Urteil vom Niedersächsisches Finanzgericht (6. Senat) - 6 K 209/14

Tatbestand

1

Streitig ist, ob aufgrund der nachträglichen Ausstellung einer Freistellungsbescheinigung nach § 50 d Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) die Änderung der Festsetzung des Steuerabzugs gemäß § 50 a EStG möglich ist.

2

Die Klägerin zu 2.) betreibt in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) nach österreichischem Recht ein Unternehmen, dessen Geschäftszweig nach dem Inhalt des Firmenbuchs der Republik Österreich die Veranstaltung von Konzerten ist. Die Gesellschaft ist im Firmenbuch mit Sitz in Salzburg seit dem ... 19... eingetragen, ursprünglich unter der Firma A. Gesellschaft m. b. H.. Die Klägerin zu 2.) verpflichtet als Konzertdirektion Künstler und Künstlergruppen und stellt diese im eigenen Namen und auf eigene Rechnung Veranstaltern für Auftritte u.a. in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung. Eine Betriebsstätte in Deutschland unterhielt sie im Streitjahr nicht.

3

Nach dem Inhalt der Freistellungsbescheinigung überließ die Klägerin zu 2.) der Veranstalterin, der Klägerin zu 1.), am ... 1991 Künstler bzw. eine Künstlergruppe für eine Darbietung des „S“ im Theater am X in Y für ein festes Honorar. Die Klägerin zu 1.) reichte eine Anmeldung über den Steuerabzug bei Vergütungen an beschränkt Steuerpflichtige im Sinne des § 50 a Abs. 5 EStG in Verbindung mit § 73 e der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) für das erste Kalendervierteljahr 1991 beim Beklagten ein, meldete einen Steuerabzug in Höhe von ... DM (bzw. ... €) an und führte diesen Betrag entsprechend an den Beklagten ab.

4

Der Prozessbevollmächtigte übersandte mit Schreiben vom ... 2011 für die Klägerin zu 1.) eine Freistellungsbescheinigung gemäß § 50 d Abs. 2 Satz 1 EStG des Bundeszentralamtes für Steuern (BZSt) vom ... 2011 für die „B GmbH“, nach deren Inhalt für Vergütungen im Zeitraum vom ... 1991 bis ... 1992 die Klägerin zu 1.) berechtigt wird, den Steuerabzug nach § 50 a Abs. 1 EStG gemäß dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (DBA AUT) zu unterlassen. Die Erteilung der Freistellungsbescheinigung hatte die Klägerin zu 2.) in einem Verfahren vor dem Finanzgericht Köln (Aktenzeichen xy) erstritten. Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Antrag der Klägerin zu 2.) auf Erstattung bzw. Freistellung vom Steuerabzug beim seinerzeit zuständigen Bundesamt für Finanzen (BfF) am ... 1997 gewesen. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht Köln weist das dortige Gericht auf die Möglichkeit der Änderung des Steuerabzugs nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) hin.

5

Die Klägerin zu 1.) beantragte beim Beklagten unter Hinweis auf die Änderungsnorm des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO die Erstattung des Betrages von ... € und übersandte mit Schreiben vom ... 2011 eine geänderte Freistellungsbescheinigung des BZSt gemäß § 50 d Abs. 2 Satz 1 EStG vom ... 2011, in der die Klägerin zu 2.) benannt wird. Ergänzend trug die Klägerin zu 1.) vor, die Bescheinigung sei aufgrund des Firmenwechsels der Klägerin zu 2.) berichtigt worden. Ebenfalls übersandte der Prozessbevollmächtigte die ihn legitimierende Vollmacht für die Klägerin zu 1.), die diese erteilt hatte, nachdem der Prozessbevollmächtigte ihr versichert hatte, dass für sie keine Kosten entstehen würden, diese vielmehr von der Klägerin zu 2.) getragen würden.

6

Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin zu 1.) mit Bescheid vom ... 2012 gegenüber der Klägerin zu 1.) ab. Die Steuerabzugsbeträge könnten nicht erstattet werden, eine Änderung der durch die Steueranmeldung erfolgten Steuerfestsetzung sei nicht möglich.

7

Gegen diesen ablehnenden Bescheid legte die Klägerin zu 1.) form- und fristgerecht Einspruch ein mit der Begründung, die durch die Steueranmeldung erfolgten Steuerfestsetzung sei aufzuheben. Die Regelung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO sei aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“) als nicht gemeinschaftsrechtskonform einzustufen und im Streitfall nicht anwendbar.

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Der Einspruch hatte keinen Erfolg; der Beklagte wies gegenüber der Klägerin zu 1.) deren Einspruch „gegen den Bescheid über die Ablehnung des Antrags auf Änderung der Festsetzung des Steuerabzugs gem. § 50 a EStG für das 1. Quartal 1991“ durch Einspruchsbescheid vom ... 2014 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, die Änderung der Festsetzung des Steuerabzugs gemäß § 50 a EStG für das I. Quartal 1991 sei zu Recht abgelehnt worden. Die Voraussetzungen für eine Änderung gemäß § 164 Abs. 2 AO oder § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO lägen nicht vor. Im Streitfall sei die vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO hinsichtlich der Festsetzung des Steuerabzugs gemäß § 50 a EStG für das I. Quartal 1991 bereits mit Ablauf des Kalenderjahres 1995 abgelaufen. Einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO stünde entgegen, dass gemäß § 175 Abs. 2 Satz 2 AO die Ausstellung einer vergangene Zeiträume betreffenden Freistellungsbescheinigung nicht als rückwirkendes Ereignis gelte. Die Regelung sei auch nicht wegen eines Verstoßes gegen europarechtliche Vorschriften unanwendbar. Aus dem von der Klägerin zu 1.) genannten Urteil des EuGH vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“) ergebe sich, dass der EuGH die Norm nicht generell für europarechtswidrig hielte, sondern allein deren rückwirkende Anwendung mit Wirkung ab 28. Oktober 2004 ohne Übergangsfrist. Im Streitfall sei die Freistellungsbescheinigung erst am ... 2011 und damit unter Geltung des ab 2004 anzuwendenden § 175 Abs. 2 Satz 2 AO erteilt worden. Selbst eine großzügige Übergangsfrist von fünf Jahren hätte zu keiner abweichenden Lösung geführt.

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Hiergegen haben die Klägerinnen am ... 2014 Klage erhoben. Zur Begründung äußern sie die Auffassung, § 175 Abs. 2 Satz 2 AO sei aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH als nicht gemeinschaftsrechtskonform einzustufen und im Streitfall nicht anwendbar. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sei vorliegend der Umstand, dass die Klägerin zu 2.) ihren Antrag auf Erstattung bzw. Freistellung bereits im Jahr 1997 gestellt habe und ihren Erfolg erst klageweise im Kalenderjahr 2011 habe durchsetzen können.

10

Ergänzend tragen die Klägerinnen vor, ohne Bejahen eines rückwirkendes Ereignis gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO würde zudem effektiver Rechtsschutz i.S. des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verweigert; denn die Klägerinnen könnten über die hier im Raum stehende Rechtlage, folgte man die Rechtsauffassung des Beklagten, aus dem Verfahren gedrängt werden.

11

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung trägt die Klägerin zu 2.) vor, der Antrag auf Erstattung bzw. Freistellung vom Steuerabzug beim seinerzeit zuständigen Bundesamt für Finanzen am ... 1997 sei der erste Antrag hinsichtlich der hier streitbefangenen Steuerabzugsbeträge gewesen. Die Klägerin zu 1.) beantragt, die Klägerin zu 2.) notwendig beizuladen.

12

Die Klägerinnen beantragen,

13

den Beklagten unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom ... 2012 und des dazu ergangenen Einspruchsbescheids vom ... 2014 zu verpflichten, die Festsetzung des Steuerabzugs gem. § 50 a EStG für das I. Quartal 1991 zu ändern und den Steuerabzug in Höhe von 0 € festzusetzen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er hält an seiner dem Einspruchsbescheid zu Grunde liegenden Rechtsauffassung fest und verweist insoweit auf die dortigen Ausführungen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg.

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1. Die Klage ist unzulässig, soweit diese von der Klägerin zu 2.) erhoben worden ist.

19

a) Die Klägerin zu 2.) war zwar als Vergütungsgläubigerin grundsätzlich befugt, Klage gegen die gegenüber der Klägerin zu 1.) als Vergütungsschuldnerin ergangenen Ablehnung der Änderung der Steuerfestsetzung des Steuerabzugs nach § 50 a EStG zu erheben.

20

Gemäß § 31 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes - KStG - (§ 49 Abs. 1 KStG 1990) i.V.m. § 50 a Abs. 1 EStG (§ 50 a Abs. 4 EStG 1990) wird bei beschränkt Steuerpflichtigen in bestimmten Fällen die Körperschaftsteuer im Wege des Steuerabzugs erhoben. Der Steuerabzug ist von dem Vergütungsschuldner, also von demjenigen durchzuführen, der dem beschränkt Steuerpflichtigen (Vergütungsgläubiger) die einkunftsbegründende Vergütung schuldet (§ 50 a Abs. 5 Sätze 2 und 3 EStG).

21

Der Steuerschuldner (und Vergütungsgläubiger) der Abzugsteuer ist nach § 50 a Abs. 1 EStG (§ 50 a Abs. 4 EStG 1990) - neben dem Vergütungsschuldner - zur Anfechtung der Steueranmeldung durch den Vergütungsschuldner berechtigt, weil sie den für seine Rechnung vorgenommenen Abzug von der Vergütung betrifft, diesen Abzug legitimiert und damit unmittelbar in die Rechte des Steuerschuldners eingreift (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7. November 2007 I R 19/04, BFHE 219, 300, BStBl II 2008, 228, m.w.N. zur Rechtsprechung). Dementsprechend hat der Steuerschuldner auch die Befugnis, die ändernde Festsetzung der für seine Rechnung festgesetzten Abzugsteuer im Wege der Verpflichtungsklage zu begehren.

22

Nach der Regelung des § 350 AO ist zur Einlegung eines Einspruchs befugt, wer geltend macht, durch einen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Eine vergleichbare Regelung enthält § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in Bezug auf die Klagebefugnis. In Rechtsprechung und Schrifttum herrscht Einigkeit darüber, dass eine "Rechtsverletzung" im Sinne der genannten Vorschriften nicht immer nur der Adressat des Verwaltungsakts, sondern unter Umständen auch ein von dem Verwaltungsakt materiell beschwerter Dritter geltend machen kann. Das gilt namentlich dort, wo eine Person verpflichtet ist, die von einem anderen geschuldete Steuer einzubehalten und abzuführen; hier können Verwaltungsakte, die dem Abführungspflichtigen gegenüber ergehen und sich auf die abzuführende Steuer beziehen, auch von dem Steuerschuldner angefochten werden (BFH-Beschluss vom 24. März 1999 I B 113/98, BFH/NV 1999, 1314, m.w.N.).

23

Dieser Grundsatz greift nach der Rechtsprechung des BFH auch in den Fällen des § 50 a Abs. 1 EStG (§ 50 a Abs. 4 EStG 1990) (BFH-Beschluss vom 7. November 2007 I R 19/04, BFHE 219, 300, BStBl II 2008, 228, m.w.N. zur Rechtsprechung). Der beschränkt steuerpflichtige Vergütungsgläubiger kann hiernach Verwaltungsakte, deren unmittelbarer Adressat der inländische Vergütungsschuldner ist, mit Einspruch und Klage anfechten.

24

b) Im Rahmen der von der Klägerin zu 2.) als Vergütungsgläubigerin erhobenen Klage gegen die Ablehnung des Änderungsantrags ist die Anmeldung nicht nur daraufhin zu überprüfen, ob sie von der Klägerin zu 1.) als Vergütungsschuldnerin vorgenommen werden durfte. Diesen reduzierten Prüfungsmaßstab hat der BFH bei einer Anfechtung der gemäß § 73 e EStDV vom Vergütungsschuldner abgegebenen Steueranmeldung allein durch den Vergütungsgläubiger wegen der prinzipiellen Unterscheidung zwischen der "eigentlichen" Steuerschuld des Vergütungsgläubigers einerseits und der Entrichtungssteuerschuld des Vergütungsschuldners andererseits unter Hinweis darauf angelegt, dass die Steueranmeldung keine Steuerfestsetzung gegen den Vergütungsgläubiger enthalte (zuletzt: BFH-Beschluss vom 7. November 2007 I R 19/04, a.a.O., m.w.N. zur Rechtsprechung). Denn die Steueranmeldung des Vergütungsschuldners enthält keine Steuerfestsetzung gegen den Vergütungsgläubiger, sondern entfaltet diesem gegenüber nur eine begrenzte Drittwirkung dergestalt, dass er die Abführung eines Teils seiner Vergütung an das Finanzamt dulden muss. Dieser reduzierte Prüfungsmaßstab ist im Streitfall nicht anzuwenden, da die Klägerin zu 1.) sich durch ihren Sachantrag im Klageverfahren dem Begehren der Klägerin zu 2.) angeschlossen hat.

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c) Die Klage der Klägerin zu 2.) ist aber aufgrund fehlenden Vorverfahrens nach § 44 Abs. 1 FGO unzulässig.

26

aa) In den Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, ist die Klage vorbehaltlich der §§ 45 und 46 FGO nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist (§ 44 Abs. 1 FGO).

27

Nach § 45 Abs. 1 FGO ist die Klage ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Behörde, die über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden hat, innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift dem Gericht gegenüber zustimmt.

28

Nach § 46 Abs. 1 FGO ist eine Klage abweichend von § 44 FGO ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist.

29

bb) Danach ist die vorliegende Klage der Klägerin zu 2.) unzulässig.

30

Die Klage ist erhoben worden, ohne dass die Klägerin zu 2.) zuvor einen Einspruch erhoben und damit ein Vorverfahren angestoßen hätte. Einen Einspruch hat alleine die Klägerin zu 1.) erhoben. Dass die Klägerin einspruchsbefugt war (s.o.), ist dabei unbeachtlich. Der Prozessbevollmächtigte hat mit Schreiben vom 10. April 2012 deutlich gemacht, dass er für die Klägerin zu 1.) einen Antrag auf Änderung der Festsetzung durch Steuerabzug nach § 50 a EStG begehrte, und mit Schreiben vom ... 2012 Einspruch für die Klägerin zu 1.) gegen die ablehnende Entscheidung des Beklagten eingelegt. Eine unmittelbare Klage ohne vorheriges Einspruchsverfahren ist der Klägerin zu 2.) nach § 44 Abs. 1 FGO verwehrt.

31

Die Klage ist auch nicht nach § 46 Abs. 1 FGO als Untätigkeitsklage zulässig. Auf das von der Klägerin zu 1.) geführte Einspruchsverfahren kann sich die Klägerin zu 2.) nicht berufen. Denn die Einspruchsverfahren mehrerer zum Einspruch befugter Einspruchsführer sind und bleiben grundsätzlich selbständig (vgl. Koch in Gräber, FGO, 7. Auflage 2010, § 59 Rz. 11 zur Streitgenossenschaft). Jeder der Einspruchsführer ist selbständig im Rahmen der Verfahrensvorschriften zur Disposition über den Streitgegenstand berechtigt. Die Klägerin zu 2.) hat ein Einspruchsverfahren niemals betrieben, so dass sie eine Untätigkeit des Beklagten nicht beklagen kann.

32

Schließlich ist die Klage auch nicht als Sprungklage (§ 45 Abs. 1 FGO) zulässig. Der Beklagte hat einer Sprungklage nicht zugestimmt. Da eine Sprungklage außerdem voraussetzt, dass die Sachurteilsvoraussetzungen im Übrigen erfüllt sind, konnte die Klägerin zu 2.) am ... 2014 keine zulässige Klage mehr erheben. Denn der angefochtene Ablehnungsbescheid datiert vom ... 2012, so dass die Klagefrist bei Klageerhebung abgelaufen war.

33

cc) Nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 25. April 2006 VIII R 52/04, BFHE 214, 40, BStBl II 2006, 847; BFH-Beschluss vom 30. Dezember 2003 IV B 21/01, BFHE 204, 44, BStBl II 2004, 239; BFH-Urteil vom 14. Oktober 2003 VIII R 32/01, BFHE 203, 462, BStBl II 2004, 359, m.w.N.) sind zwar notwendig Hinzuzuziehende klagebefugt, auch wenn das Einspruchsverfahren mangels Hinzuziehung ihnen gegenüber keine Wirkung entfaltet und es an sich für eine von ihnen erhobene Klage an der Sachentscheidungsvoraussetzung eines zumindest teilweise erfolglos gebliebenen Vorverfahrens (§ 44 Abs. 1 FGO) fehlt. Die Hinzuzuziehenden sind durch die Klageerhebung bereits Beteiligte des Klageverfahrens gemäß § 57 Nr. 1 FGO geworden, eine notwendige Beiladung gemäß § 60 Abs. 3 FGO zwecks Heilung der unterlassenen Hinzuziehung ist dann ausgeschlossen.

34

Die Klägerin zu 2.) war aber nicht notwendig zum Einspruchsverfahren der Klägerin zu 1.) hinzuzuziehen.

35

Eine Hinzuziehung oder Beiladung ist nur dann notwendig, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (§ 360 Abs. 3 Satz 1 AO, § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO). Nach ständiger Rechtsprechung (z.B. BFH-Urteil vom 19. April 1988 VII R 56/87, BFHE 153, 472, BStBl II 1988, 789) ist das nur dann der Fall, wenn die Entscheidung notwendigerweise und unmittelbar Rechte Dritter gestaltet, verändert oder zum Erlöschen bringt, insbesondere in Fällen, in denen das, was einen Prozessbeteiligten begünstigt oder benachteiligt, zwangsläufig umgekehrt den Dritten benachteiligen oder begünstigen muss (BFH-Urteil vom 24. April 2007 I R 39/04, BFHE 218, 89, BStBl II 2008, 95, m.w.N.). Ein solches Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit ist in der hier in Rede stehenden Verfahrenskonstellation aber nicht gegeben.

36

Denn in dem vorliegenden Klageverfahren über die Inanspruchnahme der Klägerin zu 1.) als Vergütungsschuldnerin kann durchaus anders entschieden werden als in einem etwaigen Freistellungs- oder Erstattungsverfahren der Klägerin zu 2.) (BFH-Urteil vom 24. April 2007 I R 39/04, BFHE 218, 89, BStBl II 2008, 95 zum Fall der Inhaftungnahme des Vergütungsschuldners).

37

Die Klägerin zu 2.) ist als Vergütungsgläubigerin zwar prinzipiell berechtigt, den Bescheid aus eigenem Recht anzufechten (s.o.). Die gemäß § 50 a Abs. 5 Satz 3 EStG vom Vergütungsschuldner abzugebende Steueranmeldung enthält jedoch ebenso wenig wie ein Haftungsbescheid eine Steuerfestsetzung gegen den Vergütungsgläubiger (BFH-Beschluss vom 13. August 1997 I B 30/97, BFHE 184, 92, BStBl II 1997, 700). Die Finanzbehörde begründet vielmehr (nur) die (eigene) Entrichtungssteuerschuld des Vergütungsschuldners auf Anmeldung und Abführung der Abzugssteuer gemäß § 50 a Abs. 1 EStG (§ 50 a Abs. 4 EStG 1990; BFH-Urteil vom 24. April 2007 I R 39/04, BFHE 218, 89, BStBl II 2008, 95).

38

2. Die Klage der Klägerin zu 1.) ist zulässig, aber unbegründet.

39

Der angefochtene Bescheid über die Ablehnung des Antrags auf Änderung der Festsetzung des Steuerabzugs gem. § 50 a EStG für das I. Quartal 1991 vom ... 2012 und der dazu ergangene Einspruchsbescheids vom ... 2014 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin zu 1.) nicht in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Der Beklagte hat den Antrag auf Änderung der Festsetzung durch Steuerabzug nach § 50 a EStG zu Recht abgelehnt.

40

a) Der erkennende Senat konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2015 trotz des Antrags der Klägerin zu 1.), die Klägerin zu 2.) notwendig beizuladen, in der Sache entscheiden. Eine notwendige Beiladung der Klägerin zu 2.) kommt nicht in Betracht, da die Klägerinnen an dem streitigen Rechtsverhältnis nicht i.S. des § 60 Abs. 3 FGO derart beteiligt sind, dass die Entscheidung ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (siehe oben unter 1. c) bb)). Diese Ablehnung der beantragten notwendigen Beiladung konnte der erkennende Senat im Urteil aussprechen (vgl. BFH-Urteil vom 16. März 1994 II R 40/91, BFH/NV 1994, 841).

41

b) Zu Recht hat der Beklagte den Antrag auf Änderung der Festsetzung durch Steuerabzug nach § 50 a EStG abgelehnt.

42

aa) Die Voraussetzungen für die Anmeldung, Einbehaltung und Abführung der Steuer lagen vor.

43

Zur Vornahme der Steueranmeldung sowie zum Einbehalt und zur Abführung der Steuerabzugsbeträge war der Vergütungsschuldner zur Vermeidung eines eigenen Haftungsrisikos (vgl. § 50 a Abs. 5 Satz 5 EStG 1990) bereits dann berechtigt, wenn die sachliche Steuerpflicht der Vergütungen jedenfalls zweifelhaft war, wenn also aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Vergütungsschuldners von der ernstlichen Möglichkeit einer beschränkten Steuerpflicht des Vergütungsgläubigers ausgegangen werden konnte. Ist die beschränkte Steuerpflicht zweifelhaft, ist der Vergütungsgläubiger gehalten, seine Einwendungen gegen ihr Vorliegen und gegen die Höhe der Steuer im Rahmen eines eigenständigen Freistellungs- oder Erstattungsverfahrens geltend zu machen (BFH-Beschlüsse vom 13. August 1997 I B 30/97, BStBl II 1997, 700, und vom 7. November 2007 I R 19/04, BFHE 219, 300, BStBl II 2008, 228; Loschelder in Schmidt, EStG, 34. Aufl. 2015, § 50 a Rz. 40; vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 17. Mai 1995 I B 183/94, BStBl II 1995, 781, vom 26. Juli 1995 I B 182/94, BFH/NV 1996, 318, und vom 8. April 2009 I B 78/08, zitiert nach juris).

44

Nach diesen Maßstäben war die Klägerin zu 1.) als Vergütungsschuldnerin zur Vornahme der Steueranmeldung und zum Einbehalt und zur Abführung der Steuerabzugsbeträge berechtigt und verpflichtet. Denn aus ihrer Sicht war von der ernstlichen Möglichkeit einer beschränkten Steuerpflicht der Klägerin zu 2.) auszugehen.

45

Beschränkt steuerpflichtig sind Körperschaften, die weder ihre Geschäftsleitung noch ihren Sitz im Inland haben, mit ihren inländischen Einkünften (§§ 2 Nr. 1, 8 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes i.V.m. § 49 EStG). Voraussetzung für den Steuerabzug ist das Vorliegen von Einkünften i. S. des § 50 a Abs. 1 (§ 50 a Abs. 4 EStG 1990). Das bedeutet, dass die vom Vergütungsschuldner geleisteten Zahlungen dem dort angeführten Einkünftekatalog unterfallen müssen. Der Tatbestand des § 50 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG (§ 50 a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG 1990) erfasst Einkünfte, die durch im Inland ausgeübte oder verwertete künstlerische, sportliche, artistische oder ähnliche Darbietungen erzielt werden, einschließlich der Einkünfte aus anderen mit diesen Leistungen zusammenhängenden Leistungen, unabhängig davon, wem die Einnahmen zufließen; die Regelung entspricht insoweit derjenigen in § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) EStG.

46

Aus Sicht der Klägerin zu 1.) bestand die ernstliche Möglichkeit, dass die Klägerin zu 2.) mit ihren Einkünften im Inland gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) EStG i. V. m. § 50 a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG 1990 beschränkt körperschaftsteuerpflichtig war.

47

Die Klägerin ist eine Kapitalgesellschaft österreichischen Rechts ohne Sitz, Geschäftsleitung oder Zweigniederlassung im Inland. Ihre Einkünfte aus der Überlassung der Künstlergruppe an die Klägerin zu 1.) erfüllte die Tatbestände der §§ 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) EStG, 50 a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG 1990. Mit dem Anbieten künstlerischer Leistungen gegen Entgelt, ohne dieselben in eigener Person zu erbringen, übte die Klägerin eine selbständige nachhaltige Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht unter Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr – mithin ein Gewerbe i. S. des § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG – aus. Bei dem für die Überlassung der Künstler gezahlten Festpreis handelt es sich um eine einheitliche Vergütung, die durch künstlerische Darbietungen im Inland erzielt wurde. Die Vorschriften der §§ 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) EStG, 50 a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG 1990 verlangen nicht, dass der Vergütungsgläubiger höchstpersönlich künstlerische Leistungen darbietet. Die Vorschriften gelten vielmehr auch für ausländische Unternehmen ohne inländische Betriebsstätte oder ständigen Vertreter, die als sog. Konzertdirektionen einem inländischen Veranstalter Künstler im eigenen Namen und auf eigene Rechnung zur Verfügung stellen. Erforderlich sind nämlich keine Einkünfte aus, sondern solche durch künstlerische Darbietungen; diese Darbietungen wurden hier durch das überlassene Ensemble erbracht.

48

Die Klägerin zu 1.) durfte die Steueranmeldung, den -einbehalt und die -abführung auch nicht aufgrund der sich – unstreitig – aus Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 15 Abs. 2 Satz 1 DBA AUT ergebenden Befreiung der Einkünfte der Klägerin von der deutschen Besteuerung unterlassen. Denn gemäß § 50 d Abs. 1 Satz 1 EStG 1990 sind die Vorschriften über die Einbehaltung, Abführung und Anmeldung der Steuer ungeachtet des Abkommens anzuwenden. Von der Steueranmeldung, dem -einbehalt und der Steuerabführung hätte die Klägerin zu 1.) nach § 50 d Abs. 3 Satz 1 EStG 1990 nur dann absehen dürfen, wenn die Klägerin zu 2.) die Steuerfreistellung ihrer Einkünfte im Abzugsverfahren durch eine Bescheinigung des damaligen BfF nachgewiesen hätte. Dies ist jedoch – zwischen den Beteiligten ebenfalls unstreitig – seinerzeit nicht geschehen.

49

bb) Eine Änderung der Festsetzung durch Steuerabzug nach § 50 a EStG aufgrund der nunmehr vorgelegten Freistellungsbescheinigung kommt nicht in Betracht.

50

Eine Änderung nach § 164 Abs. 2 AO oder § 173 AO scheitert gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO an der zwischenzeitlich mit Ablauf des 31. Dezember 1995 eingetretenen Festsetzungsverjährung (vgl. § 170 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 169 Abs.2 Satz 1 AO). Davon gehen auch die Beteiligten übereinstimmend aus.

51

Eine Änderung kommt auch nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 171 Abs. 10 AO in Betracht. Denn die Freistellungsbescheinigung ist im Hinblick auf die Steueranmeldung des Vergütungsschuldners kein Grundlagenbescheid i.S. des § 171 Abs. 10 AO, da diese zwar bedeutet, dass eine Abzugsverpflichtung nicht besteht, die Freistellungsbescheinigung aber für den weiteren Inhalt der Steueranmeldung nicht maßgeblich ist (Hahn-Joecks in Kirchhoff/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 50 d Rz. D 24; Wagner in Blümich, EStG, § 50 d Rz. 55; Buciek in IStR 2001, 102 mit Hinweis auf BFH-Urteil vom 16. Oktober 1991 I R 65/90, BFHE 166, 142, BStBl II 1992, 322 zur Nichtveranlagungsbescheinigung; a.A. Grams in DStZ 2003, 302).

52

Entgegen der Ansicht der Klägerin ist auch eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO nicht zulässig.

53

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).

54

(1) Ein rückwirkendes Ereignis liegt vor, wenn der nach dem Steuertatbestand rechtserhebliche Sachverhalt sich später anders gestaltet und sich steuerlich in der Weise in die Vergangenheit auswirkt, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist (BFH-Beschluss vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897; BFH-Urteil vom 9. November 2011 VIII R 18/08, BFH/NV 2012, 370). Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, also bereits eingetretene steuerliche Rechtsfolgen mit Wirkung für die Vergangenheit sich ändern oder vollständig entfallen, ist den Normen des materiellen Steuerrechts zu entnehmen (BFH-Urteile vom 27. Januar 2011 III R 90/07, BFHE 232, 485, BStBl II 2011, 543; vom 4. Mai 2006 VI R 17/03, BFHE 213, 383, BStBl II 2006, 830). Die Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung kann demnach ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sein, wenn sie ein materiell-rechtliches Tatbestandsmerkmal bildet (BFH-Urteil vom 9. November 2011 VIII R 18/08, BFH/NV 2012, 370).

55

Nach diesen Grundsätzen könnte die Vorlage der Freistellungsbescheinigung als rückwirkendes Ereignis gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO angesehen werden, da sie gemäß § 50 d Abs. 2 Satz 1 EStG (§ 50 d Abs. 3 Satz 1 EStG 1990) eine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Entrichtungssteuerschuld des Vergütungsschuldners darstellt (zustimmend: Gosch in StBp 2001, 332; Rüsken in Klein, AO, 12. Auflage 2014, § 175 Rz. 75 und wohl auch BFH im Urteil vom 11. Oktober 2000 I R 34/99, BFHE 193, 336, BStBl II 2001, 291).

56

Der erkennende Senat hat allerdings Zweifel daran, ob angesichts des Vereinfachungszwecks des Steuerabzugsverfahrens die Erteilung und Vorlage einer Freistellungsbescheinigung Rückwirkung i.S. der Norm entfaltet. Dagegen spricht die Regelung des § 50 d Abs. 2 Satz 5 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 20. Dezember 2001 (Steueränderungsgesetz 2001 – StÄndG 2001, BGBl I 2001, 3794) und die Rechtsnatur der Freistellungsbescheinigung.

57

Durch einen Freistellungsbescheid wird verbindlich und endgültig festgestellt, dass ein Steuerpflichtiger keine Steuer schuldet. Inhalt der Freistellungsbescheinigung nach § 50 d Abs. 3 Satz 1 EStG ist hingegen nur die Feststellung, dass der Vergütungsschuldner berechtigt ist, den von § 50 a Abs. 4 EStG vorgeschriebenen Steuerabzug zu unterlassen. Darauf beschränkt sich ihre Rechtsfolge. Mit der Freistellungsbescheinigung nach § 50 d Abs. 3 EStG wird daher nicht (abschließend) über die Steuerpflicht des beschränkt steuerpflichtigen Vergütungsgläubigers entschieden (BFH-Urteil vom 28. Oktober 1999 I R 35/98, BFH/NV 2001, 881, m.w.N.). Dementsprechend muss der Schuldner der Vergütung gemäß § 73 e Satz 3 i.V.m. Satz 2 EStDV eine Steueranmeldung auch dann abgeben, wenn der Steuerabzug aufgrund eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht oder nicht in voller Höhe vorzunehmen ist. Die Freistellungsbescheinigung ist zukunftsorientiert. Infolgedessen regelt der Wortlaut des Gesetzes in § 50 d Abs. 2 Satz 5 EStG i.d.F. StÄndG 2001, Voraussetzung für die Abstandnahme vom Steuerabzug ist, dass dem Schuldner der Kapitalerträge oder Vergütungen die Bescheinigung vorliegt. Der Gesetzgeber hielt die Änderungen in § 50 d EStG für eine Klarstellung, „dass das Verfahren der Abstandnahme vom Steuerabzug der Vereinfachung dient und nur ein in die Zukunft gerichtetes Verfahren sein kann. Dieses Verfahren hat aber keine Berechtigung mehr, wenn […] Vergütungen dem Gläubiger zugeflossen sind. Dann ist vielmehr durch Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) über die Höhe des Steueranspruchs zu entscheiden, dem sich ggf. die Erstattung der einbehaltenen Steuer anschließt.“ (Drucksache des Deutschen Bundestags 14/7341, 13).

58

Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des Steuerabzugsverfahrens, in dem aus Vereinfachungsgründen nicht abschließend über die Steuerpflicht des beschränkt steuerpflichtigen Vergütungsgläubigers entschieden wird (BFH-Urteil vom 28. Oktober 1999 I R 35/98, BFH/NV 2001, 881). Folglich hat der BFH mit Beschluss vom 1. Dezember 1993 (I R 48/93, BFH/NV 1994, 549 zum Streitjahr 1991) und das Finanzgericht Düsseldorf mit Urteil vom 24. April 2013 (15 K 1802/09 E, EFG 2013, 1132 zu den Streitjahren 1998, 1999) entschieden, dass die Befreiung der Einkünfte von der Besteuerung und die Erstattung der abgeführten Beträge nur im Erstattungsverfahrens nach § 50 d Abs. 1 Satz 2 EStG erreicht werden kann, wenn eine Freistellungsbescheinigung nicht (rechtzeitig) vorliegt.

59

(2) Der erkennende Senat kann die Entscheidung dieser Frage allerdings dahinstehen lassen. Denn nach § 175 Abs. 2 Satz 2 AO wirkt die Freistellungsbescheinigung nicht als rückwirkendes Ereignis.

60

Nach dieser Vorschrift gilt die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung nicht als rückwirkendes Ereignis.

61

Im Streitfall ist diese durch das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz (EURLUmsG) vom 9. Dezember 2004 (BGBl I 2004, 3310) eingeführte Fassung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO auch zeitlich anwendbar. Denn gemäß Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO ist diese Fassung erstmals anzuwenden, wenn die Bescheinigung oder Bestätigung nach dem 28. Oktober 2004 vorgelegt oder erteilt wird. Dies ist im Streitfall der Fall.

62

Die in der Literatur teils geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Einführung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO (v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 175 AO Rz. 440) teilt der erkennende Senat nicht. Dem Gesetzgeber steht es frei, den Umfang der Bestandskraft durch ausdifferenzierte Regelungen und Korrekturmöglichkeiten zu bestimmen (Koenig, AO, 3. Auflage 2014, § 175 Rz. 69; Frotscher in Schwarz, AO/FGO, § 175 AO Rz. 67b).

63

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist § 175 Abs. 2 Satz 2 AO auch nicht wegen eines Verstoßes gegen Europarecht unanwendbar. Die Vorschrift muss vielmehr bei der Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO im Streitfall beachtet werden.

64

Aus dem Urteil des EuGH vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“) ergibt sich – zumindest für den Streitfall – keine Unanwendbarkeit des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO.

65

(a) Gegenstand des Rechtsstreits vor dem EuGH war u.a. die Frage, ob und in welcher Weise unter der Geltung des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens materiell- und verfahrensrechtlich eine Bescheinigung über tatsächlich entrichtete ausländische Körperschaftsteuer beigebracht werden konnte, um eine Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer auf die deutsche Körperschaftsteuer zu erlangen. Der EuGH hatte hierbei auch zu entscheiden, ob der europarechtliche Effektivitätsgrundsatz und das Prinzip des „effet utile“ der Regelung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO entgegenstand, wonach rückwirkend die Vorlage einer Körperschaftsteuerbescheinigung nach dem 28. Oktober 2004 (Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO) nicht mehr als rückwirkendes Ereignis anzuerkennen war und daher die Berücksichtigung der Bescheinigung verfahrensrechtlich unmöglich gemacht wurde, ohne dass eine Übergangsfrist zur Geltendmachung der Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer eingeräumt worden war.

66

Der EuGH hat in dem Urteil vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“) entschieden, der europarechtliche Effektivitätsgrundsatz und das Prinzip des „effet utile“ stehe der nationalen Regelung – wie sie sich aus § 175 Abs. 2 Satz 2 AO i.V.m. Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO ergebe – entgegen, da es diese Regelung rückwirkend und ohne Einräumung einer Übergangsfrist verwehre, eine steuerliche Auswirkung dadurch zu erlangen, dass eine hinreichende Bescheinigung vorgelegt werden könne, anhand derer die Steuerbehörden des Mitgliedstaats eindeutig und genau überprüfen können, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Steuervorteils vorliegen. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts zu bestimmen, welche Frist für die Vorlage dieser Bescheinigung oder dieser Belege angemessen sei (EuGH-Urteil vom 30. Juni 2011 C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“, Rz. 59 a.E.).

67

Der europarechtliche Effektivitätsgrundsatz besagt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass ein Mitgliedstaat mangels einer einschlägigen Unionsregelung zwar die Verfahrensmodalitäten für die dem Unionsrecht erwachsenden Rechte selbstständig innerhalb der innerstaatlichen Rechtsordnung bestimmen dürfe, dass andererseits die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte aber nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden dürfe (EuGH-Urteile vom 7. Januar 2004 C-201/02 - Wells, Slg. 2004, I-723, Rz. 67; vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04 - i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, I-8559, Rz. 57). Mit dem Effektivitätsgrundsatz sei es aber vereinbar, wenn angemessene Ausschlussfristen festgesetzt würden für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit; solche Fristen seien nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (EuGH-Urteil vom 17. November 1998 C-228/96 - Aprile, Slg. 1998, I-7141, Rz. 19). Bei einer rückwirkenden Änderung steuerlicher Erstattungsmodalitäten gebiete es der Effektivitätsgrundsatz daher, dass die neue Regelung eine Übergangsregelung enthalte, die dem Einzelnen eine Frist einräume, die ausreiche, um nach Erlass der Regelung die Erstattungsansprüche geltend zu machen, die er unter der alten Regelung hätte geltend machen können (EuGH-Urteile vom 11. Juli 2002 C-62/00 - Marks & Spencer, Slg. 2002, I-6325, Rz. 38; vom 24. September 2002 C-255/00 - Grundig Italiana, Slg. 2002, I-8003, Rz. 37).

68

(b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kommt der erkennende Senat zu der Auffassung, dass § 175 Abs. 2 Satz 2 AO im Streitfall anwendbar ist.

69

Er versteht die Entscheidung des EuGH vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“) in der Weise, dass die Regelung in § 175 Abs. 2 Satz 2 AO, wonach die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung kein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO darstellt, in seinem Regelungskern unangefochten bleibt, der europarechtliche Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Regelung nur dann entgegensteht, wenn diese rückwirkend und ohne Einräumung einer Übergangsfrist verwehrt, dass europarechtlich geschützte Rechte auch verfahrensrechtlich durchgesetzt werden können (so auch: Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 175 AO Rz. 49 a.E.; Frotscher in Schwarz, AO/FGO, § 175 AO Rz. 67p; Gosch, BFH/PR 2011, 338, 340). Die Regelung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO ist nicht generell europarechtswidrig. Denn der Effektivitätsgrundsatz verbietet eine rückwirkende Anwendung einer neuen, kürzeren und ggf. für den Abgabenpflichtigen restriktiveren Frist als die vorher geltende nicht vollständig (EuGH-Urteil vom 24. September 2002 C-255/00 - Grundig Italiana, Slg. 2002, I-8003). Hierfür sprechen auch die Ausführungen des EuGH im Urteil vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“), nach dessen Inhalt es „Sache des vorlegenden Gerichts [ist], zu bestimmen, welche Frist für die Vorlage dieser Bescheinigung oder dieser Belege ist.“ Im Ergebnis muss dem Steuerpflichtigen eine angemessene Zeit eingeräumt werden, um die erforderlichen Nachweise zu erbringen.Die Übergangsfrist muss dabei so bemessen sein, dass den Abgabenpflichten, die ursprünglich der Ansicht waren, über die alte Antragsfrist zu verfügen, eine angemessene Zeit bleibt, um ihren Anspruch auf Erstattung geltend zu machen, wenn ihr Antrag bereits nach der neuen Frist verspätet ist (EuGH-Urteil vom 24. September 2002 C-255/00 - Grundig Italiana, Slg. 2002, I-8003).

70

Im Streitfall ist § 175 Abs. 2 Satz 2 AO anwendbar.

71

Zum einen hält der Senat im Interesse der Rechtssicherheit es für unangemessen, für die Vorlage der Freistellungsbescheinigung eine Übergangsfrist anzunehmen, die über die allgemeine Festsetzungsfrist von vier Jahre oder die Zahlungsverjährungsfrist von fünf Jahren hinausgeht, so dass eine Übergangszeit im Streitfall weit überschritten wäre, nachdem die Klägerin zu 1.) ihren Antrag im Jahr 2011 und damit sieben Jahre nach der Rechtsänderung im Jahr 2004 und 20 Jahre nach der Festsetzung des Steuerabzugs gem. § 50 a EStG gestellt hat. Insoweit nimmt der erkennende Senat auch Bezug auf das das Urteil des EuGH vom 24. September 2002 (C-255/00 - Grundig Italiana, Slg. 2002, I-8003), der im dortigen Fall von einer angemessenen Übergangszeit von 6 Monaten ausgegangen ist.

72

Zum anderen bleibt nach Auffassung des Senats das EuGH-Urteil vom 30. Juni 2011 (C - 262/09, BFH/NV 2011, 1467 „Meilicke II“) auch deshalb ohne Auswirkung auf den Streitfall, weil dieser - soweit er die Klägerin zu 1.) betrifft - einen innerstaatlichen Sachverhalt betrifft. Der EuGH hat die Rechtsfolge einer teilweisen Europarechtswidrigkeit des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO jedoch an den Verstoß des europarechtlichen Effektivitätsgrundsatzes geknüpft. Dieser ist nur dann verletzt, wenn der Durchsetzung von Unionsrecht – in dem vom EuGH entschiedenen Fall der Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer – inländische Vorschriften entgegenstehen. Im Fall der Klägerin zu 2.) sind jedoch keine unionsrechtlichen Vorschriften betroffen, welche durch § 175 Abs. 2 Satz 2 AO in ihrer Durchsetzbarkeit beeinträchtigt würden; vielmehr handelt es sich um einen innerstaatlichen Sachverhalt. Denn nach § 50 a Abs. 5 Sätze 1 bis 3 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und Sätze 3 und 5 und § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d EStG 1990 war die Klägerin zu 1.) verpflichtet, von der an die Klägerin zu 2.) zu zahlenden Vergütung einen Steuerabzug von 15 v.H. vorzunehmen und die einbehaltene Steuer an den Beklagten abzuführen. Ansonsten hätte sie gemäß § 50 a Abs. 5 Satz 5 EStG 1990 für die Einbehaltung und Abführung der Steuer gehaftet und wäre vom Beklagten durch Haftungsbescheid in Anspruch zu nehmen, da sie die Steuer nicht ordnungsmäßig einbehalten und abgeführt hätte (§ 73 g Abs. 1 EStDV).

73

Soweit die Klägerin zu 2.) als Vergütungsgläubigerin betroffen ist, weist der Senat darauf hin, dass der Effektivitätsgrundsatz ebenfalls nicht verletzt ist. Sieht man über den Umstand hinweg, dass die Republik Österreich erst mit dem 1. Januar 1995 - und damit Jahre später als der Steuerabzug im Streitfall - Mitglied der Europäischen Union geworden ist, ist durch die Einführung der Regelung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte für die Klägerin zu 2.) nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert worden. Denn die Klägerin zu 2.) hätte einen Anspruch aufgrund einer Steuerbefreiung im eigenständigen Erstattungsverfahren geltend machen können. Fehlt eine Freistellungsbescheinigung im Steuerabzugsverfahren, kann die Steuerbefreiung im Wege des Steuererstattungsverfahrens nach § 50 d Abs. 1 Satz 2 EStG erreicht werden (BFH-Beschluss vom 1. Dezember 1993 I R 48/93, BFH/NV 1994, 549).

74

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

 


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