Beschluss vom Landesarbeitsgericht Köln - 9 TaBV 26/21
Tenor
Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Köln vom 29.06.2021 – 11 BV 154/21 – abgeändert.
Die Anträge werden zurückgewiesen.
1
G r ü n d e
2I.
3Die Beteiligten streiten über die Einsetzung einer Einigungsstelle bezüglich der Beschwerde einer Arbeitnehmerin.
4Die Arbeitgeberin ist eine Gesellschaft der I Gruppe, einem großen Anbieter der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit. Frau B ist die Bürokraft des Betriebsrats. Mit Schreiben vom 24.06. 2020 mahnte die Arbeitgeberin Frau B ab, weil sie ihre Arbeitsunfähigkeit am 15.06.2020 lediglich dem Betriebsratsvorsitzenden, nicht aber der Personalabteilung angezeigt hatte.
5Mit Schreiben vom 02.07.2022 wandte sich der Betriebsratsvorsitzende an den Personalleiter der Arbeitgeberin mit der Forderung, die Abmahnung sofort zurückzunehmen, da sich Frau B an ihre Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag gehalten und ihn, den Betriebsratsvorsitzenden, bereits am 14.06.2020 um 20:00 Uhr per E-Mail mitgeteilt habe, dass sie am nächsten Morgen zum Arzt gehe. In der Folgezeit korrespondierten die Beteiligten und ihre Bevollmächtigten weiter zu dem Thema.
6Mit Schreiben vom 09.03.2021 beschwerte sich Frau B bei dem Betriebsrat darüber, dass sie sich durch die Arbeitgeberin ungerecht behandelt und beeinträchtigt fühle, da sie im Falle einer Erkrankung die Personalabteilung vor Dienstbeginn über ihre Erkrankung zu unterrichten habe. So müsse sie in einer Situation, in der sie ohnehin bereits gesundheitlich beeinträchtigt sei, zwei Stellen im Betrieb kontaktieren. Denn den Betriebsratsvorsitzenden habe sie in jedem Fall zu informieren, da er die Arbeit im Betriebsratsbüro erforderlichenfalls umorganisieren müsse.
7Der Betriebsrat beschloss in seiner Sitzung vom 09.03.2021, die Beschwerde von Frau B für berechtigt zu erachten, sowie in seiner Sitzung vom 04.05.2021, die Einigungsstelle anzurufen.
8Der Betriebsrat hat beantragt,
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1. zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Beschwerde der Frau M B vom 09.03.2021“ Herrn Direktor des Arbeitsgerichts Ka. D. F T zu bestellen;
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2. die Anzahl der Beisitzer auf zwei je Seite festzusetzen.
Die Arbeitgeberin hat beantragt,
14die Anträge abzuweisen.
15Sie hat die Ansicht vertreten, dass die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig sei, da sie einen Rechtsanspruch der Arbeitnehmerin zum Gegenstand habe. In Wirklichkeit gehe es dem Betriebsrat weniger um die erst acht Monate nach der Abmahnung gefertigte schriftliche Beschwerde der Frau B , sondern um die Rechtsposition des Betriebsratsvorsitzenden als ihrem Vorgesetzten. Frau B werde durch die Anweisung, ihre Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Personalabteilung anzuzeigen, nicht doppelt belastet. Denn die Personalabteilung würde die Krankmeldung selbstverständlich an den Betriebsratsvorsitzenden weiterleiten. Mit einer Bestellung von Herrn T zum Einigungsstellenvorsitzenden sei sie nicht einverstanden.
16Das Arbeitsgericht hat mit einem am 29.06.2021 verkündeten Beschluss den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts B a.D. Dr. H E zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Beschwerde der Frau M B vom 09.03.2021“ bestellt und die Anzahl der Beisitzer für jede Seite auf zwei festgesetzt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bestellungsvoraussetzungen des § 85Abs. 2 BetrVG erfüllt seien. Der Betriebsrat habe die Beschwerde einer Arbeitnehmerin entgegengenommen und für berechtigt erklärt. Die Arbeitgeberin habe der Beschwerde nicht abgeholfen. Der Bestellung der Einigungsstelle stehe nicht der Rechtsansprüche betreffende Ausnahmetatbestand des § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG entgegen. Zwar betreffe die Anweisung, sich im Krankheitsfall bei zwei Stellen melden zu müssen, die Frage, ob die Ausübung des Direktionsrechts durch die Arbeitgeberin rechtmäßig sei. Zur Vermeidung eines Leerlaufs des Mitbestimmungsrechts nach§ 85 BetrVG sei der Ausnahmetatbestand jedoch nach Auffassung von Teilen der Rechtsprechung aber dann eingeschränkt auszulegen, wenn Gegenstand der Beschwerde ein Anspruch sei, der auf regelmäßig nur schwer konkretisierbaren Pflichten des Arbeitgebers beruhe, wie dies etwa bei der Fürsorgepflicht, dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Direktionsrecht der Fall sei. Insoweit handele es sich um Rechtsansprüche im weiteren Sinne, die nur schwer justiziabel seien und mit denen regelmäßig auch nicht justiziable Regelungsfragen angesprochen würden, die nicht selten innerbetrieblich sinnvoller geregelt und geschlichtet werden könnten. Aufgrund dieser in der Rechtsprechung nicht nur vereinzelt vertretenen Auffassung fehle es vorliegend an der Voraussetzung, dass an der Unzuständigkeit der Einigungsstelle keine rechtlichen Zweifel möglich seien.
17Der Beschluss ist der Arbeitgeberin am 05.07.2021 zugestellt worden. Ihre dagegen gerichtete Beschwerde ist am 14.07.2021 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen und zugleich begründet worden.
18Die Arbeitgeberin hält die Einigungsstelle nach wie vor für offenkundig unzuständig. Bei der Beschwerde gehe es einzig um die Rechtsfrage, ob sie, die Arbeitgeberin, Frau B habe anweisen dürfen, sich im Krankheitsfall vor Dienstbeginn bei der Personalabteilung zu melden.
19Die Arbeitgeberin beantragt,
20den Beschluss des Arbeitsgerichts Köln vom 29.06.2021– 11 BV 154/21 aufzuheben und die Anträge des Antragstellers zurückzuweisen.
21Der Betriebsrat beantragt,
22die Beschwerde zurückzuweisen.
23Er verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Frau B mache mit ihrer Beschwerde - so seine Ansicht - nicht geltend, dass die Arbeitgeberin ihr keine Weisung betreffend die Anzeige ihrer Arbeitsunfähigkeit habe erteilen dürfen. Vielmehr mache sie geltend, sich durch die Auswirkung der Weisung, eine Arbeitsunfähigkeit der Personalabteilung vor Arbeitsbeginn anzeigen zu müssen, beeinträchtigt zu fühlen. Dies betrachte sie als ungerechte Behandlung.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses, die im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Unterlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
25II.
26Die Beschwerde der Arbeitgeberin ist begründet. Die Einigungsstelle ist für die Behandlung der Beschwerde von Frau B offensichtlich unzuständig iSd. § 100 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Denn Gegenstand ihrer Beschwerde ist ein Rechtsanspruch, den die Einigungsstelle gemäß § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG nicht behandeln darf.
271.) Nach § 85 Abs. 2 Satz 1 BetrVG kann ein Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen, wenn zwischen ihm und dem Arbeitgeber Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung der Beschwerde eines Arbeitnehmers bestehen. Sinn und Zweck dieses Einigungsstellenverfahrens bestehen in der Eröffnung eines Wegs zur Beilegung eines betrieblichen Regelungskonflikts. Hat ein Arbeitnehmer die Veränderung eines ihn beeinträchtigenden betrieblichen Zustands angemahnt, soll mit dem Einigungsstellenverfahren eine zusätzliche Überprüfung der Berechtigung der Beschwerde durch eine dritte Stelle ermöglicht werden. Im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat legt der Spruch der Einigungsstelle die Meinungsverschiedenheit bei (BT-Drs. VI/1786, S. 48). Stellt die Einigungsstelle die Berechtigung der Beschwerde fest, wird der Arbeitgeber zum Ergreifen geeigneter Abhilfemaßnahmen verpflichtet. Darin besteht die Konfliktlösung durch die Einigungsstelle (BAG, Beschluss vom 22. November 2005 – 1 ABR 50/04 –, BAGE 116, 235-245, Rn. 40). Dies kann jedoch aus rechtsstaatlichen Gründen nicht in den Fällen gelten, in denen eine Beschwerde eine rechtliche Auseinandersetzung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zum Gegenstand hat. Denn in einem solchen Fall darf weder dem Arbeitgeber noch dem Arbeitnehmer der Rechtsweg abgeschnitten werden (BT-Drs. VI/1786, S. 48; GK/Franzen, 11. Aufl. 2018,§ 85 BetrVG, Rn. 10). Zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen dient allein der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen (BAG, Beschluss vom 22. November 2005 – 1 ABR 50/04 –, BAGE 116, 235-245, Rn. 38).
282.) Die Beschwerde der Frau B hat einen Rechtsanspruch zum Gegenstand.
29a) Der Begriff des Rechtsanspruchs im Sinne des § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG beschreibt die Möglichkeit des einzelnen Arbeitnehmers, sein Petitum gegebenenfalls im Wege des arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahrens gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen. Dadurch unterscheiden sich Rechtsansprüche von rein tatsächlichen Beeinträchtigungen.
30b) Mit ihrer Beschwerde macht Frau B geltend, dass es ausreichen müsse, wenn sie in einer gesundheitlich angegriffenen Situation ihren direkten Vorgesetzten vor Dienstbeginn informiere und dass sie der Anweisung der Arbeitgeberin zukünftig nicht mehr nachkommen möchte. Damit macht sie nicht nur geltend, sich durch die Anweisung rein tatsächlich beeinträchtigt zu fühlen. Sie möchte vielmehr, dass der Arbeitgeberin wenigstens zukünftig die Befugnis genommen wird, ihr entsprechende Verpflichtungen bei Arbeitsunfähigkeit aufzuerlegen und sie wegen Nichtbefolgung der Anweisung abzumahnen. Das ist der Kern ihres Anliegens. Sähe man darin, wie der Betriebsrat, nicht die Geltendmachung eines Rechtsanspruchs, hätte dies zur Folge, dass die Einigungsstelle gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 BetrVG ggf. gegen die Stimme der Arbeitgeberin bindend festlegen könnte, dass sich Frau B im Falle ihrer Erkrankung nicht vor Dienstbeginn bei der von der Arbeitgeberin benannten Stelle melden müsse. Damit würde das von der Arbeitgeberin für sich in Anspruch genommene und ihr von Rechtsprechung und Literatur zugewiesene Recht, diese Stelle bestimmen zu können (etwa BAG, Urteil vom 07. Mai 2020 – 2 AZR 619/19 –, Rn. 19, juris; BeckOK ArbR/Ricken, 60. Ed. 1.6.2021 Rn. 4, § 5 EFZG, Rn. 4; Schmitt/Küfner-Schmitt, 8. Aufl. 2018, § 5 EFZG, Rn. 36; Feichtinger/Malkmus, Entgeltfortzahlungsrecht, § 5 EFZG, Rn. 14, beck-online) ausgeschlossen. Auch die Frage, ob die Arbeitsunfähigkeit vor Dienstbeginn angezeigt werden muss oder ob eine Anzeige in den ersten Arbeitsstunden noch „unverzüglich“ iSv. § 5 Abs. 1Satz 1 EFZG ist, wäre einer gerichtlichen Überprüfung entzogen. Denn der Spruch der Einigungsstelle würde gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 BetrVG die Meinungsverschiedenheit der Beteiligten über die Beschwerde der Frau B beilegen. Er hätte zwar keine normative Wirkung, würde aber die Arbeitgeberin gegenüber dem Betriebsrat binden (vgl. Dütz, DB 1972, 383, 387). Sie dürfte gegenüber Frau B ggf. auch in einem Rechtsstreit nicht mehr auf ihrem Rechtsstandpunkt beharren, ohne betriebsverfassungswidrig zu handeln. Dies würde dem Zweck des § 85 Abs. 2Satz 3 BetrVG, aus rechtsstaatlichen Gründen weder dem Arbeitgeber noch dem Arbeitnehmer den Rechtsweg abzuschneiden (BT-Drs. VI/1786, S. 48), zuwiderlaufen.
31c) Dass Gegenstand der Beschwerde ein Rechtsanspruch ist, hat auch das Arbeitsgericht gesehen. Entgegen der vom Arbeitsgericht vertretenen Ansicht ist dem Betriebsrat bereits damit die Anrufung der Einigungsstelle verwehrt. Dies gilt unabhängig davon, ob der Rechtsanspruch „schwer konkretisierbar“ ist oder nicht.
32aa) Die Auffassung, der Begriff des Rechtsanspruchs iSv. § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG sei einschränkend auszulegen, damit das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 85 BetrVG nicht leerlaufe (etwa LAG Hessen, Beschluss vom 16. Mai 2017 – 4 TaBV 75/17 –, Rn. 14, juris; LAG Hessen, Beschluss vom 03. März 2009– 4 TaBV 14/09 –, Rn. 19, juris), berücksichtigt nicht nur unzureichend Sinn und Zweck der Ausschlussnorm, sondern verwischt zudem die Grenzen der gerichtlichen Überprüfung (Steffan, RdA 2015, 270, 271). Denn ob Arbeitgeberpflichten „schwer konkretisierbar“ sind, lässt sich regelmäßig nicht an Hand objektiver Kriterien ermitteln, sondern hängt weitgehend von der subjektiven Einschätzung des Gerichts ab (auf gl. Linie WPK/Preis, 4. Aufl. 2009, § 85 BetrVG, Rn. 13).
33bb) Hinzu kommt die Gefahr einer Durchbrechung der gesetzlichen Mitbestimmungsordnung in den Fällen, in denen der Betriebsrat lediglich eingeschränkt zu beteiligen ist. Könnte etwa eine in Ausübung des Direktionsrechts ausgesprochene Versetzung Gegenstand einer Beschwerde iSd. § 85 BetrVG und Gegenstand eines Einigungsstellenverfahrens sein, würde die in § 99 BetrVG enthaltene Beschränkung des Beteiligungsrechts auf ein Zustimmungsverweigerungsrecht schlichtweg umgangen (Richardi/Thüsing, 16. Aufl. 2018, § 85 BetrVG, Rn. 30; Steffan, RdA 2015, 270, 271 f.).
34cc) Eine Regelung von Rechtsansprüchen durch die Einigungsstelle widerspricht schließlich der Systematik der Betriebsverfassung. Denn ihre Schlichtungsfunktion entfaltet die betriebliche Einigungsstelle gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 BetrVG primär bei Regelungsstreitigkeiten zwischen den Betriebspartnern (GK/Jacobs, 11. Aufl. 2018, § 76 BetrVG, Rn. 9). Dahinter steht der im Betriebsverfassungsrecht geltende Grundsatz, dass „Rechtsansprüche vor die Arbeitsgerichte gehören und Regelungsansprüche vor die Einigungsstelle“ (Steffan, RdA 2015, 270). Nur ausnahmsweise, und zwar im Wesentlichen in den Fällen, in denen es um eigene Rechte eines betriebsverfassungsrechtlichen Organs geht (etwa bei § 37 Abs. Abs. 6 und 7 BetrVG, § 38 Abs. 2 BetrVG, § 47 Abs. 6 BetrVG, § 109 Satz 2 BetrVG), weist das Betriebsverfassungsgesetz der Einigungsstelle Rechtsfragen zur Entscheidung zu. Im Übrigen können Rechtsfragen nur Regelungsgegenstand eines freiwilligen Einigungsstellenverfahrens nach § 76 Abs. 6 BetrVG sein, wobei eine Einigung zwischen den Betriebspartnern zu ihrer Wirksamkeit stets voraussetzt, dass die Betriebspartner hinsichtlich des umstrittenen Rechts verfügungsbefugt sind (BAG, Beschluss vom 20. November 1990 – 1 ABR 45/89 –, BAGE 66, 243-257, Rn. 54), was bei dem Betriebsrat in der individualrechtlichen Auseinandersetzung zwischen Frau B und der Arbeitgeberin auf Seiten des Betriebsrats nicht der Fall ist.
35d) Will man nicht Rechtsdurchsetzungsansprüche der Arbeitsvertragsparteien beschneiden, nicht die Gefahr einer Durchbrechung der betrieblichen Mitbestimmungsordnung hinnehmen und nicht entgegen dem Willen des Gesetzgebers Rechtsfragen in Regelungsfragen umdeuten, ist § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG streng auszulegen. Bei einer justiziablen Angelegenheit scheidet die Anrufung der Einigungsstelle aus. Das gilt unabhängig davon ob die Beschwerde dem Arbeitgeber Spielraum für eine Abhilfeentscheidung lässt oder nicht (GK/Franzen, 11. Aufl. 2018, § 85 BetrVG, Rn. 11; aA. WPK/Preis, 4. Aufl. 2009, § 85 BetrVG, Rn. 13). Denn bei einer Maßnahme, die in Ausübung eines Arbeitgeberrechts erfolgt, kann ein Spielraum für eine Abhilfe nur dann entstehen, wenn der Arbeitgeber seinen (vermeintlichen) Rechtsanspruch aufgibt (dazu LAG Sachsen, Beschluss vom 06. Februar 2004 – 3 TaBV 33/03 –, Rn. 38, juris). Gerade das will § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG aber verhindern.
363.) Die Unzuständigkeit der Einigungsstelle für die Behandlung der Beschwerde von Frau B ist „offensichtlich“ iSd. § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, weil die Beschwerde ohne Weiteres erkennbar eine streitige und justiziable Rechtsfrage zwischen Frau B und der Arbeitgeberin betrifft.
37a) Die Frage, ob die Beschwerde eines Arbeitnehmers offenkundig einen Rechtsanspruch zum Gegenstand hat, kann nicht mit dem Hinweis auf unterschiedliche Auffassungen zur Auslegung des § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG der Beantwortung durch die Einigungsstelle überlassen werden, sondern muss bereits im Bestellungsverfahren entschieden werden. § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG schließt nicht nur die Verbindlichkeit des Spruchs der Einigungsstelle aus, wenn mit der Beschwerde des Arbeitnehmers ein Rechtsanspruch geltend gemacht wurde, sondern führt bereits zur offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle (LAG München, Beschluss vom 06. März 1997 – 4 TaBV 3/97 –, Rn. 20, juris). Eine gerichtliche Einsetzung kommt nicht in Betracht. Auch wenn die Einigungsstelle ihre Zuständigkeit selbst zu prüfen hat (dazu BAG, Beschluss vom 22. Oktober 1981 – 6 ABR 69/79 –, BAGE 36, 385-392, Rn. 19), ist es nicht ihre Aufgabe, im Verfahren nach § 85 BetrVG als Gutachter darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers gegeben oder offenkundig zu verneinen sind (LAG Hamm, Beschluss vom 03. Mai 2016 – 7 TaBV 29/16 –, Rn. 39, juris; Steffan, RdA 2015, 270; auf gl. Linie GK/Franzen, 11. Aufl. 2018, § 85 BetrVG, Rn. 10). Etwas anderes kann allenfalls in besonderen Ausnahmefällen gelten, etwa dann, wenn die Qualifizierung des Beschwerdegegenstands auf Grund streitiger Umstände in dem auf Beschleunigung angelegten Verfahren nach § 100 ArbGG nicht in angemessener Zeit geklärt werden kann (zur Problematik vgl. LAG Köln, Beschluss vom 05. Dezember 2001 – 7 TaBV 71/01 –, Rn. 19, juris). Im hier vorliegenden Fall sind die maßgeblichen tatsächlichen Umstände jedoch überschaubar und unstreitig.
38b) Die Frage, ob die Arbeitgeberin die Personalabteilung als Adressaten einer Arbeitsunfähigkeitsanzeige benennen darf, ist problemlos justiziabel. Dasselbe gilt für den Zeitpunkt der Anzeige. Selbst nach der Rechtsprechung, die im Rahmen des § 85 Abs. 2 BetrVG eine Zuständigkeit der Einigungsstelle für Rechtsfragen nicht völlig ausschließen will, läge hier kein Fall vor, der im Rahmen eines Einigungsstellenverfahrens sinnvoller geregelt und geschlichtet werden könnte. Denn ein Arbeitnehmer kann die Rechtswidrigkeit einer Anordnung nicht nur im Kündigungs- oder Abmahnungsprozess inzidenter, sondern auch durch eine Feststellungsklage klären lassen, wenn er ein rechtliches Interesse daran hat (MüKoBGB/Spinner, 8. Aufl. 2020, § 611a BGB, Rn. 937). Dabei ist im Rahmen des § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG entgegen der vom Betriebsrat im Anhörungstermin vom 06.08.2021 geäußerten Auffassung nicht zwischen einer Überschreitung der äußeren Grenzen des Weisungsrechts und dem Spielraum des Arbeitgebers bei der Benennung des Adressaten und der Festlegung des Zeitpunkts der Arbeitsunfähigkeitsanzeige zu unterscheiden. Es kann insoweit dahinstehen, ob diese Bestimmungen überhaupt in Ausübung des Direktionsrechts nach billigem Ermessen erfolgen oder ob sie allein an § 5 Abs. 1 EFZG zu messen sind (zur Problematik ArbG Düsseldorf, Urteil vom 28. November 2008 – 13 Ca 4939/08 –, Rn. 32, juris). Denn auch eine in Ausübung des Direktionsrechts erteilte Weisung ist nicht nur darauf überprüfbar, ob sie gegen ein zwingendes Gesetz, einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung verstößt. Es unterliegt ebenfalls der vollen gerichtlichen Kontrolle, ob der Arbeitgeber die beiderseitigen Interessen abgewogen und alle wesentlichen Umstände angemessen berücksichtigt hat (BAG, Urteil vom 17. August 2011 – 10 AZR 202/10 –, Rn. 23, juris; BAG, Urteil vom 15. September 2009 – 9 AZR 643/08 –, Rn. 29, juris; Steffan, RdA 2015, 270, 271).
39III.
40Gegen diesen Beschluss ist gemäß § 100 Abs. 2 Satz 4 BetrVG ein Rechtsmittel nicht gegeben.
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