Urteil vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (6. Senat) - L 6 P 25/15

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schwerin vom 15. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers werden der Beklagten auferlegt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der Beklagten, die dem Kläger bewilligten Leistungen nach Pflegstufe II ab dem 01. Februar 2014 (teilweise) zu entziehen.

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Der im Jahre 1979 geborene, bei der Beklagten sozial pflegeversicherte Kläger leidet infolge eines frühkindlichen Hirnschadens an einer Intelligenzminderung. Vom Versorgungsamt ist ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt. Es sind die Merkzeichen G, aG, H und RF zuerkannt. Der Kläger lebt mit seiner ihn betreuenden, nicht berufstätigen Mutter in einem gemeinsamen Haushalt.

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Seit dem 01. April 1995 erhält der Kläger von der Beklagten Leistungen nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung (Pflegestufe II) in Form von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen. Am 05. Februar 2001 erfolgte eine Begutachtung des Klägers in der Häuslichkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Mecklenburg-Vorpommern (MDK). In dem hierauf erstellten Gutachten der Frau Dr. med. S. vom 08. Februar 2001 wird ausgeführt, dass der Kläger wegen eines fieberhaften Infektes im Bett liegend angetroffen worden sei. Ansonsten sei der Kläger körperlich altersgerecht entwickelt. In der Anamnese werden neben der Grunderkrankung wöchentlich ein- bis zweimalige Migränebeschwerden mit Erbrechen beschrieben, die sich durch Hinlegen lindern ließen, ferner ein gelegentliches Verkrampfen der Füße mit Krallenstellung der Zehen. Das Gehen sei nicht behindert. Andere körperliche Einschränkungen werden nicht berichtet. Das geistige Entwicklungsalter entspreche dem eines Vorschulkindes. Der Kläger besuche seit September 2000 den Arbeitstrainingsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen. Der Hilfebedarf des Klägers werde in der Grundpflege mit insgesamt 179 Minuten im Tagesdurchschnitt (79 Minuten bei der Körperpflege, 50 Minuten bei der Ernährung und 20 Minuten bei der Mobilität) eingeschätzt, in der Hauswirtschaft mit 60 Minuten. Eine Wiederholungsbegutachtung sei nicht erforderlich; es handele sich um einen Dauerzustand. Ergänzend wird auf den Inhalt des Gutachtens Bezug genommen.

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Am 13. November 2013 wurde der Kläger im Rahmen eines Wiederholungsgutachtens durch den MDK, Pflegefachkraft B., begutachtet. In dem hierauf erstellten Gutachten vom 19. November 2013, auf dessen näheren Inhalt ebenfalls Bezug genommen wird, werden von der Gutachterin an vorliegenden Fremdbefunden u.a. jährliche Zeugnisse der Schule zur individuellen Lebensbewältigung aus den Jahren 1992 bis 2000 aufgeführt, aus denen sich etwa ergebe, dass der Kläger „Eierkuchen zubereiten“ könne (1992), schwimmen gelernt habe (1995), „Freude am Schälen und Schneiden“ zeige (1996) und „kleine Gerichte zubereiten“ könne (1997). Der körperliche Befund wird erneut als unauffällig beschrieben. Der Kläger habe sich ängstlich und scheu gezeigt und ausweichend reagiert. Er habe während der Begutachtung kein Wort gesprochen. Der Hilfebedarf des Klägers sei der aktuell vorliegenden Pflegesituation anzupassen. Hieraus ergebe sich eine Änderung im Vergleich zum Vorgutachten. Der Kläger sei in der Lage, die meisten Verrichtungen weitgehend selbstständig, teilweise unter „grobschrittiger Anleitung“ auszuführen. Hiernach liege ein täglicher Hilfebedarf in der Grundpflege von 24 Minuten (15 Minuten Körperpflege, kein Hilfebedarf bei der Ernährung, 9 Minuten Mobilität) und in der Hauswirtschaft von 45 Minuten vor. Unter der Überschrift „Besserungsnachweis“ wird ausgeführt:

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„Auf Grund einer mittelgradigen Intelligenzminderung und einer sonstigen tief greifende Entwicklungsstörungen mit autistischen Zügen und daraus resultierender kognitiver Einschränkung benötigt der Versicherte personelle Hilfe bei der Grundpflege und für die hauswirtschaftliche Versorgung. Es ist eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes mit Erhöhung der Selbstständigkeit mit wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse erkennbar. Durch aktivierende Pflege ist der Versicherte in der Lage bei den pflegerischen Verrichtungen weitgehend mitzuhelfen oder diese selbstständig auszuführen.“

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Nach entsprechender Anhörung des Klägers hob die Beklagte ihren Bescheid vom 29. Mai 1995 in der Fassung des Bescheides vom 22. Februar 2001 mit Bescheid vom 15. Januar 2014 ab 01. Februar 2014 auf. Mit gesondertem Bescheid vom 15. Januar 2014 bewilligte die Beklagte Leistungen als Übergangsregelung bis zum Inkrafttreten eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (Pflegegeld in Höhe von 120 Euro monatlich) ab 01. Februar 2014. Den gegen den Aufhebungsbescheid erhobenen Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2014 zurück.

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Hiergegen hat der Kläger am 11. März 2014 bei dem Sozialgericht Rostock Klage erhoben. Sein Hilfebedarf bestehe auch weiterhin im Umfang der Pflegestufe II.

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Der Kläger hat beantragt:

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Der Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2014 wird aufgehoben.

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Die Beklagte hat zunächst beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hat zur Begründung zunächst auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid Bezug genommen und ergänzend ein weiteres MDK-Gutachten (Pflegefachkraft L. vom 23. Juni 2014) vorgelegt, auf dessen näheren Inhalt Bezug genommen wird. Hierin wird ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von insgesamt 28 Minuten eingeschätzt (17 Minuten Körperpflege, 0 Minuten Ernährung, 11 Minuten Mobilität). Ausführungen zu einer Veränderung im Vergleich zur Begutachtung im Jahr 2001 finden sich in dem Gutachten nicht.

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Das Sozialgericht hat ein Gutachten der Pflegesachverständigen E. vom 23. Januar 2015 eingeholt, auf dessen näheren Inhalt ebenfalls Bezug genommen wird. Hierin wird aktuell ein täglicher Zeitaufwand in der Grundpflege von 94 Minuten (64 Minuten Körperpflege, 10 Minuten Ernährung, 20 Minuten Mobilität) und in der Hauswirtschaft von 74 Minuten angenommen. Die Sachverständige legt dar, dass die in 2001 festgestellten 50 Minuten Hilfe bei der Ernährung viel zu hoch angesetzt worden seien, da Hilfe „nur“ in Form von Anleitung und Überwachung erforderlich gewesen sei, was es der Pflegeperson erlaubt habe, während der Nahrungsaufnahme des Klägers selbst ihre Mahlzeit einzunehmen. Der Hilfebedarf bei der Ernährung habe seinerzeit wie aktuell nur 10 Minuten betragen.

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Die Beklagte hat daraufhin mit Schriftsatz vom 17. März 2015 ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass sie ihre angegriffenen Bescheide teilweise wieder aufhebt und dem Kläger über den 01. Januar 2014 hinaus Leistungen nach Pflegestufe I gewährt. Einen entsprechenden Ausführungsbescheid hat sie unter dem 18. März 2015 erlassen. Der Kläger hat seine weitergehende Klage aufrechterhalten.

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Das Sozialgericht hat der Klage nach entsprechender Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 15. Juli 2015 auch im Übrigen stattgegeben und den angegriffenen Aufhebungsbescheid vollständig aufgehoben. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligungsbescheide über Leistungen der Pflegestufe II nicht erfüllt seien.

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Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X sei im Vergleich des MDK-Gutachtens vom 08. Februar 2001 mit dem Gutachten des MDK vom 13. November 2013 nicht feststellbar. Zwar erfülle der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II, sondern „nur“ nach Pflegestufe I, die die Beklagte zwischenzeitlich auch weiter gewähre. Jedoch habe der Kläger bereits bei der Leistungsbewilligung vom 22. Februar 2001 nicht die Voraussetzungen von einer Hilfe in der Grundpflege von mindestens 120 Minuten täglich erfüllt. Zu diesem Ergebnis sei das Gericht unter Berücksichtigung der vorliegenden Unterlagen und insbesondere aufgrund der Ausführungen im Gerichtsgutachten der Pflegesachverständigen E. gelangt. Die Sachverständige habe nachvollziehbar dargelegt, dass der (aktuelle) Hilfebedarf des Klägers im grundpflegerischen Bereich täglich 94 Minuten und im hauswirtschaftlichen Bereich 74 Minuten betrage. Sie habe dabei die individuellen Einschränkungen des Klägers und die Begutachtungsrichtlinien berücksichtigt. Änderungen seien im Vergleich zum Bescheid vom 22. Februar 2001, basierend auf dem MDK-Gutachten vom 08. Februar 2001, nur bei der Körperpflege insoweit eingetreten, dass der Kläger nicht mehr bade, sondern ein Mal täglich dusche, was zu einer Verringerung des Hilfebedarfes von 10 Minuten täglich führe. Eine anderweitige Veränderung des Pflegebedarfs des Klägers sei nicht anzunehmen. Vielmehr sei bei der Begutachtung im Jahr 2001 ein viel zu hoher Hilfebedarf bei der Ernährung angenommen worden. Der Kläger sei damals wie auch aktuell aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen lediglich nicht in der Lage gewesen, adäquat mit dem Messer umzugehen. Zudem müsse er ebenso wie seinerzeit bei der Nahrungsaufnahme angeleitet und überwacht werden. Dies ermögliche der Pflegeperson jedoch, zeitgleich ihre eigene Mahlzeit einzunehmen. Ein sofortiges Eingreifen sei damals wie aktuell nicht erforderlich. Der Hilfebedarf bei der Ernährung sei daher unverändert mit 10 Minuten täglich zu bemessen.

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Damit sei der tatsächliche Pflegebedarf von Anfang an um 40 Minuten geringer gewesen, als im Jahr 2001 angenommen. Der Grundpflegepflegebedarf habe demnach mit tatsächlich nur 109 Minuten täglich Leistungen nach der Pflegestufe II nicht gerechtfertigt. Die Bewilligung mit Bescheid vom 22. Februar 2001 sei daher auch unter Anwendung eines großzügigen Maßstabes bei der Bemessung von Zeiten rechtswidrig gewesen. Die allein anzunehmende Änderung bei der Körperpflege (Verringerung des Hilfebedarfes von 10 Minuten täglich), die auf einer Änderung des Verhaltens des Klägers bei der Körperpflege und nicht auf einer Verbesserung seines Gesundheitszustandes beruhe, stelle keine wesentliche Änderung der Verhältnisse dar, denn unter Berücksichtigung der fehlerhaft überhöhten Feststellungen im MDK-Gutachten vom 08. Februar 2001 verbliebe noch immer ein Hilfebedarf in der Grundpflege von 139 Minuten (statt 149 Minuten), was ebenfalls eine Einstufung in die Pflegestufe II zur Folge hätte. Die Aufhebung gemäß § 48 SGB X stelle daher eine Umgehung der Vertrauensschutzregelung des § 45 SGB X dar.

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Gegen den ihr am 21. Juli 2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung der Beklagten vom 21. August 2015, mit der sie an ihrer Auffassung festhält. Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Ein Besserungsnachweis sei anzunehmen, da der MDK eine deutliche Reduzierung des Hilfebedarfs des Klägers festgestellt habe. Von den Feststellungen des MDK als zeitnächste gutachterliche Einschätzung sei auszugehen; alle weiteren Stellungnahmen seien mit zunehmendem zeitlichem Abstand als spekulativ anzusehen. Die Feststellungen der Gutachterin Dr. St. zum Hilfebedarf bei der Ernährung im Gutachten aus dem Jahre 2001 beruhten offenkundig darauf, dass sie ein besonderes, auffälliges Fehlverhalten im Umgang mit Nahrungsmitteln festgestellt habe, „sonst hätte sie nicht diesen hohen Zeitaufwand nebst besonderer Begründung attestiert.“ Es sei nicht nachvollziehbar, diese Feststellungen 14 Jahre später anzuzweifeln.

19

Die Beklagte hat nach Aufforderung des Senats eine nach Aktenlage erstellte gutachterliche Stellungnahme des MDK vom 08. Oktober 2015 zu dem gerichtlichen Sachverständigengutachten vorgelegt, auf deren näheren Inhalt Bezug genommen wird. Hierin wird zum einen die Verwendung des sog. Denver-Tests zur Beurteilung der allgemeinen kindlichen Entwicklung im Falle des erwachsenen Klägers, der autistische Züge aufweise, als ungeeignet eingeschätzt. Zum anderen wird es als nicht nachvollziehbar bezeichnet, dass die „in den Schulzeugnissen beschriebenen Fähigkeiten nicht mehr vorliegen sollen“. In den Zeugnissen würden „Fertigkeiten und Fähigkeiten des Versicherten“ beschrieben, „welche Rückschlüsse auf eine selbstständige mundgerechte Zubereitung der Nahrung und Nahrungsaufnahme zulassen.“

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Die Beklagte beantragt,

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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts A-Stadt vom 15. Juli 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

24

Er verweist auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung, und vertritt die Auffassung, dass nach wie vor ein Hilfebedarf vorliege, der eine Einstufung in die Pflegestufe II rechtfertige.

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Beide Beteiligte haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Vorsitzenden anstelle des Senats sowie durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Entscheidungsgründe

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Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt und damit bekundet haben, ihren Anspruch auf mindestens eine mündliche Verhandlung (vgl. Art. 6 EMRK) nicht geltend zu machen, sodass der Umstand nicht entgegen steht, dass auch vor dem Sozialgericht, das gemäß § 105 SGG durch Gerichtsbescheid entschieden hat, eine mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat. Ebenfalls mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Vorsitzende anstelle des Senats entscheiden, § 155 Abs. 3 SGG.

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.

28

Das Sozialgericht hat die angegriffenen Bescheide der Beklagten mit im Kern zutreffender Begründung aufgehoben. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann daher zur Begründung im Wesentlichen auf die Ausführungen des Sozialgerichts in der angegriffenen Entscheidung Bezug genommen werden, die sich der Senat nach Prüfung zu Eigen macht. Insoweit sieht der Senat von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

29

Ergänzend sei lediglich Folgendes ausgeführt: Streitgegenstand ist allein, ob die Beklagte berechtigt war, dem Kläger seine aus der bestandskräftigen Bescheidlage resultierenden Rechtsansprüche (teilweise) zu entziehen. Hierfür ist nicht vordergründig entscheidend, ob der Kläger ab dem 01. Februar 2014 die materiellen Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen nach der Pflegestufe II erfüllt.

30

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten, die sich auf § 48 SGB Abs. 1 Satz 1 X stützen, setzen mithin eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse im Sinne einer Reduzierung des Pflegebedarfs voraus. Dabei sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit denjenigen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorgelegen haben, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind. Eine derartige Änderung ist keineswegs bereits dann anzunehmen, wenn bei unveränderten tatsächlichen Verhältnissen lediglich eine abweichende Beurteilung des resultierenden Hilfebedarfs vorgenommen wird. Dabei ist zu beachten, dass die Beklagte, die sich auf eine Änderung der Verhältnisse beruft, grundsätzlich die objektive Beweislast hierfür trägt, also für eine (positive) Abweichung des späteren Zustands von dem früheren (sog. Besserungsnachweis, vgl. BSG, Urteil vom 07. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R). Die Annahme einer „wesentlichen" Änderung setzt zunächst voraus, dass überhaupt eine Änderung der Verhältnisse feststellbar ist. Dabei besteht insbesondere keine allgemeine Beweisvermutung des Inhalts, dass die Verwaltung ihre ursprüngliche Entscheidung rechtmäßig getroffen hat und dass die dieser Entscheidung zugrundeliegende sachverständige Feststellung des Grundpflegebedarfs zutreffend war.

31

Das Sozialgericht hat vorliegend richtigerweise auf die (bestätigende) Leistungsbewilligung im Verwaltungsakt vom 22. Februar 2001 und die dieser zugrundeliegenden Feststellungen im Gutachten vom 08. Februar 2001 als Vergleichsmaßstab abgestellt. Eine wesentliche Änderung der seinerzeitigen Verhältnisse hat der Senat für den Zeitpunkt der Leistungsaufhebung durch die Beklagte nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens trotz Ausschöpfung aller ihm (insbesondere für die Vergangenheit nur eingeschränkt) zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ebenso wenig feststellen können wie das Sozialgericht.

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Im Gegenteil bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die Beurteilung durch die MDK-Gutachterin im Jahre 2001 objektiv fehlerhaft war und insbesondere im Bereich der Ernährung, aber wohl auch im Bereich der Körperpflege einen zu hohen Hilfebedarf angesetzt hat. Wegen der Einzelheiten kann insoweit zum einen auf die Ausführungen des Sozialgerichts in den Entscheidungsgründen Bezug genommen werden. Zum anderen ist insbesondere auf die Ausführungen des MDK in seiner Stellungnahme vom 08. Oktober 2015 zu verweisen. In der Tat ist es nicht nachvollziehbar, dass Fertigkeiten und Fähigkeiten des Klägers, die auf eine selbstständige mundgerechte Zubereitung der Nahrung und Nahrungsaufnahme schließen lassen, wie sie von seiner Schule für die Jahre 1992, 1996 und 1997 beschrieben werden, bereits bei der Begutachtung im Januar 2001 nicht mehr vorgelegen haben sollen, dann aber bei der (ärztlicherseits wegen Dauerzustands für entbehrliche gehaltenen) Wiederholungsbegutachtung im Jahr 2013 wiedergekehrt sein sollen.

33

Es spricht vielmehr alles dafür, dass im Zeitpunkt der Leistungsaufhebung ein im Vergleich zu Anfang 2001 im Wesentlichen unveränderter Gesundheitszustand und Hilfebedarf des Klägers vorgelegen hat. Eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse ist seitens der Beklagten noch nicht einmal nachvollziehbar vorgetragen geschweige objektiv feststellbar. Die oben wiedergegebenen Ausführungen zum „Besserungsnachweis“ im MDK-Gutachten vom 19. November 2013 beschränken sich vielmehr auf eine floskelhafte, mit Hilfe eines Textverarbeitungssystems erstellte Darstellung ohne erkennbaren Bezug zum konkreten Fall. Inwieweit der Kläger durch eine aktivierende Pflege einen höheren Grad an Selbstständigkeit erreicht haben soll, bleibt ebenso nebulös wie die Behauptung, es sei eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes eingetreten.

34

Ausweislich der vom MDK auszugsweise wiedergegebenen Schulzeugnisse liegt es im Gegenteil nahe, dass der Kläger bereits in den 1990er Jahren durch seine schulische Förderung erhebliche Fortschritte gemacht hat, die ihn sogar zur Zubereitung von Mahlzeiten befähigt haben, weshalb die Annahme eines umfassenden Hilfebedarfs im Beriech der Ernährung, wie sie im Gutachten aus dem Jahr 2001 erfolgte, umso weniger nachvollziehbar erscheint. Das Gutachten ist auch insoweit widersprüchlich, als darin ein geistiger Entwicklungsstand des Klägers wie bei einem Vorschulkind (bei unauffälligem körperlichen Befund) beschrieben, gleichwohl aber ein Hilfebedarf in der Grundpflege von etwa 2 ½ Stunden täglich angenommen wird. Ausgehend von den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (Fassung seit Mai 2006) beträgt der Hilfebedarf von gesunden Kindern im Alter von 4 bis 5 Jahren indes lediglich zwischen 52 und 88 Minuten, im Alter von 5 bis 6 Jahren gar nur 35 bis 52 Minuten täglich. Selbst nach der Urfassung der Begutachtungsrichtlinie vom 21. März 1997, die den Hilfebedarf gesunder Kinder noch deutlich undifferenzierter auswies, war ein Höchstbedarf von 2 ½ Stunden täglich lediglich bei Kindern bis zu einem Alter von drei Jahren anzunehmen, keineswegs aber bei Vorschulkindern, für die der Höchstwert mit 1 ¾ Stunden angegeben war.

35

Schließlich erscheint folgender Hinweis geboten: Ohne dass dies den Verwaltungsakten der Beklagten ausdrücklich zu entnehmen wäre, geht der Senat davon aus, dass die ursprüngliche Einstufung des Klägers in die Pflegestufe II (nicht aktenkundiger Bescheid vom 29. Mai 1995) auf der Übergangsvorschrift des Art. 45 Abs. 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vom 26. Mai 1994 (PflegeVG, BGBl. I 1014, 1063) beruhte, wonach diese Einstufung bei vorangegangenen Bezug von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53 bis 57 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch in der bis zum 31. März 1995 geltenden Fassung ohne Antragstellung und ohne Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen nach neuem Recht erfolgte. Für Einschränkung der dem Kläger hieraus erwachsenen Rechtsposition durch eine Aufhebung nach § 48 SGB X bedarf es daher über den Nachweis einer Besserung im Vergleich zu den Verhältnissen bei der letzten Bewilligung im Jahr 2001 hinaus auch eines Besserungsnachweises im Vergleich zum Zustand bei Umstellung auf die Leistungen nach dem SGB XI. Vorauszusetzen ist demnach, dass sich der Pflegebedarf durch Umstände verringert hat, die seit dem 01. April 1995 eingetreten sind, BSG, Urteile vom 13. März 2001 – B 3 P 20/00 R und vom 30. Oktober 2001 – B 3 P 7/01 R. Danach ist vorliegend zusätzlich auszuschließen, dass sich der Pflegebedarf des Klägers seit 1995 zunächst erhöht und zu einem zeitlichen Umfang von 149 Minuten im Jahr 2001 geführt hat, um dann wieder auf ein Maß abzusinken, das (allenfalls) noch im Bereich der Pflegestufe I liegt, vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Oktober 2014 – L 4 P 4961/13.

36

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

37

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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