Urteil vom Finanzgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 K 1040/11
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Streitig ist, ob die Voraussetzungen für einen Erlass von Steuern gegeben sind.
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Die Kläger sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1992 bis 1999 machten sie jeweils Schulgeldzahlungen für ihren Sohn zum Besuch einer Privatschule in Großbritannien als Sonderausgaben geltend. Der Beklagte ließ die Aufwendungen im Rahmen der Einkommensteuerveranlagungen nicht zum Sonderausgabenabzug zu. Die nach erfolglosem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1992 erhobene Klage wies das Finanzgericht Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 17. März 1995 (3 K 1046/94) mit der Begründung ab, Schulgeldzahlungen an Schulen im Ausland seien nicht nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 Einkommensteuergesetz -EStG- abziehbar. Die hiergegen gerichtete Revision wies der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 11. Juni 1997 (X R 74/95, BStBl II 1997, 617) zurück.
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Nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs wies das Finanzgericht Rheinland-Pfalz durch Urteile vom 24. Juni 1998 (5 K 2755/97) und 5. Juli 2000 (1 K 2074/99) die von den Klägern hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1993 bis 1997 erhobenen Klagen ebenfalls ab. Die gegen die Entscheidung des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Juli 2000 erhobene Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision verwarf der Bundesfinanzhof mit Beschluss vom 11. März 2002 (XI B 125/00) als unzulässig. Die gleichfalls eingelegten Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1998 und 1999 nahmen die Kläger im Jahr 2004 zurück.
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Im Oktober 2007 beantragten die Kläger, die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1992 bis 1999 dahingehend zu ändern, dass die geleisteten Schulgeldzahlungen gem. § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG als Sonderausgaben berücksichtigt werden. Nachdem der Beklagte den Antrag abgelehnt hatte und auch das anschließende Einspruchsverfahren ohne Erfolg geblieben war, erhoben die Kläger erneut Klage, die das Finanzgericht Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 20. Januar 2010 (1 K 1285/08) abwies. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision wies der Bundesfinanzhof durch Beschluss vom 9. Juni 2010 (X B 41/10) als unbegründet zurück.
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Im Juli 2010 beantragten die Kläger den Erlass der Einkommensteuerbeträge, soweit diese mangels Anerkennung von Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben in den Jahren 1992 bis 1999 festgesetzt worden waren. Mit Bescheid vom 23. Juli 2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab.
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Die Kläger legten hiergegen Einspruch ein und trugen zur Begründung vor, dass es zwar grundsätzlich mit dem Sinn und Zweck der Bestandskraft von Steuerbescheiden nicht zu vereinbaren sei, eine bestandskräftig festgesetzte Steuer nur deshalb zu erlassen, weil die Festsetzung im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung stehe. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Abänderung bestandskräftiger Entscheidungen rechtfertige hier jedoch eine Ausnahme. Die Dienstleistungsfreiheit in Art. 49 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft -EG- sei für die Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht. Werde durch die Entscheidung eines Mitgliedstaats dieses Recht verletzt, sei der betroffene Bürger darauf angewiesen, dass die Sache dem Europäischen Gerichtshof durch die nationalen Gerichte vorgelegt werde. Wenn dies unterbleibe, obwohl eine Vorlagepflicht bestehe, habe die Bestandskraft dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben zu weichen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts verlange in diesem Fall eine Korrektur des nationalen Rechts. Dabei gehe es nicht um eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs. Der für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständige Europäische Gerichtshof habe der Sache nach die ursprünglichen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs abgeändert. Der Bundesfinanzhof habe zwar mit Urteil vom 17. Juli 2008 (X R 62/04) seine ursprüngliche Rechtsprechung zu Art. 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG, die in ihrem Streitfall ergangen sei, abgeändert, indem er die gemeinschaftskonforme Auslegung des Europäischen Gerichtshofs übernommen habe. Dennoch liege im Streitfall insoweit keine Änderung der Rechtsprechung vor. Denn die für die Auslegung des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG maßgebliche Grundsatzentscheidung vom 11. Juni 1997 (a.a.O.) habe den streitgegenständlichen Steuerbescheid für 1992 betroffen. Nur dieser Bescheid müsse nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Kühne und Heitz (Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, HFR 2004, 488) aufgehoben oder abgeändert werden. Die anderen Steuerbescheide zu § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG seien bestandskräftig geblieben, weil die Rechtslage nach der Leitentscheidung des Bundesfinanzhofs vom 11. Juni 1997 geklärt erschienen habe.
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Durch Einspruchsentscheidung vom 10. Dezember 2010 wies der Beklagte den Einspruch zurück. Zur Begründung führte er aus, dass bestandskräftig festgesetzte Steuern nur dann im Billigkeitsverfahren gem. § 227 Abgabenordnung -AO- zu erlassen seien, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig sei und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten gewesen sei, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren rechtzeitig zu wehren. Für die Beurteilung, ob diese beiden Voraussetzungen gegeben seien, komme es nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 29. Juni 2008 (V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889) auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung und nicht auf einen späteren Zeitpunkt an. Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung stehe, rechtfertige keinen Steuererlass nach § 227 AO. Im Streitfall habe der Europäische Gerichtshof erst mit Urteilen vom 11. September 2007 (Rs. C-76/05 -Schwarz und Gootjes-Schwarz-, DStR 2007, 1670;Rs. C-318/05 -Kommission/
Deutschland-, BFH/NV 2008, Beilage 1, 14) entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG auch Schulgeldzahlungen beim Besuch ausländischer Privatschulen umfasse und daher das Gemeinschaftsrecht verletzt werde, wenn sich die Steuervergünstigung des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG auf den Besuch inländischer Privatschulen beschränke. Durch Urteil vom 17. Juli 2008 habe der Bundesfinanzhof seine ursprüngliche Rechtsprechung geändert, indem er die gemeinschaftskonforme Auslegung des Europäischen Gerichtshofs übernommen habe. Zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung des Finanzamts im Festsetzungsverfahren sei die Entscheidung des Finanzamts demnach nicht offensichtlich und eindeutig falsch gewesen. Sie habe vielmehr der damaligen Rechtslage entsprochen. Dem Vortrag der Kläger, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Abänderung bestandskräftiger Entscheidungen in ihrem Fall eine Ausnahme rechtfertige, könne nicht gefolgt werden.
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Mit der hiergegen gerichteten Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie tragen vor, in einem Billigkeitsverfahren, das die Bestandskraft der Steuerbescheide unberührt lasse, sei der Rechtsprechung in der Rechtssache Kühne und Heitz in der Weise Geltung zu verschaffen, dass eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erfolgen müsse. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beruhe auf dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben. Wenn Rechtsuchende alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, um gemeinschaftswidrige und damit rechtswidrige Entscheidungen von Behörden zu verhindern, wäre es unbillig, den nach nationalem Recht möglichen Erlass der Steuerschuld mit der Begründung zu verweigern, die Bestandskraft des Steuerbescheids stehe einer Abänderung entgegen. Die Möglichkeit der nachträglichen Abänderung der nach nationalem Recht bestandskräftigen Bescheide sei die notwendige Folge und der angemessene Ausgleich dafür, dass der Rechtsuchende nicht selbst den Europäischen Gerichtshof anrufen könne, sondern insoweit von den nationalen Gerichten abhängig sei. Der Umstand, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung stehe, rechtfertige zwar grundsätzlich keinen Steuererlass nach § 227 AO. Damit werde allerdings der Besonderheit des vorliegenden Einzelfalls nicht Rechnung getragen. Sie, die Kläger, könnten nicht mit einem Steuerpflichtigen verglichen werden, der sich nachträglich auf die Änderung der Rechtsprechung bei Schulgeldzahlungen an ausländische Privatschulen berufe. Die vom Beklagten abgelehnte Anerkennung der Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben hätten sie bereits für das Jahr 1992 angefochten, was zu der Leitentscheidung des Bundesfinanzhofs geführt habe. Weil der Bundesfinanzhof in ihrer Sache nicht nur falsch entschieden habe, indem er einen rechtswidrigen Steuerbescheid bestätigt habe, sondern darüber hinaus als letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof offensichtlich verletzt habe, könne zumindest im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung für diesen Fall die Bestandskraft der Steuerbescheide kein Grund sein, den Erlass der zu Unrecht festgesetzten Steuer zu verweigern.
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Die Kläger beantragen (vgl. Bl. 3 f., 35 Proz.-Akte),
1. „die Sache dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen zu folgender Frage: Kann die nationale Finanzbehörde in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht bei Auslegung des Gemeinschaftsrechts die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG (jetzt 267 AEUV) verletzte und die bestandskräftigen Steuerbescheide auf dieser Vertragsverletzung beruhen, sich bei einem nach nationalem Recht vorgesehenen Erlass aus Billigkeit (§ 227 AO) darauf berufen, dass die angefochtenen Steuerbescheide Bestandskraft erlangt haben?,
2. unter Aufhebung der Bescheide vom 23.7.2010 und 10.12.2010 für die Jahre 1992 - 1999 Steuerbeträge von 6.025,57 € wegen Nichtberücksichtigung von Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben zu erlassen, hilfsweise, die Revision zuzulassen".
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Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Er verweist zur Begründung im Wesentlichen auf die Ausführungen in seiner Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, es entspreche der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben solle vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall, wenn ein Steuerbescheid unanfechtbar geworden sei. Diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers sei bei der Auslegung des § 227 AO zu berücksichtigen. Im Streitfall lägen die Voraussetzungen für einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht vor. Ein Erlass sei bereits deshalb nicht möglich, weil die Festsetzung der Einkommensteuer für die Jahre 1992 bis 1999 im Zeitpunkt der Festsetzung nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig gewesen sei, sondern der damaligen Rechtslage entsprochen habe. Die zutreffende Festsetzung der Einkommensteuer durch das Finanzamt sei durch mehrere Urteile bestätigt worden. Wenn die Voraussetzungen für eine Änderung im Festsetzungsverfahren nicht vorgelegen hätten, könne dies nicht im nachfolgenden Erhebungsverfahren durch einen Erlass ausgeglichen werden.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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Das Gericht hat die Prozessakte 1 K 1285/08 zum Verfahren beigezogen. Wegen der wei-teren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorgelegten Verwaltungsakten und die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (vgl. § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung -FGO-), ist unbegründet.
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1. Zunächst war dem von den Klägern als „vorrangig“ (vgl. Bl. 35 Proz.-Akte) bezeichneten Antrag auf Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs gem. Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union -AEUV- nicht zu entsprechen.
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Unabhängig davon, dass die Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens kein förmliches Antragsrecht auf Einleitung des Vorlageverfahrens haben (vgl. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Januar 2010, 1 K 1285/08, DStRE 2011, 767 m.w.N.), ist die von den Klägern gestellte Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich. Dies folgt bereits daraus, dass sich die Finanzbehörde im Streitfall abweichend von der von den Klägern formulierten Vorlagefrage nicht auf die Bestandskraft der Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1992 bis 1999, sondern auf deren fehlende offensichtliche und eindeutige Unrichtigkeit berufen hat. Im Übrigen ist eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht erforderlich, weil sich ein Anspruch auf Erlass der Steuerforderungen auch nicht aus den Rechtsgrundsätzen ergibt, nach denen der Europäische Gerichtshof einen Anspruch auf Aufhebung einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung für gegeben hält (vgl. BFH, Urteil vom 29. Mai 2008, V R 45/06, BFH/NV 2008, 1210). Schließlich ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die Modalitäten einer Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben zu regeln (vgl. BFH, Urteil vom 16. September 2010, V R 57/09, BStBl II 2011, 151).
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2. Die Entscheidung des Beklagten, einen Erlass der für die Jahre 1992 bis 1999 festgesetzten Einkommensteuer abzulehnen, begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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a) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Falls unbillig wäre.
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Unbilligkeit kann aus sachlichen oder persönlichen Gründen gegeben sein. Sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. BFH, Urteil vom 16. November 2005, X R 3/04, BStBl II 2006, 155). In diesem Sinne muss ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers bestehen. Da es Aufgabe des Grundsatzes der Billigkeit ist, das bei richtiger Anwendung der (im konkreten Fall eventuell „unbilligen“) Steuergesetze zustande gekommene Ergebnis erforderlichenfalls zu korrigieren, ist grundsätzlich für eine Billigkeitsmaßnahme dann kein Raum, wenn nur Gründe vorgebracht werden, die die materielle Richtigkeit der Entscheidung, also die richtige Anwendung der zu Grunde liegenden steuerrechtlichen Norm, in Zweifel ziehen, somit im Rechtsbehelfsverfahren hätten vorgebracht werden müssen (Frotscher in Schwarz, Kommentar zur AO, Loseblatt, § 227 Rdnr. 5). Steuern, die bestandskräftig festgesetzt worden sind, dürfen deshalb nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren (vgl. BFH, Urteil vom 14. November 2007, II R 3/06, BFH/NV 2008, 574). Für die Beurteilung der Frage, ob die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist, kommt es auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung ("ex-ante-Betrachtung") und nicht auf einen späteren Zeitpunkt an. Denn ansonsten würde es im Belieben des Steuerpflichtigen stehen, über einen längeren Zeitraum bestandskräftige Steuerverwaltungsakte an etwaige Entwicklungen oder Änderungen der Rechtsprechung anzupassen, was mit dem Sinn und Zweck der Bestandskraft nicht in Einklang zu bringen wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2006, Rs. C-392/04 -i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG-, NVwZ 2006, 1277; BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007, 6 C 32.06, NVwZ 2007, 709). Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung steht, rechtfertigt deshalb keinen Steuererlass nach § 227 AO (vgl. BFH, Urteil vom 29. Mai 2008, V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889; FG Köln, Urteil vom 18. März 2009, 7 K 2808/07, EFG 2009, 1168; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. November 2009, 1 K 250/06, EFG 2010, 1012).
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Persönliche Billigkeitsgründe sind demgegenüber solche, die sich aus den persönlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen ergeben. Eine Billigkeitsmaßnahme aus persönlichen Gründen setzt voraus, dass der Steuerpflichtige erlassbedürftig und erlasswürdig ist. Die Erlassbedürftigkeit ist gegeben, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Dies ist dann der Fall, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann. Weitere Voraussetzung für den Erlass der Steuerschulden aus persönlichen Gründen ist die Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen. Diese ist zu verneinen, wenn der Steuerpflichtige seine mangelnde Leistungsfähigkeit grob fahrlässig selbst herbeigeführt oder durch sein Verhalten in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat.
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Bei einer Entscheidung nach § 227 AO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Finanzamts, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden. Die Entscheidung kann gerichtlich nur daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 102 FGO). Das Finanzgericht kann nur dann ausnahmsweise eine Verpflichtung des Finanzamts zum Erlass aussprechen (§ 101 FGO), wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. zur sog. Ermessensreduzierung auf Null: BFH, Urteil vom 21. Januar 1992, VIII R 51/88, BStBl II 1993, 3). Für die gerichtliche Überprüfung ist der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich. Das Gericht ist im Ermessensbereich nicht zur eigenen Ermessensausübung befugt, weil es ansonsten seine Erwägungen letztlich an die Stelle der hier allein maßgeblichen Ermessenserwägungen der Verwaltung setzen würde (vgl. BFH-Urteil vom 28. Juni 2000 X R 24/95, BStBl II 2000, 514).
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b) Danach hat der Beklagte ermessensfehlerfrei entschieden, dass im Streitfall die Voraussetzungen für einen Billigkeitserlass nicht vorliegen. Er hat hierbei zu Recht angenommen, dass eine sachliche Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO nicht gegeben ist. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass ein Erlass bereits deshalb ausscheidet, weil die bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 1992 bis 1999 im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig waren. Der Beklagte durfte bei der Festsetzung der Einkommensteuer ohne einen derartigen – für einen Erlass notwendigen – Rechtsfehler davon ausgehen, dass die von den Klägern in den Jahren 1992 bis 1999 geleisteten Schulgeldzahlungen nicht zum Sonderausgabenabzug zuzulassen sind. Wie das Finanzamt zu Recht angenommen hat, waren die Steuerfestsetzungen für die Jahre 1992 bis 1999 nicht offensichtlich und eindeutig rechtswidrig, sondern sie entsprachen der früheren herrschenden Rechtsauffassung (vgl. BFH, Urteil vom 11. Juni 1997, X R 74/95, BStBl II 1997, 617). Zu einer Änderung der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs kam es erst durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 11. September 2007 (a.a.O.). Der Beklagte hat damit aber weder bei Erlass der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre noch im Rahmen des anschließenden Einspruchsverfahrens offensichtlich und eindeutig falsche Entscheidungen getroffen. Ein Anspruch auf Erlass der Einkommensteuer ergibt sich auch nicht aus den Rechtsgrundsätzen, nach denen der Europäische Gerichtshof ausnahmsweise einen Anspruch auf Aufhebung einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung für gegeben hält. Denn die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor (vgl. hierzu im Einzelnen FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Januar 2010, a.a.O.).
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Abgesehen hiervon ist nach den dargestellten Maßstäben im Streitfall auch kein ungewollt über die Wertungen des Gesetzgebers hinausgehender Überhang des gesetzliches Tatbestands über eine mit Sinn und Zweck des Steuergesetzes zu vereinbarende Regelung feststellbar. Lediglich Umstände, die bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestands nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden können, die sich aber als Verstöße gegen fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien erweisen, rechtfertigen insoweit einen Erlass. Dass im Streitfall nur durch eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO ein vom Steuergesetz gedecktes, aber vom Gesetzgeber nicht gewolltes Ergebnis vermieden werden kann, ist jedoch nicht ersichtlich. Schließlich ist es gleichfalls nicht zu beanstanden, dass der Beklagte einen Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen abgelehnt hat. Auch im Klageverfahren haben die Kläger keine Umstände geltend gemacht, die zu einer Erlassbedürftigkeit führen können.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.
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