Beschluss vom Landgericht Hamburg (Jugendkammer) - 617 Qs 17/21 jug.

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft werden der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 28.04.2021 aufgehoben und das Amtsgericht Hamburg für zuständig erklärt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und darin entstandene notwendige Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe

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1. Mit dem angegriffenen Beschluss erklärte sich das Amtsgericht Hamburg, dem die Staatsanwaltschaft Hamburg das vorliegende Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG nach Einspruch des Betroffenen zur Entscheidung vorgelegt hatte, für unzuständig. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen diesen Beschluss und hält an der von ihr angenommenen Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg fest.

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In dem Ordnungswidrigkeitsverfahren wird dem Betroffenen ein Verstoß gegen das Abstandsgebot gemäß § 3 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO vorgeworfen. Der Betroffene soll am 25.10.2020 um 02:28 Uhr am N. Landweg … in H. auf einer privaten Geburtstagsfeier den Mindestabstand von 1,5 m zu einer anderen Person nicht eingehalten haben, obwohl ihm dies aufgrund der dortigen räumlichen Verhältnisse möglich gewesen sei. Gegen weitere 25 Teilnehmer dieser Geburtstagsfeier wurden ebenfalls Bußgeldbescheide erlassen, von denen nach Aktenlage weitere fünf ebenfalls noch nicht rechtskräftig sind. Der Wohnort des Betroffenen liegt im Bezirk des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf. Der weit überwiegende Teil der weiteren Teilnehmer der Feier, die als Zeugen in Betracht kämen, wohnt ebenfalls in diesem Gerichtsbezirk. Der die Anzeige aufnehmende Polizeibeamte L. und weitere neun vor Ort eingesetzte Polizeibeamte sind am PK … in H. tätig; auch diese Dienststelle liegt im Bezirk des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf.

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Wegen dieser Tat erließ die Behörde für Inneres und Sport – Einwohner-Zentralamt – Abteilung für Bußgeldangelegenheiten im Straßenverkehr – am 27.10.2020 einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen. Gegen diesen Bescheid legte der Betroffene Einspruch ein. Mit Verfügung vom 17.03.2021 legte die Staatsanwaltschaft Hamburg das Verfahren dem Amtsgericht Hamburg vor. Mit Verfügung vom 26.03.2021 regte das Amtsgericht Hamburg an, seine „Anrufung [...] zu überdenken“. Es führte dazu an, mit Blick auf die Pandemieentwicklung und die „allseits ausgerufene Mobilitätseinschränkung“ erscheine das Auswahlermessen der Staatsanwaltschaft vorliegend – nahezu – auf „Null“ reduziert; es hätte daher das Gericht des Aufenthaltsorts, nämlich das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf, angerufen werden müssen. Mit Verfügung vom 06.04.2021 hielt die Staatsanwaltschaft Hamburg an der getroffenen Auswahl des Amtsgerichts Hamburg „zugunsten einer einheitlichen Handhabung/Rechtsprechung im Bereich der COVID-OWis“ ausdrücklich fest.

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Mit dem angegriffenen Beschluss erklärte sich sodann das Amtsgericht Hamburg für unzuständig. Dieser Beschluss wurde der Staatsanwaltschaft am 04.05.2021 zugestellt. Diese legte gegen den Beschluss ein als Beschwerde bezeichnetes Rechtsmittel ein; dieses ging mit der Akte am 11.05.2021 beim Amtsgericht Hamburg ein.

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2. Der von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsbehelf ist als sofortige Beschwerde auszulegen. Diese ist bei Unzuständigerklärung des angerufenen Gerichts, in der implizit eine Einstellung des Verfahrens aufgrund eines Verfahrenshindernisses i.S.d. §§ 46 OWiG i.V.m. 206a Abs. 1 StPO liegt, das statthafte Rechtsmittel, §§ 46 OWiG i.V.m. 206a Abs. 2 StPO (Bohnert/Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Aufl., § 68 Rn. 7; Blum/Stahnke, in: Gassner/Seith, OWiG, 2. Aufl., § 68 Rn. 10). Die sofortige Beschwerde ist auch sonst zulässig; insbesondere ist die Wochenfrist nach §§ 46 OWiG i.V.m. 311 Abs. 2 StPO gewahrt.

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3. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Amtsgericht Hamburg seine örtliche Zuständigkeit verneint. Diese ergibt sich aus § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG, die sachliche Zuständigkeit des Jugendrichters aus § 68 Abs. 2 OWiG. Zwar ist daneben auch die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf begründet. Dieses ist nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 JGG als Gericht am Ort des Aufenthalts des Betroffenen zuständig, da dieser im maßgeblichen Zeitpunkt des Eingangs der Akten beim Amtsgericht nach § 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG (Ellbogen, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl., § 68 Rn. 30) seinen Wohnsitz in dessen Gerichtsbezirk hatte der allgemeine Gerichtsstand des Tatorts – ebenfalls Hamburg-Bergedorf – nach §§ 42 Abs. 1 JGG i.V.m. 7 Abs. 1 StPO ist allerdings durch § 68 Abs. 1 OWiG ausgeschlossen (BGHSt 25, 263; a.A. Ellbogen, a.a.O., § 68 Rn. 30). Die von der Staatsanwaltschaft zwischen diesen beiden Zuständigkeiten getroffene Auswahl zugunsten des Amtsgerichts Hamburg ist aber nicht zu beanstanden.

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Die Gerichtsstände des § 68 Abs. 1, 2 OWiG und des § 42 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 JGG stehen grundsätzlich gleichwertig nebeneinander (s. nur BGHSt 25, 263 und Gertler, in: BeckOK OWiG, 30. Aufl., § 68 Rn. 17, jeweils m.w.Nachw.). Zwischen diesen Gerichtsständen hat die Staatsanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen auszuwählen (BGHSt 25, 263; Gertler, a.a.O., § 68 Rn. 19; Blum/Stahnke, a.a.O., § 68 Rn. 6). Dabei genießt der in § 68 Abs. 1 OWiG verankerte Konzentrationsgedanke keinen Vorrang vor den Gerichtsständen des § 42 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 JGG (so ausdrücklich Ellbogen, a.a.O., § 68 Rn. 29 und 33 m.w.Nachw. auch zur teilweise vertretenen Gegenauffassung). Ebenso wenig sind die Gerichtsstände des § 42 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 JGG grundsätzlich vorrangig gegenüber § 68 Abs. 1 OWiG; die – hier ohnedies nicht einschlägige – Soll-Vorschrift des § 42 Abs. 2 JGG hat nur ermessensleitende Funktion (BGH NStZ 2008, 659 in diesem Sinne auch Gertler, a.a.O., § 68 Rn. 20 mit etwas missverständlicher Formulierung). Denn das Gesetz regelt nicht ausdrücklich, welcher dieser Gerichtsstände vorrangig sein soll (vgl. Ellbogen, a.a.O., § 68 Rn. 33). Im Gegenteil stellt § 42 Abs. 1, 1. Halbs. JGG ausdrücklich die „[...] nach besonderen Vorschriften“ begründeten Gerichtsstände, zu denen gerade auch § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG gehört, „neben“ die in Nr. 1 bis 3 dieser Vorschrift aufgeführten (so auch BGHSt 25, 263; ebenso Ellbogen, a.a.O., § 68 Rn. 29).

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Das von der Staatsanwaltschaft ausgeübte Auswahlermessen ist nur darauf überprüfbar, ob es sachfremd oder willkürlich ausgeübt wurde, wie dies auch bei der Auswahl zwischen den Gerichtsständen des § 42 Abs. 1 JGG und den allgemeinen Gerichtsständen der StPO gilt (vgl. dazu OLG Hamm, Beschluss vom 24.03.2015 – 2 Ws 34/15, BeckRS 2015, 8301 m.w.Nachw.). Eine weitergehende Überprüfung auf Fehlerfreiheit bei der Ermessensausübung (dafür aber Kölbel, in: Eisenberg, JGG, 22. Aufl., § 42 Rn. 16) kommt mangels gesetzlicher Grundlage nicht in Betracht (Wellershof, in: BeckOK JGG, 21. Aufl., § 42 Rn. 15.1). Selbst grobe Ermessensfehler der Staatsanwaltschaft bei der Auswahl begründen daher kein Rechtsmittel, sofern das Gericht, dem die Sache vorgelegt wird, überhaupt zuständig ist (so ausdrücklich hinsichtlich möglicher Rechtsmittel des Betroffenen Gertler, a.a.O., § 68 Rn. 23, zustimmend Ellbogen, a.a.O., § 68 Rn. 32).

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Die Abgabe an das Amtsgericht Hamburg war nicht sachfremd oder willkürlich in diesem Sinne.

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Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Entscheidung für die Abgabe an das Amtsgericht Hamburg damit, dass durch die Konzentration auf das Gericht des Sitzes der Bußgeldbehörde eine einheitliche Rechtsprechung im Bereich der Ordnungswidrigkeiten wegen Verstößen gegen die HmbSARS-CoV-EindämmungsVO erreicht werden soll. Diese Erwägung steht im Einklang mit der Intention des Gesetzgebers bei der Schaffung des besonderen örtlichen Gerichtsstands des § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG, nämlich eine „gleichmäßige Ahndung“ sicherzustellen (vgl. BT-Drs. V/1269, S. 93 zum mit dem jetzigen § 68 Abs. 1 und 2 OWiG inhaltsgleichen seinerzeitigen § 57 OWiG a.F.), und ist schon deswegen nicht sachfremd. Zudem spricht für die Wahl des Gerichtsstandes nach § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG, dass der Betroffene Heranwachsender ist. Heranwachsenden ist die Anreise regelmäßig auch unter erzieherischen Gesichtspunkten zumutbar (vgl. Gertler, a.a.O., § 68 Rn. 22; im Ergebnis ebenso Blum/Stahnke, in: Gassner/Seith, a.a.O., § 68 Rn. 6).

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Es lag auch nicht ausnahmsweise eine Ermessensreduktion auf „Null“ vor, in deren Folge nur die Abgabe an das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf ermessensfehlerfrei gewesen wäre, mithin jede andere Entscheidung – hier: die Abgabe an das Amtsgericht Hamburg – willkürlich gewesen wäre. In der Abwägung der für und gegen die beiden hier zur Auswahl stehenden Gerichtsstände sprechenden Gesichtspunkte waren zwar auch Aspekte der Verfahrensökonomie und die besonderen Umstände der gegenwärtigen Pandemielage zu berücksichtigen. Diesen kam jedoch kein so außerordentliches Gewicht zu, dass sie jeglichen anderweitigen Erwägungen – insbesondere dem Ziel einer einheitlichen Rechtsanwendung – hätten vorangehen müssen.

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Zwar hätte für die Abgabe an das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf durchaus gesprochen, dass dadurch dem Betroffenen und möglicherweise einer Vielzahl von Zeugen eine kürzere Anfahrt zum Hauptverhandlungstermin ermöglicht worden wäre. Dieser prozessökonomische Gesichtspunkt gilt unabhängig von der gegenwärtigen Pandemielage. Hinzu kommt in Zeiten der COVID-19-Pandemie, dass sich infolge der Durchführung einer Hauptverhandlung an einem vom Wohnort des Betroffenen und vom Wohn- bzw. Dienstort zahlreicher potenzieller Zeugen weiter entfernten Gericht – hier: dem Amtsgericht Hamburg – möglicherweise zusätzliche, sonst vermeidbare Kontakte ergeben. Die Hauptverhandlung als solche ist allerdings insoweit neutral: Unabhängig davon, an welchem Gericht sie durchgeführt wird, kommen in ihr stets zahlreiche Personen zusammen. Ein anderes gilt möglicherweise für den Weg zum Gericht. Sofern Verfahrensbeteiligte mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen, kommen sie – bei generalisierender Betrachtung – bei einem längeren Anreiseweg zu einem wohnortfernen Gericht über einen längeren Zeitraum mit mehr Menschen in Kontakt als bei einem kürzeren Anreiseweg zu einem wohnortnahen Gericht. In Pandemiezeiten ist es sinnvoll, auf die Reduzierung von Kontakten, aus denen sich Ansteckungsrisiken ergeben, hinzuwirken. Dementsprechend enthält auch die HmbSARS-CoV-EindämmungsVO zahlreiche Regelungen für unterschiedliche Lebensbereiche, die unmittelbar oder mittelbar und in unterschiedlichem Ausmaß die Kontakte unter der Bevölkerung reduzieren. Die Einschränkung von Kontakten ist allerdings nicht Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen (vgl. § 1 Abs. 1 HmbSARS-CoV-EindämmungsVO n.F.). Die Verordnung unterbindet in der Verfolgung dieses Zieles – nämlich der Pandemieeindämmung – aber gerade nicht die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs und schränkt auch nicht dessen Umfang ein. Dieser ist vielmehr nach wie vor ausdrücklich vollumfänglich erlaubt (§ 4 Abs. 1 Nr. 13 HmbSARS-CoV-EindämmungsVO n.F.), wenn auch unter Beachtung besonderer Abstands- und Hygienevorschriften (§ 12 HmbSARS-CoV-EindämmungsVO n.F.). Diese weitgehende Zurückhaltung des Verordnungsgebers im Hinblick auf mögliche Einschränkungen des öffentlichen Personenverkehrs verbietet es, aus dem von der HmbSARS-CoV-EindämmungsVO verfolgten allgemeinen Ziel der Pandemiebekämpfung und dem dafür von der Verordnung genutzten Mittel der – in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedlich intensiv ausgestalteten – Kontaktbeschränkungen abzuleiten, dass die Einschränkung von Mobilität gerade auch im öffentlichen Personenverkehr und die dadurch erreichbare zusätzliche Kontaktreduzierung allen möglichen anderweitigen Belangen übergeordnet seien und diese in der Abwägung stets verdrängten.

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Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts lässt sich auch nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz eine Ermessensreduzierung auf „Null“ bei der Auswahl des Gerichtsstandes herleiten. Zwar begründet Art. 2 Abs. 2 GG eine Schutzpflicht des Staates für die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung. Dieser Schutzpflicht ist jedoch mit der ausdifferenzierten, auf einer Abwägung mit anderen Grundrechten beruhenden Regelung von Kontakt- und teilweise auch Mobilitätsbeschränkungen in der HmbSARS-CoV-EindämmungsVO genügt.

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Es kommt daher auf den weiteren Aspekt nicht mehr an, dass im vorliegenden Fall ohnedies nicht absehbar ist, ob und wie viele Verfahrensbeteiligte überhaupt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer Hauptverhandlung anreisen würden oder ob sie dazu private Pkw bzw. – im Fall der Polizeizeugen wahrscheinlich – Dienstfahrzeuge nutzen würden. Im letzteren Fall käme es auch bei einer Durchführung der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Hamburg nicht zu zusätzlichen Kontakten im Vergleich zu einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Hamburg-Bergedorf.

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Sicherlich hätten hier gute Gründe der Verfahrensökonomie für die Durchführung der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Hamburg-Bergedorf gestritten. Das Ordnungswidrigkeitsverfahren an dieses Gericht abzugeben, wäre aus den oben aufgeführten Gründen durchaus sinnvoll gewesen, möglicherweise sogar sinnvoller als die Abgabe an das Amtsgericht Hamburg. Es war hier aber – wie dargestellt – nicht zu prüfen, welche Ermessensauswahl die zweckmäßigere war, sondern allein, ob die Grenze zur Sachwidrigkeit bzw. Willkür überschritten war. Dies war, wie ausgeführt, nicht der Fall.

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4. Da die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft weder zu Gunsten noch zu Ungunsten des Betroffenen eingelegt wurde, hat in diesem Fall trotz des Erfolgs der sofortigen Beschwerde die Staatskasse die Kosten des Beschwerdeverfahrens und darin entstandene notwendige Auslagen des Betroffenen zu tragen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 473 Rn. 17 m.w.Nachw.).

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