Beschluss vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (8. Senat) - L 8 B 299/08

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Schwerin vom 24. Juni 2008 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren.

Gründe

1

Die Beteiligten streiten um die Erforderlichkeit eines Umzugs bei (bevorstehender) Geburt eines weiteren Kindes.

2

Die 1984 geborene Antragstellerin wohnte gemeinsam mit ihrer im Oktober 2004 geborenen Tochter in einer seit September 2004 gemieteten, knapp 58 m² großen Wohnung in der K.straße 5 in S. mit Küche, Bad, Flur und 3 Zimmern, welche Flächen von ca. 16,9 m², 12,3 m² und knapp 8 m² aufweisen. Beide erhalten seit Januar 2005 laufend Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Die bisherigen Mietkosten in Höhe von 340,30 EUR monatlich (Gesamtmiete einschließlich Betriebs- und Heizkosten) übernahm die Antragsgegnerin zuletzt in Höhe von monatlich 329,33 EUR übernommen (Bescheid vom 24. April 2008).

3

Im April 2008 zeigte die Antragstellerin der Antragsgegnerin durch Vorlage ihres Mutterpasses an, dass sie schwanger und der errechnete Geburtstermin der 11. August 2008 sei. Am 13. Mai 2008 beantragte sie unter Vorlage eines Angebots des bisherigen Vermieters, einer großen Wohnungsgesellschaft, für eine ca. 70,5 m² große Wohnung in der N.straße 2 in S. mit 4 Zimmern die Zustimmung der Antragsgegnerin zu dem geplanten Umzug und die Zusicherung der Übernahme der Kosten der neuen Unterkunft in Höhe von insgesamt 439,13 EUR (Grundmiete: 271,27 EUR, Betriebskosten- und Wasservorauszahlung: 77,86 EUR, Heizkostenvorauszahlung: 90 EUR) sowie der Umzugskosten mit der Begründung, dass sie schwanger sei und das Kind voraussichtlich am 11. Oktober 2008 geboren werde.

4

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15. Mai 2008 mit der Begründung ab, auch mit dem zweiten Kind sei ein Verbleiben in der bisherigen Wohnung zumutbar, weshalb für den Umzug keine Notwendigkeit bestehe.

5

Den hiergegen am 19. Mai 2008 von der Antragstellerin erhobenen Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2008 zurück. Zur Begründung führte sie ergänzend zum Ausgangsbescheid aus, dass es dem Steuerzahler, der die Kosten seiner Wohnung selbst trage und der sich auch mit einem Kleinkind und einem Säugling mit einer 58 m² großen 3-Raum-Wohnung zufrieden gebe, nicht vermittelbar sei, dass vom Staat eine 70 m² große 4-Raum-Wohnung finanziert werde, nur weil sich der Hilfeempfänger unter Ausschöpfung der Maximalwerte der Richtlinien wohnungmäßig verbessern wolle.

6

Hiergegen hat die Antragstellerin am 5. Juni 2008 Klage beim Sozialgericht Schwerin (S 13 AS 1008/08) erhoben und zugleich beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Erteilung der Zusicherung zu verpflichten.

7

Das Sozialgericht hat nach Beiziehung von Lichtbildern der drei Wohnräume und von Angaben zur genauen Größe derselben die Antragsgegnerin mit dem angegriffenen Beschluss vom 24. Juni 2008, der Antragsgegnerin, zugestellt am 30. Juni 2008, zur Erteilung der begehrten Zusicherung "vorläufig und vorbehaltlich einer rechtskräftigen Entscheidung über ihre Klage in dem Verfahren S 13 AS 1008/08" verpflichtet. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass mit der bisherigen Wohnung keine angemessene Wohnraumversorgung unter Berücksichtigung der bevorstehenden Geburt des weiteren Kindes der Antragstellerin gewährleistet sei, was bereits daraus folge, dass deren Fläche sogar unterhalb des Höchstwertes eines Zweipersonenhaushaltes liege und den für drei Personen zulässigen Höchstwert von 75 m² ganz erheblich unterschreite. Zudem sei das noch nicht einmal 8 m² messende kleinste Zimmer der bisherigen Wohnung lediglich als halber Raum zu bewerten, weshalb auch nicht von einer 3-Raum-Wohnung, sondern lediglich von einer 2 1/2-Raum-Wohnung gesprochen werden könne. Die Erforderlichkeit eines Umzugs setze keineswegs voraus, dass der Umzug absolut unumgänglich sei. Dass die Antragsgegnerin die bisherige Wohnung im Rahmen ihrer subjektiven Einschätzung als noch zumutbar erachte, stehe dem Anspruch daher nicht entgegen.

8

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 28. Juli 2008. Zwar erhöhe sich der Wohnraumbedarf regelmäßig nach die Geburt eines Kindes. Gleichwohl könne nicht jede Geburt zu einer Zustimmung zum Umzug führen. Wenn es objektiv möglich und zumutbar sei, auch ein weiteres Kind in der bisherigen Wohnung kindgerecht unterzubringen, bestehe jedenfalls bis zum Beginn der Schulpflicht des älteren Kindes keine Notwendigkeit für einen Umzug, da auch mehrere Kinder gemeinsam in einem Kinderzimmer untergebracht werden könnten. Die Maximalwerte der Richtlinie sollten es keineswegs ermöglichen, "allein aufgrund der steigenden Personenzahl immer wieder einen Umzug zu rechtfertigen", auch wenn der vorhandene Wohnraum das soziokulturelle Existenzminimum sichere.

9

Zum 01. Oktober 2008 hat die Antragstellerin die Wohnung in der Newtonstraße 2 angemietet und ist seither dort wohnhaft.

II.

10

Die Beschwerde ist auch unter der Geltung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der seit dem 01. April 2008 geltenden Fassung zulässig, da in der Hauptsache die Berufung zulässig wäre. Ganz unabhängig davon, dass die tatsächlichen Umzugskosten, die von dem für den Wert der Beschwer der Antragsgegnerin maßgeblichen erstinstanzlichen Tenor mit erfasst sind, nicht bekannt sind, der erforderliche Wert von mehr als 750 EUR also erreicht sein kann, wäre die Berufung allein deshalb zulässig, weil sich die Wirkung der streitigen Zusicherung nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt, die zusätzlichen Unterkunftskosten von ca. 100 EUR monatlich mithin für einen unbestimmten Zeitraum anfallen. Damit ist davon auszugehen, dass eine Berufung widerkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr beträfe, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG. Die entgegenstehende Rechtsbehelfsbelehrung im angegriffenen Beschluss, wonach dieser unanfechtbar sei, steht der Zulässigkeit der Beschwerde nicht entgegen.

11

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung zur Erteilung der Zusicherung verpflichtet.

12

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung, und Anordnungsanspruch, d.h. die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren begehrt wird, sind geltend und die zur Begründung erforderlichen Tatsachen glaubhaft zu machen. Dabei geht der Senat davon aus, dass das Vorliegen eines Anordnungsanspruches, der sich auch im Rahmen der im Eilverfahren möglichen summarischen Prüfung positiv feststellen lässt, das Bestehen eines Anordnungsgrundes regelmäßig indiziert, Beschluss des Senats vom 29. Januar 2007, L 8 B 90/06.

13

Ein Anordnungsanspruch besteht vorliegend, weil die Antragsgegnerin gemäß § 22 Abs. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) verpflichtet war, die Zusicherung zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft zu erteilen. Nach der genannten Vorschrift soll der erwerbsfähige Hilfebedürftige die Zusicherung des zuständigen kommunalen Trägers zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft einholen. Der kommunale Träger ist zur Zusicherung verpflichtet, wenn der Umzug erforderlich ist und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind.

14

Dass hier die Aufwendungen für die neue Unterkunft für eine aus drei Personen bestehende Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich angemessen sind, wird von der Antragsgegnerin nicht in Abrede gestellt. Die Wohnungsgröße und die Höhe des Mietzinses entsprechen den Vorgaben der "Richtlinie der Landeshauptstadt Schwerin zur Bestimmung der Leistungen nach § 22 SGB II, Leistungen für Unterkunft und Heizung", in Kraft seit dem 01. Juli 2008 (nachfolgend: KdU-RL), welche für eine dreiköpfige Bedarfsgemeinschaft eine Wohnfläche von bis zu 75 m² und Kosten von bis zu 540,00 EUR vorsehen. Der Senat hat keinen Anlass, von diesen Werten im vorliegenden Eilverfahren zu Lasten der Antragstellerin nach unten abzuweichen, zumal sie sich mit den maßgeblichen landesrechtlichen Vorgaben (Verwaltungsvorschrift zum Belegungsbindungsgesetz, VVBel-BindG MV vom 14. Februar 1997) für Wohnberechtigte im sozialen Mietwohnungsbau decken, die ebenfalls eine Wohnraumgröße von 75 m² anerkennen, vgl. insoweit BSG, Urteil vom 07. November 2006, B 7b AS 18/06 R. Erst recht ergeben sich aus dem im Mietangebot vorgesehenen m²-Mietzins von 3,85 EUR (netto kalt) bzw. 4,95 EUR (brutto kalt) keine Bedenken, sodass auch das letztlich maßgebliche Produkt beider Größen sich (deutlich) innerhalb der Angemessenheitsgrenze der KdU-RL bewegt.

15

Der Umzug war zur Überzeugung des Senats auch im Sinne von § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II erforderlich.

16

Für die Annahme der Erforderlichkeit eines Umzugs kann einerseits - entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts - nicht bereits jeder objektive, plausible und nachvollziehbare Grund ausreichen. Anderenfalls würde die Vorschrift, die stets in Zusammenschau mit der Begrenzungsregelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II zu sehen ist, dem vom Gesetzgeber ausdrücklich genannten Zweck zuwiderlaufen, die Ausschöpfung der örtlichen Angemessenheitsgrenzen durch Umzug in eine Wohnung mit höheren, gerade noch angemessenen Kosten zu verhindern (BT-Drucks 16/1410, S. 23). Damit kann beispielsweise ein beabsichtigter Gewinn an Wohnkomfort, etwa durch bessere Ausstattung der Wohnung, ruhigere Lage, Vorhandensein eines Fahrstuhls oder Umzug ins Erdgeschoss, alles durchaus objektive, plausible und nachvollziehbare Gründe, die Erforderlichkeit eines Umzugs für sich genommen keineswegs begründen.

17

Andererseits ist der Begriff der Erforderlichkeit nicht mit Unumgänglichkeit gleichzusetzen, worauf das Sozialgericht völlig zutreffend hingewiesen hat. Neben zwingenden Gründen, etwa in Fällen der Eigenbedarfskündigung durch den Vermieter, sollen nach der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (a.a.O.) auch die Eingliederung in Arbeit sowie gesundheitliche oder soziale Gründe einen Wohnungswechsel erforderlich machen können.

18

Nach Auffassung des Senats ergibt sich für die Auslegung des Begriffs der Erforderlichkeit in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II ebenso wie in § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II daher Folgendes:

19

Die bloße Nichtausschöpfung der örtlichen Angemessenheitsgrenzen für Wohnraum macht bei ansonsten unveränderten Verhältnissen einen Umzug in eine teuerere Unterkunft nicht erforderlich. Ergibt sich hingegen aus einer objektiven Erhöhung des Wohnraumbedarfs, dass der nach jeweiligem Landesrecht maßgebliche Wohnflächenbedarf von der aktuellen Unterkunft nicht mehr erfüllt wird, ist in der Regel ein Umzug erforderlich. Das ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn die Größe der bisherigen Unterkunft unterhalb der Höchstgrenze für die bisherige Personenzahl in der Bedarfsgemeinschaft liegt. Nur wenn diese Grenze bereits von der bisherigen Unterkunft überschritten wird, beurteilt sich die Erforderlichkeit eines Umzugs nach den Umständen des Einzelfalls; nur in derartigen Fällen bedarf es einer Prüfung der Zumutbarkeit der bisherigen Unterkunft unter näherer Betrachtung deren Nutzungsmöglichkeiten anhand des Grundrisses und sonstiger Ausstattungsmerkmale.

20

Hiernach ist im Falle einer Bedarfsgemeinschaft von zwei Personen, deren bisherige Unterkunft die maßgebliche Höchstfläche von 60 m² unterschreitet, bei Eintritt einer weiteren Person, sei es durch die Geburt eines Kindes, durch die Aufnahme eines weiteren Familienmitglieds oder durch den Einzug eines Lebenspartners, regelmäßig ein Umzug in eine größere Unterkunft erforderlich. Gleiches dürfte gelten, wenn sich der Wohnraumbedarf durch Eintritt einer Schwerbehinderung dadurch erhöht, dass die Benutzung von Hilfsmittel zur Fortbewegung notwendig wird. In allen genannten Fällen rechtfertigt die objektive Änderung der Verhältnisse den Umzug, ohne dass die Gefahr bestünde, dass durch den Umzug lediglich die örtlichen Angemessenheitsgrenzen für Wohnraum ausgeschöpft werden sollen. Die in der Argumentation der Antragsgegnerin anklingende Befürchtung, dass Kinder gleichsam deshalb geboren würden, um der Bedarfsgemeinschaft den Umzug in eine größere Unterkunft zu ermöglichen, wird vom Senat nicht geteilt. Einer näheren Betrachtung, ob und unter welchen Bedingungen ein Verbleiben in der bisherigen Wohnung zumutbar, praktisch möglich oder jedenfalls ohne Verletzung der Menschenwürde hinnehmbar wäre, ob eine Unterbringung auch von zwei oder mehr Kindern in einem Zimmer, u.U. abhängig von deren Alter und/oder Lebhaftigkeit, machbar wäre oder ob eine "Umnutzung" einzelner Räume (Wohn- in Schlafzimmer etc.) durchführbar wäre, bedarf es in den hier aufgezeigten Fällen nicht.

21

In zeitlicher Hinsicht gilt für den Fall der Geburt eines Kindes, dass eine Zusicherung zum Umzug bereits dann verlangt werden kann, wenn die Geburt bereits so knapp bevorsteht, dass eine weitere Verzögerung für die Schwangere mit einer nicht auszuschließenden Gesundheitsgefahr verbunden ist. Hiervon ist, in Anlehnung an die Verwaltungspraxis zur Erteilung von Wohnberechtigungsscheinen, unter Umständen bereits ab dem 4. Schwangerschaftsmonat auszugehen (vgl. die Ersten Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zu den Leistungen für Unterkunft und Heizung im SGB II vom 8. Juli 2008), jedenfalls aber ab dem 5. Schwangerschaftsmonat, um unter Berücksichtigung von einzuhaltenden Kündigungsfristen einen Umzug noch rechtzeitig vor der Geburt sicherzustellen.

22

Die mit dieser Entscheidung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist ausnahmsweise zulässig. Das Rechtsinstitut der Zusicherung des § 22 Abs. 2 SGB II bezweckt es, dem Hilfeempfänger vor Eingehen einer zivilrechtlichen Verpflichtung gegenüber dem neuen Vermieter, Rechtssicherheit hinsichtlich der Kostentragung zu verschaffen. Da eine nur vorläufige Regelung insoweit nicht denkbar oder jedenfalls nicht praktikabel erscheint, ist im gerichtlichen Eilverfahren anlässlich der bevorstehenden Geburt eines Kindes die Verpflichtung zur Zusicherungserteilung auszusprechen. Im vorliegenden Fall ist eine abschließende Beurteilung des Anspruchs auch bei den eingeschränkten Ermittlungsmöglichkeiten dieser Verfahrensart, möglich. Bei feststehendem Anordnungsanspruch ist nichts dafür ersichtlich, dass die für die Hilfeempfängerin mit einem Umzug erst nach der Geburt, mithin als Wöchnerin bzw. in den ersten Lebensmonaten des Säuglings, verbundene Belastung nicht schwerer wiegen sollte als das Interesse der Allgemeinheit, zunächst nicht mit Kosten belastet zu werden. Auch insoweit gilt, dass das Feststehen des Anordnungsanspruches das Bestehen eines Anordnungsgrundes regelmäßig nach sich zieht.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

24

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen