Beschluss vom Landgericht Hamburg (28. Große Strafkammer) - 628 Qs 11/14

Tenor

1. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 19.03.2014 - 166 Gs 210/14 - wird als unbegründet verworfen.

2. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen zu tragen.

Gründe

I.

1

Wegen eines am 16.04.2000 begangenen schweren Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung wurde im Jahr 2000 ein DNA-Identifizierungsmuster des Betroffenen mit fünf Merkmalssystemen erfasst und der Betroffene nachfolgend zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt.

2

Mit dem angefochtenen Beschluss weist das Amtsgericht den Antrag der Staatsanwaltschaft zurück, zur Auftypisierung des DNA-Musters aus dem Jahr 2000 wegen derselben Tat die nochmalige Entnahme von Körperzellen anzuordnen. Es führt aus, dass eine Anordnung nach § 81g StPO zwecks Auftypisierung stets unverhältnismäßig sei, wenn bereits ein DNA-Identifizierungsmuster vorliege.

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Der ganz erheblich, insbesondere wegen Körperverletzungen vorbestrafte Betroffene ist auch nach der Tat aus dem Jahr 2000 einschlägig straffällig geworden. Eine im Jahr 2004 verhängte Freiheitsstrafe von 4 Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung und eine im Jahr 2008 verhängte Freiheitsstrafe von 8 Monaten wegen vorsätzlichen Vollrauschs wurden vollstreckt. Soweit der Betroffene am 12.08.2010 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten und am 3.03.2011 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen und Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, wurden diese Strafen jeweils zur Bewährung ausgesetzt und nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen.

4

Mit Verfügung vom 1.04.2014 hat die Kammer Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit eines nochmaligen Eingriffs ohne erneute Anlasstat geäußert und zur Frage der Negativprognose weiteren Vortrag und Sachaufklärung, insbesondere die Vorlage der Vorstrafakten, Bewährungsakten und der Akten der Führungsaufsicht, angeregt. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft das Urteil vom 3.03.2011 und einen Strafbefehl vom 21.09.2010, mit dem gegen den Betroffenen wegen Vortäuschens einer Straftat eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen verhängt wurde, weil er am 29.06.2010 gegenüber der Polizei wahrheitswidrig anzeigte, von unbekannten Tätern geschlagen und ausgeraubt worden zu sein, beigezogen und ausgeführt, dass die Verurteilung vom 3.03.2011 mehrere Gewaltstraftaten nach § 223 StGB unter Alkoholeinfluss betreffe und der Umstand, dass die Bewährungszeiten ohne Widerruf verstrichen sind, angesichts der Jahrzehnte umfassenden Straffälligkeiten die Negativprognose nicht beseitige.

II.

5

Die nach § 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde ist unbegründet.

6

Der Anordnung einer nochmaligen Entnahme von Körperzellen zur Feststellung eines DNA-Identifizierungsmusters nach § 81g StPO steht entgegen, dass es an der in § 81g StPO normierten Eingriffsvoraussetzung der Negativprognose fehlt und ein nochmaliger Eingriff nach § 81g StPO ohne neue Anlasstat jedenfalls unverhältnismäßig wäre.

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1. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach § 81g StPO setzt voraus, dass wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder auf Grund sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme bestehen, dass gegen den Betroffenen künftig erneut Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung, wegen Verbrechen oder Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen mehrerer sonstiger Straftaten im Sinne von Abs. 1 S. 2 zu führen sind.

8

Eine solche Wiederholungsgefahr vermag die Kammer anhand der vorgelegten Akten nicht sicher zu bejahen. Denn eine negative Prognoseentscheidung nach § 81g StPO setzt stets von Verfassungs wegen voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung, insbesondere durch Beiziehung der verfügbaren Straf- und Vollstreckungsakten, des Bewährungshelfers und der Akten der Führungsaufsicht vorausgegangen ist und die bedeutsamen Umstände nachvollziehbar und einzelfallbezogen abgewogen werden (BVerfG, Beschluss vom 15.03.2001, NJW 2001, 2320, 2321 f.). Soweit sich die Kammer daher mit Verfügung vom 1.04.2014 um eine weitere Aufklärung bemüht hat, hat dies nicht bzw. nur unzureichend zur gebotenen Sachaufklärung geführt. Allein der Hinweis auf Art und Häufigkeit der Vorstrafen begründet eine Negativprognose vorliegend nicht.

9

Die Anlasstat liegt 14 Jahre zurück und ist ebenso wie noch länger zurückliegende Vorstrafen schon aufgrund Zeitablaufs kaum geeignet, noch eine negative Indizwirkung zu entfalten. Dies gilt umso mehr, als der Betroffene seit Oktober 2010, also seit 3 1/2 Jahren, keine Straftaten begangen hat, ihm die zuletzt erkennenden Richter des Amtsgerichts Hamburg-Barmbek am 12.08.2010 und des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek am 3.03.2011 eine günstige Sozialprognose gestellt haben und die verhängten Strafen nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen wurden.

10

Weiter ist dem Urteil vom 3.03.2011 eine grundliegend positive Änderung der Lebensumstände des Betroffenen zu entnehmen, nämlich dass er sich zuletzt erfolgreich in eine betreute Wohnform eingegliedert hatte, alkoholabstinent lebte und wegen seiner Abhängigkeitserkrankung eine Therapie absolvieren wollte. Zudem erwog er einen Umzug in eine andere Stadt, um sich aus seinem bisherigen nachteiligen sozialen Umfeld zu lösen. Tatsächlich ist der Betroffene nachfolgend nach Kiel verzogen. Eine gegenüber den Feststellungen vom 3.03.2011 etwaige negative Veränderung ist nicht bekannt.

11

2. Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie abweichend von der angefochtenen Entscheidung des Amtsgerichts eine Anordnung nach § 81g StPO zum Zwecke der Auftypisierung nicht grundsätzlich für unverhältnismäßig erachtet (so bereits mit Beschluss vom 5.02.2013 - Az. 628 KLs 20/13; ebenso LG Hamburg, Beschluss vom 8.10.2013 - 601 Ks 5/13; aA allerdings noch LG Hamburg, Beschluss vom 12.03.2012 - Az. 616 Qs 2/12, jeweils m.w.N.).

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Denn die bisher vom Betroffenen gespeicherten lediglich fünf Merkmalssysteme entsprechen nicht mehr dem aktuellen Untersuchungsstandard, der die Bestimmung von bis zu 16 Merkmalssystemen vorsieht. Die häufig gebotene Auftypisierung würde dabei nicht nur die Aufklärung von Straftaten beschleunigen, sondern im Einzelfall die Aufklärung von Straftaten überhaupt erst ermöglichen, die auf der Grundlage der bisherigen Datensätze nicht aufzuklären wären. Tatortspurenmaterial enthält häufig keine kompletten Merkmalsätze oder lediglich Mischspuren. Die Gefahr, dass mangels vergleichbarer Merkmalssysteme überhaupt keine statistische Aussage getroffen werden kann, ist im Fall eines Abgleichs mit auf 16 Merkmalen basierender Datensätze deutlich geringer als dies bei einem Abgleich mit vorliegend lediglich fünf gespeicherten Merkmalsätzen der Fall wäre. Die Auftypisierung dient daher nicht etwa nur der Harmonisierung von Datenbänken, sondern ist regelmäßig erforderlich, um dem Zweck des § 81g StPO möglichst weitgehend gerecht zu werden. Die erzielten Ergebnisse werden umso genauer, je mehr Merkmalssysteme untersucht werden. Insbesondere steigt bei Heranziehung von 16 Merkmalssystemen die Wahrscheinlichkeit, unschuldige Personen als mögliche Treffer von vornherein ausschließen und auch Fälle grenzüberschreitender Kriminalität aufklären zu können, wodurch dem Sinn des § 81g StPO – einen sicheren Tatnachweis in zukünftigen Strafverfahren zu führen – erheblich besser Rechnung getragen wird als unter Heranziehung von etwa lediglich fünf Merkmalssystemen.

13

Indessen gebietet ein erneuter Eingriff bei verfassungskonformer Auslegung des § 81g Abs. 1 StPO stets auch den Verdacht einer erneuten Anlasstat; dagegen ist eine rückwirkende Auftypisierung ohne erneute Anlasstat unzulässig (vgl. LG Hamburg, Beschluss vom 8.10.2013 - 601 Ks 5/13; LG Freiburg, Beschluss vom 30.07.2013 - 2 Qs 12/12 - Rn. 33, zitiert nach juris; aA wohl nur Lellmann, Kriminalistik 2013, 112, 114). Vorliegend fehlt es an einer neuen Anlasstat.

III.

14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

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