Beschluss vom Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 7 AS 1070/20 ER-B

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 25. März 2020 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch seine außergerichtlichen Kosten im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

 
Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Dabei hat der Antragsgegner mit seiner Beschwerdeschrift vom 31. März 2020 sowie seiner Beschwerdebegründung vom 11. April 2020 noch hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Beschluss des Sozialgerichts Ulm (SG) vom 25. März 2020 betreffend den Antragsteller unbedingt durch das Beschwerdegericht überprüft werden soll (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 173 Rdnr. 4 zur Unzulässigkeit einer bedingten Beschwerde).
1. Gegenstand des am 16. März 2020 von dem Antragsteller und seiner Ehefrau beim SG anhängig gemachten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (S 5 AS 812/20 ER) war ihr Begehren auf eine (vorläufige) Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), nachdem der Antragsgegner durch Bescheid vom 16. Januar 2020 ihren Fortzahlungsantrag für die Zeit ab 1. Januar 2020 abgelehnt und den am 21. Januar 2020 gestellten Leistungsantrag noch nicht beschieden hatte. Das SG hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 25. März 2020 den Antragsgegner vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller und seiner Ehefrau für die Zeit vom 16. März 2020 bis zum 30. Juni 2020 „vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren“. Gegen die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung an den Antragsteller wendet sich der Antragsgegner mit seiner Beschwerde. Dagegen hat er den Beschluss des SG betreffend die Ehefrau des Antragstellers nicht angefochten: Sowohl in der Beschwerdeschrift vom 31. März 2020 als auch der Beschwerdebegründung vom 11. April 2020 hat der rechtskundige Antragsgegner ausschließlich den Antragsteller namentlich benannt und im Singular als „Antragsteller und Beschwerdegegner“ bezeichnet. Auch auf den gerichtlichen Hinweis vom 9. April 2020 auf die Beschränkung der Beschwerde auf den Antragsteller ist der Antragsgegner nicht eingegangen. Weiterhin bringt der Antragsgegner inhaltlich gegen die Auffassung des SG vor, dass „der Antragsteller“ keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe (Beschwerdebegründung vom 11. April 2020).
2. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1, für Vornahmesachen in Abs. 2. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Nach § 86b Abs. 3 SGG sind die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 schon vor Klageerhebung zulässig.
Hinsichtlich der begehrten vorläufigen Leistungsgewährung kommt - wie vom SG zutreffend erkannt - allein der Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG in Betracht. Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zunächst die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags wiederum hängt vom Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf nur erlassen werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs, während der Anordnungsgrund nur bei Eilbedürftigkeit zu bejahen ist. Die Anordnungsvoraussetzungen, nämlich der prospektive Hauptsacheerfolg (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).
3. Die Anordnungsvoraussetzungen für das einstweilige Rechtsschutzgesuch sind auch im Beschwerdeverfahren gegeben. Das SG hat den Antragsgegner in der Sache zutreffend zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 16. März 2020 (Eingang des einstweiligen Rechtsschutzgesuchs beim SG) bis zum 30. Juni 2020 verpflichtet. Denn der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch (a.) und einen Anordnungsgrund (b.) hinreichend glaubhaft gemacht.
a. Nach der in dem vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung spricht sehr viel dafür, dass der Antragsteller zum Kreis der Leistungsberechtigten des § 7 SGB II gehört.
Nach 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Der 1959 geborene Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die für ihn maßgebliche Altersgrenze von 66 Jahren (§ 7a SGB II) noch nicht erreicht. Er ist erwerbsfähig (§ 8 SGB II). Auch spricht viel dafür, dass der Antragsteller hilfebedürftig ist, d.h. er seinen Lebensunterhalt (Regelbedarf nach Regelbedarfsstufe 2 je 389,00 EUR zuzüglich Mehrbedarf für dezentrale Warmwassererzeugung nach § 21 Abs. 7 Nr. 1 SGB II sowie Bedarfe für Unterkunft und Heizung ) nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II), wobei auch Einkommen und Vermögen der Ehefrau des Antragstellers, mit der er eine Bedarfsgemeinschaft bildet (§ 7 Abs. 3 Nr. 3a SGB II), zu berücksichtigen ist (§ 8 Abs. 2 SGB II). Weiterhin hat der Antragsteller auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Dies alles ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und wird von dem Antragsgegner nicht in Abrede gestellt.
Nach summarischer Prüfung dürfte der Antragsteller auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II aus dem Kreis der Leistungsberechtigten ausgeschlossen sein. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 sind von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen
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1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
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2. Ausländerinnen und Ausländer,
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a) die kein Aufenthaltsrecht haben,
b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder
c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten,
und ihre Familienangehörigen,
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3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
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Gem. 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II gilt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Gem. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Frist nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (§ 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II). Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt (§ 7 Abs. 1 Satz 7 SGB II).
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Unabhängig von der zwischen den Beteiligten streitigen Frage, ob der Antragsteller als Arbeitnehmer in der seit dem 17. Januar 2020 - nach den Angaben des Antragstellers bis „März 2020“ (Schreiben vom 22. April 2020) - ausgeübten geringfügigen Beschäftigung als Reinigungskraft bei der Firma D. Gebäudereinigung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU (vgl. z.B. Bundessozialgericht , Urteil vom 12. September 2018 - B 14 AS 18/17 R - juris Rdnr. 20; Urteil vom 13. Juli 2017 - B 4 AS 17/16 R - juris Rdnr. 19) bzw. bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU (vgl. BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 - B 4 AS 17/16 R - juris Rdnr. 21 ff.; Urteil vom 17. März 2016 - B 4 AS 32/15 R - juris Rdnr. 13 ff.) in der hier streitigen Zeit freizügigkeitsberechtigt ist, dürften die Voraussetzungen der Rückausnahme i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 4 bis 6 SGB II von dem seitens des Antragsgegners angenommenen Leistungsausschluss i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorliegen.
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Denn nach mindestens fünf Jahren des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland erhalten Ausländer, die unter § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, also insbesondere kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt - und zwar unabhängig davon, wie sie ihren Lebensunterhalt in dieser Zeit finanziert haben - Leistungen nach dem SGB II (Knickrehm in Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rdnr. 9e). Der Gesetzgeber hat dieser Regelung zugrunde gelegt, dass sich Ausländer auch ohne Aufenthaltsrecht und finanzielle Absicherung ihrer Existenz nach Ablauf von fünf Jahren längere Zeit in der Bundesrepublik aufgehalten haben und von einer Verfestigung des Aufenthaltes ausgegangen werden kann (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 12 f., 14). Hinsichtlich des Fünf-Jahres-Zeitraums hat sich der Gesetzgeber an dem Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU orientiert. Allerdings setzt die Rückausnahme in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II anders als § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU keine materielle Freizügigkeitsberechtigung voraus (Becker in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rdnr. 53; Knickrehm in Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rdnr. 9e; Korte/Thie/Schoch in LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, § 7 Rdnr. 34; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 7 Rdnr. 162). Vielmehr genügt der gewöhnliche Aufenthalt im Bundesgebiet seit mindestens fünf Jahren (Knickrehm in Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rdnr. 9e). Dabei ist zu beachten, dass von den materiellen Freizügigkeitsberechtigungen nach dem FreizügG/EU die generelle Freizügigkeitsvermutung für EU-Ausländer, für deren rechtmäßige Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein gültiger Pass genügt (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU), zu unterscheiden ist. Aufgrund dieser generellen Freizügigkeitsvermutung muss der Aufenthalt eines EU-Ausländers zumindest solange als rechtmäßig angesehen werden, bis die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts aufgrund von § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bzw. der Missbrauchstatbestände in § 2 Abs. 7 FreizügG/EU festgestellt und damit nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU die sofortige Ausreisepflicht begründet hat (vgl. BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R - juris Rdnr. 25). Von der begünstigenden Ausnahmevorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II werden nach der Regelung des 2. Halbsatzes diejenigen Ausländer ausgenommen, bei denen der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU - erfolgreich - festgestellt worden ist (Knickrehm in Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rdnr. 9e; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 7 Rdnr. 164). Ausdrücklich geregelt ist in § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II, dass auf den gewöhnlichen Aufenthalt die Zeit nicht anzurechnen ist, in der Unionsbürger nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU zur Ausreise verpflichtet sind, weil die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach §§ 2 Abs. 7, 5 Abs. 4 oder 6 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat.
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Nach § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II beginnt die Fünf-Jahres-Frist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Damit reicht der alleinige Aufenthalt zur Erfüllung der Fünfjahresfrist nicht aus, sondern ist verknüpft mit der ordnungsgemäßen Anmeldung (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht , Beschluss vom 9. Dezember 2019 - L 6 AS 152/19 B ER - juris Rdnr. 11; LSG Hamburg, Beschluss vom 20. Juni 2019 - L 4 AS 34/19 B ER - juris Rdnr. 5; Knickrehm in Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rdnr. 9e; Mushoff in BeckOK-Sozialrecht, Stand 1. März 2020, § 7 Rdnr. 46).
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Den von dem Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsakten entnimmt der Senat, dass der Antragsteller zum 1. November 2013 aus Bulgarien kommend in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, in der Zeit vom 1. November 2013 bis zum 31. Juli 2014 in der Wohnung K. Gasse in G. gewohnt hat und seit 1. August 2014 die Wohnung E. Straße in G. (Mietvertrag vom 9. Juli 2014) bewohnt sowie sich jeweils bei der zuständigen Meldebehörde ordnungsgemäß gemeldet hat (Meldebescheinigung der Stadt G. vom 7. November 2018). Anhaltpunkte dafür, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1. November 2013 unterbrochen hat oder seinen melderechtlichen Pflichten nicht nachgekommen ist, sind nicht ersichtlich. Ebenso liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Ausländerbehörde den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat. So hat der Antragssteller unter dem 22. Januar 2019 ausdrücklich erklärt, dass ihm „die Freizügigkeit von der Ausländerbehörde“ nicht entzogen worden sei. Die Ausländerbehörde der Stadt G. hat unter dem 13. Januar 2020 mitgeteilt, dass sie ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU geprüft und verneint habe. Darüber, dass sie nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU durch Bescheid festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht mit der Folge, dass der Antragsteller ausreisepflichtig wäre, hat sie nicht berichtet. Offensichtlich hat der Antragsgegner den Ausnahmetatbestand des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht geprüft und sich allein auf die Prüfung eines Daueraufenthaltsrechts i.S.d. § 4a FreizügG/EU beschränkt.
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b. Weiterhin hat das SG zu Recht einen Anordnungsgrund bejaht. Ein Anordnungsgrund besteht, wenn der Betroffene bei Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache Gefahr laufen würde, seine Rechte nicht mehr realisieren zu können oder gegenwärtige schwere, unzumutbare, irreparable rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile erlitte. Die individuelle Interessenlage des Betroffenen, unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragsgegners, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter muss es unzumutbar erscheinen lassen, den Betroffenen zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Relevante Nachteile liegen zunächst in der Gefahr einer Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit. Weiterhin dient die in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vorgesehene Übernahme der angemessenen Unterkunftskosten im Zusammenwirken mit anderen Leistungen dazu, über die Verhinderung der bloßen Obdachlosigkeit hinaus das Existenzminimum sicherzustellen (vgl. Bundesverfassungsgericht , BVerfGE 125, 175 <228>). Dazu gehört es, den gewählten Wohnraum in einem bestehenden sozialen Umfeld nach Möglichkeit zu erhalten (BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 - 1 BvR 1910/12 - juris Rdnr. 16). Daher ist bei der Prüfung, ob ein Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden Betrachtung zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Antragsteller hätte (BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 - 1 BvR 1910/12 - juris Rdnr. 16). Ein alleiniges und schematisches Abstellen darauf, ob der Vermieter bereits Räumungsklage erhoben hat, genügt der erforderlichen Abwägung nicht (BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 - 1 BvR 1910/12 - juris Rdnr. 16).
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Vorliegend ist maßgeblich zu beachten, dass die preisgünstige Wohnung des Antragstellers, die er bereits seit mehr als fünf Jahren bewohnt, gefährdet ist. Dies ergibt sich daraus, dass der Wohnungsvermieter das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs (Miete Dezember 2018 und Januar 2019) bereits mit Schreiben vom 17. Januar 2019 und 28. Januar 2019 fristlos gekündigt hatte. Das Mietverhältnis ist, soweit ersichtlich, nach der Bewilligung von Arbeitslosengeld II ab 1. Januar 2019 (Bescheid vom 5. April 2019), wobei der Antragsgegner die Leistungen für die Unterkunft direkt an den Vermieter ausgezahlt hat, fortgesetzt worden. Durch die Zahlung der rückständigen Mieten dürfte die Kündigung nach § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unwirksam geworden sein. Nunmehr hat der Vermieter das Mietverhältnis erneut wegen Zahlungsverzugs (Mieten Januar bis März 2020) fristlos gekündigt (Schreiben vom 10. März 2020). Wegen der in Betracht kommenden Regelung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 BGB hat der Antragsteller ein gesteigertes Interesse daran, so schnell wie möglich die rückständigen Mieten zu bezahlen und die laufenden Mietzahlungen wieder aufzunehmen. Insofern hat der Vermieter in dem Kündigungsschreiben vom 10. März 2020 signalisiert, dass der Antragsteller bei einem unverzüglichen Ausgleich des Rückstandes die Kündigung noch abwenden könne. Im Übrigen ist zu befürchten, dass dem Antragsteller im Falle der Erhebung einer Räumungsklage die Kosten dieses Verfahrens auferlegt würden. Dieses Risiko, die Kosten des zivilgerichtlichen Rechtsstreits tragen zu müssen, wird auch weder durch das Prozesskostenhilferecht noch durch das Sozialrecht sicher beseitigt, sodass dieser Aspekt auch in die wertende Betrachtung einbezogen werden muss.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
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5. Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

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