Kindergeld für H und J; sie ist wirksam mit T verheiratet.
22Wie zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist, liegen die Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs grundsätzlich vor. Allein streitig ist die Frage, ob § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG den Anspruch ausschließt. Dies ist zu verneinen.
231. Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, der im Inland einen Wohnsitz begründet, wie im Streitfall die Klägerin, für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG hat er nach Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU liegen nicht vor. Nach § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 2 vorliegen, in eigener Zuständigkeit durch.
24Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 und 6 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer aufhalten wollen (Nr. 1) und Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU (Nr. 6).
25Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.
26Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a) FreizügG/EU ist i.S.d. FreizügG/EU Familienangehöriger einer Person der Ehegatte.
272. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den Streitfall hat die Klägerin einen Anspruch auf Kindergeld für H und J im Streitzeitraum. Dem steht § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG, der im Streitfall aufgrund des Ablaufes von drei Monaten ab Begründung eines Wohnsitzes im Inland durch die Klägerin im November 2019 anzuwenden ist, nicht entgegen. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU liegen vor. Die Klägerin ist wirksam mit T verheiratet.
28a. Die Klägerin ist Familienangehörige des T i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchsta. a) FreizügG/EU. Die Klägerin ist ausweislich der Heiratsurkunde vom 22.10.2019 in rumänischer und englischer Sprache seit dem 23.09.2019 mit T verheiratet.
29Der dem Zivilrecht entlehnte Begriff des „Ehegatte“ in § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchsta. a) FreizügG/EU ist nach zivilrechtlichen Grundsätzen einschließlich der Vorschriften des deutschen internationalen Privatrechts zu beurteilen (BFH, Urteil vom 17.04.1998 VI T 16/97, juris, zu § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG). Demnach ist eine zivilrechtlich wirksam geschlossene Ehe erforderlich. Dabei gilt bei der Beteiligung von Ausländern folgendes: Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Eheschließung sind in Ansehung eines jeden Verlobten nach den Gesetzen des Staates zu beurteilen, dem er angehört (Art. 13 Abs.1 EGBGB). Das gilt auch für den Fall der nachträglichen Beurteilung einer Ehe, die Ausländer im Ausland geschlossen haben (BFH, Urteil vom 06.12.1985 VI T 56/82, juris, zu § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG).
30Vor diesem Hintergrund ist die Wirksamkeit der Eheschließung zwischen der Klägerin und T, die beide rumänische Staatsangehörige sind, nach rumänischen Recht zu beurteilen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Eheschließung vor der zuständigen rumänischen Behörde, d.h. der Behörde eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, nicht gültig ist, sind nicht ersichtlich. Vernünftige Gründe daran zu zweifeln sind weder ersichtlich noch von der nach allgemeinen Grundsätzen hierzu darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten vorgetragen worden. Dabei hat der erkennende Senat zudem berücksichtigt, dass der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union verpflichtet den ausstellenden Träger, im Streitfall die rumänische Behörde, den Sachverhalt, der für den Inhalt seiner Erklärung nach seinen eigenen Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten (vgl. Europäischen Gerichtshofs, Urteil vom 26.01.2006, C-2/05, Rs. Herbosch Kiere, juris; BFH, Urteil vom 26.07.2017 III T 18/16, juris). Zudem hat der Senat zum einen berücksichtigt, dass lediglich pauschal, der entsprechenden Mitteilung des Jobcenters Kreis … an die Beklagte im August 2020 folgend, vorgetragen worden ist, dass T zuvor mit L wirksam verheiratetet gewesen sei, ohne dass diese (vermeintliche) Ehe wirksam geschieden worden sei. Zum anderen hat der Senat berücksichtigt, dass zugunsten des T in dem familiengerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht …, Familiengericht, mit Beschluss vom 08.06.2021, 325 F 55/20, festgestellt worden ist, dass das leibliche Kind der L, K, nicht von T abstammt, d.h. der entsprechende Vortrag der L, K sei während der Ehe mit T gezeugt worden, nicht bewiesen werden konnte. Auch hat der Senat berücksichtigt, dass das familiengerichtliche Verfahren vor dem Amtsgericht …, 325 F 56/20, in dem T begehrt festzustellen, dass er nicht mit der leiblichen Mutter von K, L, wirksam die Ehe geschlossen hat, noch nicht abgeschlossen ist. Dies ist jedoch nicht erforderlich. Aus § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG folgt, dass auch das Finanzgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 61 Abs. 1a Satz 3 EStG in eigener Zuständigkeit zu prüfen hat.
31b. Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU liegen vor. Die Klägerin hat T, der sich als rumänischer Staatsangehöriger, d.h. Unionsbürger, seit Dezember 2019 aufgrund seiner Tätigkeit als Hilfskraft bei der B GmbH in F, d.h. als Arbeitnehmer, im Inland aufhält, d.h. Unionsbürger i.S.d. 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist, begleitet. Sie hat zusammen mit ihm sowie H und J seit November 2019 in U gelebt.
323. Anhaltspunkt für eine Anspruchsminderung wegen des Bezuges von dem Kindergeld vergleichbaren ausländischen Familienleistungen für H und J, insbesondere durch deren leiblichen Vater, sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Vielmehr hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie keine Auskunft über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des leiblichen Vaters der Kinder geben kann.
33II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.
34III. Die Revision war nicht zuzulassen. Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.
35… … …
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Referenzen
- 1985 VI T 56/82 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 115 1x
- EStG § 62 Anspruchsberechtigte 7x
- § 61 Abs. 1a Satz 3 EStG 1x (nicht zugeordnet)
- 325 F 56/20 2x (nicht zugeordnet)
- 2017 III T 18/16 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 101 1x
- EStG § 26 Veranlagung von Ehegatten 2x
- 325 F 55/20 2x (nicht zugeordnet)
- 1998 VI T 16/97 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 135 1x
- 2 L 3570/20 1x (nicht zugeordnet)