Urteil vom Finanzgericht Rheinland-Pfalz (2. Senat) - 2 K 2487/16

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Tenor

I. Der Bescheid wegen Aufhebung und Rückforderung des Kindergeldes für Dezember 2014 bis Mai 2015 vom 7. November 2016 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 2016 wird aufgehoben, sowie unter Aufhebung des weiteren Bescheides vom 7. November 2016 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 2016 wird die Beklagte verpflichtet für den Zeitraum Juli 2015 bis September 2016 Kindergeld festzusetzen und zu leisten.

II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

III. Das Urteil ist wegen der von der Beklagten zu tragenden Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Klägerin für ihre Tochter trotz deren dauerhafter Erkrankung ein Anspruch auf Kindergeld zusteht.

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In der Vergangenheit bezog die Klägerin für ihre am 26. Januar 1994 geborene Tochter D. H. Kindergeld. Vom März 2014 bis November 2016 sollte die Tochter eine erste Ausbildung bei einer staatlich anerkannten Berufsfachschule für Mode durchlaufen. Entsprechend beantragte die Klägerin am 4. März 2014 Kindergeld. Mit Bescheid vom 12. März 2014 wurde demgemäß Kindergeld bis November 2016 festgesetzt. Am 28. April 2015 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass die Tochter zum 31. März 2015 ihre Ausbildung habe krankheitsbedingt abbrechen müssen. Die Klägerin legte hierzu eine Bestätigung des Ausbildungsbetriebs vom 10. Dezember 2014 vor, aus dem hervorgeht, dass das Ausbildungsverhältnis zum 31. März 2015 ende, sowie ein Attest einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie vom 8. Dezember 2014, in dem diese ausführt, dass die Tochter aus Krankheitsgründen nicht am Schulbesuch teilnehmen könne und es derzeit nicht absehbar sei, wann die Wiederaufnahme des Schulbesuchs möglich werde.

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Mit Schreiben vom 30. Juni 2015 forderte die Beklagte die Klägerin auf, ein amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung des medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung über die voraussichtliche Dauer der Erkrankung vorzulegen. Aus der Bescheinigung sollte auch erkennbar werden, dass die Ausbildung aufgrund Erkrankung unterbrochen worden sei. Das Kind solle erklären, dass es beabsichtige, die Ausbildung zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Beendigung der Erkrankung aufzunehmen oder fortzusetzen.

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Nach Angaben der Klägerin ließ sie dieses Schreiben unbeantwortet, da zu dem Zeitpunkt keine ärztliche Diagnose vorhanden gewesen sei. Die ein erstes Beratungsgespräch führende Ärztin habe mangels Spezialisierung die Tochter nicht weiter behandeln können. Erfolglos absolvierte die Tochter vom 30. Juli 2015 bis 19. November 2015 eine ärztliche Behandlung bei einer Allgemeinmedizinerin. Ab dem 15. Dezember 2015 stand für die Tochter ein geeigneter Therapieplatz bei einer Diplom-Psychologin zur Verfügung.

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Ab Juli 2015 stellte die Beklagte die Kindergeldzahlungen ohne Übersendung eines Aufhebungsbescheides ein.

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Mit einem Schreiben vom 13. September 2016 beantragte die Klägerin Kindergeld rückwirkend seit dem 1. Juli 2015 unter Vorlage eines Attestes der (die Behandlung vom Juli 2015 bis November 2015 durchführenden) Ärztin. Darin teilte die Klägerin mit, dass ihre Tochter nunmehr einen Termin beim Amtsarzt wahrnehmen könne, die Beklagte solle mitteilen, ob dies nötig und in S möglich sei. Die Tochter werde sich nach ihrer Therapie bzw. der Genesung schnellstmöglich um ein Studium oder einen Ausbildungsplatz bemühen. Mit Schreiben vom 20. September 2016 bat die Beklagte wiederum um eine Übersendung eines amtsärztlichen Gutachtens oder eines medizinischen Dienstes sowie um eine Erklärung des Kindes, dass es seine Ausbildung fortzusetzen gedenke. Mit Bescheinigung vom 12. Oktober 2016 teilte die Amtsärztin der Kreisverwaltung mit, dass die Tochter sich am 12. Oktober 2016 zur amtsärztlichen Untersuchung vorgestellt habe. Ein aussagefähiger Befund der behandelnden Therapeuten habe vorgelegen und sei berücksichtigt worden. Bei der Tochter liege eine Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis mit notwendiger fachärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung vor. Aus amtsärztlicher Sicht sei nachvollziehbar, dass aus diesen gesundheitlichen Gründen die Ausbildung im November 2014 haben unterbrochen werden müssen und bis auf weiteres nicht fortgeführt werden könne. Wann die Ausbildung fortgesetzt werden könne, hänge vom Krankheits- und Therapieverlauf ab. Eine Nachuntersuchung in einem Jahr werde empfohlen.

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Mit Schreiben vom 17. Oktober 2016, unterschrieben auch von der Tochter, teilte die Klägerin mit, dass das Kind voraussichtlich in 2017 eine Ausbildung oder Studium aufzunehmen bzw. fortzusetzen gedenke.

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Mit Bescheid vom 7. November 2016 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kindergeld ab dem Juli 2016 ab, da für die Entscheidung über den Kindergeldanspruch die notwendigen Unterlagen nicht eingereicht worden seien. Mit einem weiteren Bescheid vom gleichen Tag hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes ab dem Monat Dezember 2014 auf und forderte die Rückzahlung des ausgezahlten Kindergeldes für Dezember 2014 bis Juni 2015 in Höhe von 1.312 €, da die Tochter die Schulausbildung abgebrochen habe.

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Gegen beide Bescheide legte die Klägerin Einspruch ein.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 2016 wurde Einsprüche als unbegründet zurückgewiesen. Von Dezember 2014 bis September 2016 hätten die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung nicht vorgelegen bzw. seien nicht nachgewiesen worden. Erst im Oktober 2016 sei eine Willenserklärung zur Aufnahme einer Ausbildung vorgelegt worden. Sei die Berufsausbildung wegen Erkrankung unterbrochen worden, könne das Kind bis zum vollendeten 25. Lebensjahres berücksichtigt werden, wenn die Erkrankung durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesen sei. Bei einer Erkrankung von mehr als 6 Monaten sei nach einer Vorlage eines amtsärztlichen Attests zu entscheiden, ob das Kind noch berücksichtigt werden könne. Dies setze die Erwartung voraus, dass die Berufsausbildung in absehbarer Zeit fortgesetzt werden könne.

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Mit ihrer Klage hiergegen trägt die Klägerin vor, sie habe die Aufforderung der Beklagten vom 30. Juni 2015 unbeantwortet gelassen, da zu diesem Zeitpunkt keine ärztliche Diagnose vorhanden gewesen sei. Die behandelnde Ärztin habe mangels Spezialisierung die Tochter nicht weiter behandeln können. Diese sei wegen ihrer später festgestellten Agoraphobie mit Panikstörungen nicht in der Lage gewesen das Haus zu verlassen. Es habe die Gefahr einer Depression bestanden. Eine Therapie vom Juli 2015 bis November 2015 sei ohne Erfolg geblieben, erst nach einem halben Jahr Wartezeit habe die Tochter am 15. Dezember 2015 einen geeigneten Therapieplatz bei einer Diplom-Psychologin erhalten. Bis dahin seien Versuche, einen Therapieplatz zu finden, fehlgeschlagen. Mit ihrem Antrag auf Kindergeld vom 13. September 2016 sei die Klägerin erstmals in der Lage gewesen, geeignete Informationen und Bescheinigungen einzureichen. Ein von ihr beantragter amtsärztlicher Termin habe von der Tochter erstmals wahrgenommen werden können. Sie habe auch erklärt, dass ihre Tochter nach der Genesung sich schnellstmöglich um einen Studien- oder Ausbildungsplatz bemühe. Am 12. Oktober 2016 habe die Amtsärztin die Erkrankung festgestellt und ausgeführt, dass derzeit nicht absehbar sei, wann eine Ausbildung fortgesetzt werden könne.

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Für den Zeitraum Dezember 2014 bis März 2015 habe ein Beschäftigungsverhältnis vorgelegen. Erst ab April 2014 sei dies wegen der Erkrankung nicht mehr der Fall gewesen. Eine Unterbrechung der Ausbildung infolge Erkrankung sei grundsätzlich unschädlich, da das Kind in solchen Fällen den Willen habe, sich der Ausbildung zu unterziehen, aber aus objektiven Gründen daran gehindert sei. Sofern die Beklagte in ihrer Einspruchsentscheidung vorgebe, dass weder eine ärztliche Bescheinigung noch eine Willenserklärung zur Aufnahme der Ausbildung abgegeben worden sei, verkenne sie, dass die Abgabe einer solchen Willenserklärung zum geforderten Zeitpunkt am 30. Juni 2015 schlichtweg nicht möglich gewesen sei. Bereits am 28. Mai 2015 sei eine ärztliche Bescheinigung übersandt worden. Da die Tochter trotz intensiver Bemühungen zu diesem Zeitpunkt noch keinen Verhaltenstherapieplatz gehabt habe, habe am 30. Juni 2015 kein voraussichtlicher Zeitpunkt für die Aufnahme der Ausbildung benannt werden können. Zum damaligen Zeitpunkt sei nicht bekannt gewesen, an welcher Erkrankung die Tochter leide. Demzufolge habe eine geeignete Therapie zunächst nicht eingeleitet werden können. Mit der Versagung des Kindergeldes werde die Klägerin dafür bestraft, dass ihr Kind erkrankt sei und ein geeigneter Therapieplatz nicht zur Verfügung gestanden habe. Die Klägerin habe alles dafür getan, dass ihre Tochter schnellstmöglich gesund werde und die Ausbildung fortsetzen könne.

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Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 7. November 2016 wegen Aufhebung und Rückforderung des Kindergeldes für Dezember 2014 bis Juni 2015 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 2016 aufzuheben, sowie unter Aufhebung des weiteren Bescheides vom 7. November 2016 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 2016 für die Zeit Juli 2015 bis September 2016 Kindergeld festzusetzen und zu leisten.

14

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

15

Sie verweist auf ihre Einspruchsentscheidung und trägt zusätzlich vor, am 28. April 2015 habe die Klägerin sie darüber informiert, dass die Tochter die Ausbildung zum 31. März 2015 krankheitsbedingt abgebrochen habe. Beigefügt habe sie ein Attest der behandelnden Ärztin vom 8. Dezember 2014, wonach das Kind nicht am Schulbesuch habe teilnehmen können. Aus dem Schreiben der Berufsfachschule vom 10. Dezember 2014  gehe hervor, dass die Tochter sich bereits am 7. Dezember 2014 von der Schule abgemeldet habe. Bereits zu diesem Zeitpunkt hätte die Klägerin die Beklagte über den Abbruch der Ausbildung informieren müssen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

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Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) wird ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen beim Kindergeldberechtigten berücksichtigt, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird. Der Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG stellt nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02 (BStBl II 2003, 848) nicht auf das formale Weiterbestehen eines Ausbildungsverhältnisses ab, sondern darauf, dass auf die Ausbildung gerichtete Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden.

18

Nach diesem Urteil gibt es aber von diesem Grundsatz Ausnahmen. Danach ist eine Unterbrechung der Ausbildung infolge Erkrankung oder Mutterschaft grundsätzlich unschädlich (ebenso Abschnitt 63.3.2.7 Abs. 1, 3 der Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes -DA-FamEStG-). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass das Kind in solchen Fällen den Willen hat, sich der Ausbildung zu unterziehen, aber aus objektiven Gründen -wegen Erkrankung oder wegen des Beschäftigungsverbots nach dem Gesetz zum Schutze der erwerbstätigen Mutter- daran gehindert ist, weil ihm die Durchführung der Ausbildungsmaßnahme nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Hat ein Kind einen Ausbildungsplatz und ist ausbildungswillig, aus objektiven Gründen aber zeitweise nicht in der Lage, die Ausbildung fortzusetzen, ist es ebenso zu behandeln wie ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG zu berücksichtigen ist.

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Entgegen der Auffassung der Familienkasse und entgegen Abschnitt 63.3.2.6 Abs. 10 DA-FamEStG rechtfertigen diese Erwägungen es auch, ein Kind -ebenso wie im Falle einer Erkrankung (Abschnitt 63.3.2.7 Abs. 1 DA-FamEStG)- weiterhin als in Ausbildung befindlich i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG zu behandeln, wenn es in Untersuchungshaft genommen oder wegen eines laufenden Strafverfahrens im Ausland nicht ausreisen darf und deshalb eine begonnene Ausbildung nicht fortsetzen kann. Auch in solchen Fällen beruht der Umstand, dass die Ausbildung vorübergehend unterbrochen ist, nicht auf dem Willen des Kindes. Dies gilt nach Auffassung des Gerichtes zumindest für den Fall, dass eine Untersuchungshaft nicht zu einer Verurteilung führt (so bestätigt durch BFH-Urteil vom 23. Januar 2013, XI R 50/10, BStBl II 2014, 300).

20

Ausgehend von diesen Grundsätzen war D krankheitsbedingt objektiv gehindert, ihre Ausbildung fortzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie während der ersten Phase der Erkrankung von Dezember 2014 bis März 2015 sich noch formal in einem Ausbildungsverhältnis befand. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat sie diese Ausbildung im November 2014 nicht (aus freiem Willen) abgebrochen, sondern krankheitsbedingt nicht fortsetzen können. Im Übrigen erfolgte der Versuch einer Kündigung des Ausbildungsverhältnisses mit Rücksicht darauf, dass monatlich 370 € Schulgebühren zu leisten gewesen sind. Die Aufgabe einer Ausbildungswilligkeit zum 31. März 2015 ist daher aus diesem Umstand nicht abzuleiten. Allein das objektive Unvermögen, wegen der Erkrankung am Unterricht teilzunehmen, war hierfür der Grund.

21

Auch für die nachfolgenden Zeiträume bis September 2016 geht das Gericht davon aus, dass D jederzeit gedachte, ihre Ausbildung wieder fortzusetzen, sobald sie hierzu gesundheitlich in der Lage war. Allein ihr krankheitsbedingt objektives Unvermögen stand dem entgegen. Das Gericht erkennt insbesondere die Vergleichbarkeit des Streitfalls mit den Sachverhalten in den zitierten BFH-Urteilen bei einer (letztlich ungerechtfertigten) Untersuchungshaft, dass in beiden Fällen der Umstand, dass die Ausbildung vorübergehend unterbrochen war, nicht auf dem Willen des Kindes beruht hat. Aus den Gründen der Urteile wird gerade nicht ersichtlich, dass ein formal fortgesetztes Ausbildungsverhältnis vorliegen muss, dass lediglich tatsächlich unterbrochen wurde.

22

Im Streitfall sind auch keine anderen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, dass die Klägerin bzw. ihre Tochter erst mit Schreiben vom 17. Oktober 2016 mitgeteilt haben, dass die Tochter beabsichtige, eine Ausbildung oder Studium wiederaufzunehmen, konkret im Streitfall im Jahr 2017. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Tochter wegen ihrer Erkrankung die Absicht aufgegeben haben könnte, ihre Ausbildung nach ihrer Genesung fortzusetzen. Auch die Beklagte geht hiervon nicht aus, soweit sie allein aus der schriftlichen Äußerung der Tochter vom 17. Oktober 2016 die Schlussfolgerung gezogen hat, ab Oktober 2016 wieder Kindergeld zu leisten. Ab diesem Zeitpunkt bewertete sie daher den Sachverhalt in gleicher Weise wie die vorliegende Entscheidung für den streitigen Zeitraum.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

24

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151,155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nummer 10, 713 ZPO.

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