Urteil vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (6. Senat) - L 6 U 40/17

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 20. März 2017 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand

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Der Kläger begehrt Rente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls.

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Der 1952 geborene Kläger stürzte am 23. Februar 2011 bei seiner Tätigkeit als Elektroinstallateur aus etwa 1 m Höhe und fiel auf die linke Flanke und Schulter. Dabei stieß er mit der linken Schulter gegen eine Treppenkante. Er stellte sich sofort beim Durchgangsarzt Dr F. (Klinikum G.) vor, der eine 3-Teile-Oberarmkopffraktur links diagnostizierte. Der Bruch wurde noch am Unfalltag im Klinikum G. operativ gerichtet und mit Platten und Schlingen stabilisiert (offene Reposition der Oberarmkopffraktur und Osteosynthese mit kurzer Philosplatte Stahl plus 3 Fiberwirecerclagen, vgl Bericht vom 1. März 2011).

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Der Heilung des Knochenbruchs verzögerte sich, eine Schultersteife trat auf. Neben krankengymnastischen Übungsbehandlungen und manuellen Therapien wurden weitere Operationen erforderlich. Am 6. Oktober 2011 wurden die Osteosyntheseplatte entfernt und Verklebungen gelöst (Bericht Klinikum H. vom 13. Oktober 2011). Vom 17. Oktober bis 11. November 2011 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im I. (BGliche Sonderstation J. in K., Abschlussbericht vom 15. November 2011). Nachdem eine Pseudarthrose (Falschgelenk) der Oberarmkopffraktur festgestellt worden war, erfolgten am 30. Januar 2012 im Klinikum H. die Ausräumung der Pseudarthrose und eine erneute Stabilisierung mittels Plattenosteosynthese (Bericht vom 7. Februar 2012). Vom 6. August bis 7. September 2012 befand sich der Kläger in einer stationären Reha-Maßnahme in K. (Abschlussbericht vom 7. September 2012).

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Die Beklagte holte das Erste Rentengutachten von Dr L. (I.) vom 24. Oktober 2012 ein. Der Gutachter schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab 23. Oktober 2012 auf 10 vom Hundert (vH). Die Beklagte zahlte bis 16. November 2012 Verletztengeld und erkannte mit Bescheid vom 8. Januar 2013 als Folgen des Oberarmkopfbruchs an: Bewegungseinschränkung der linken Schulter, Muskelminderung der linken Schulter, schmerzhafte Minderung der Belastbarkeit der linken Schulter und röntgenologisch nachweisbare leichte Fehlstellung des Oberarmkopfes mit noch einliegendem Knochenvereinigungsmaterial. Die Zahlung einer Rente lehnte sie ab, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht um wenigstens 20 vH gemindert sei.

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Während des Widerspruchsverfahrens wurde wegen weiterhin bestehender Schmerzen der linken Schulter am 24. Juni 2013 im Klinikum M. die lange Bizepssehne durchtrennt, am 9. Dezember 2013 wurde die Winkelplatte aus der linken Schulter entfernt (Bericht Klinikum M. vom 10. Dezember 2013). Der Beklagte zahlte vom 21. Juni 2013 bis 14. April 2014 Verletztengeld.

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Prof Dr N. /Dr O. (Klinikum M.) schätzten in ihrem unfallchirurgischen Gutachten vom 28. Mai 2015 (gemeint 2014) die MdE seit dem 17. November 2012 auf 20 vH. Dagegen hielt der beratende Arzt Dr P. die MdE-Bewertung für zu großzügig (Stellungnahme vom 30. Juli 2014): Der Heilverlauf sei zwar verzögert, im Endeffekt sei es aber zu einer knöchernen Konsolidierung und zu einer erfreulich guten Wiederherstellung der Beweglichkeit gekommen. Die Gutachter seien in der Bewertung der Unfallfolgen von den Standardempfehlungen abgewichen. Mit Schreiben vom 31. Oktober 2014 korrigierten die Gutachter nach nochmals kritischer Durchsicht der Aktenlage die MdE auf 10 vH.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

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Dagegen hat der Kläger am 9. Dezember 2014 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Es hat auf seinen Antrag das unfallchirurgisch-orthopädische Gutachten des Dr Q. vom 11. Januar 2017 eingeholt, der die MdE ebenfalls auf 10 vH geschätzt hat. Aktuell liege kein Gewebsuntergang (Nekrose) des Oberarmkopfknochens vor. Das SG hat sich der Bewertung angeschlossen und die Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 20. März 2017 abgewiesen.

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Dagegen hat der Kläger am 11. April 2017 Berufung eingelegt, die er zunächst nicht weiter ausgeführt hat.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 20. März 2017 zurückzuweisen.

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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (Schriftsätze der Beklagten vom 3. Mai und des Klägers vom 27. September 2019).

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Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2019 hat der Kläger vorgebracht, die „unfallbedingte Situation“ habe sich „nach Begutachtung erheblich verschlechtert.“ Dieses werde die „Einholung eines Sachverständigengutachtens auf Basis eines nur zu erstellenden MRT ergeben“, die er beantrage. Er schätze die MdE infolge der „massiven Einschränkungen und Schmerzen inzwischen weit über 20 %“ ein.

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Dem Senat haben neben den Prozessakten die Unfallakten der Beklagten vorgelegen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung bleibt ohne Erfolg. SG und Beklagte haben zu Recht einen Rentenanspruch verneint.

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Der Senat entscheidet aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Daran ist er nicht durch den nach der Beratung eingegangenen Schriftsatz des Klägers gehindert und diese Beurteilung bedarf nicht der (erneuten) Heranziehung der ehrenamtlichen Richter (dazu näher unten). Das mit Schriftsatz vom 27. September 2019 erklärte Einverständnis ist nicht durch den im Schriftsatz vom 23. Oktober 2019 dargelegten Sachverhalt verbraucht. Denn es erfolgte in Kenntnis dieses Sachverhalts: Die behauptete Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers besteht nach diesem Vortrag bereits seit Ende des Jahres 2018 und somit schon lange vor der Erklärung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.

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Gemäß § 56 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) – Gesetzliche Unfallversicherung – setzt der Anspruch auf Verletztenrente eine MdE von wenigstens 20 vH voraus. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Dass der Kläger verletzungsbedingt nicht mehr als Elektroinstallateur arbeiten konnte, kann deshalb nicht in die MdE-Bewerung einfließen. Sie hängt zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl BSG Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R - mwN).

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Die Entscheidung der Frage, in welchem Grade die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dabei liegt die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die in MdE-Tabellen zusammengefasst sind. Diese bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperlich und geistige Funktionseinschränkungen einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (BSG aa0). Sie stellen in erster Linie auf das Ausmaß der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigungen ab.

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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann nicht festgestellt werden, dass die durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 2011 bedingte MdE des Klägers 20 vH beträgt.

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Die Beklagte hat folgende Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen anerkannt: Bewegungseinschränkung der linken Schulter, Muskelminderung der linken Schulter, schmerzhafte Minderung der Belastbarkeit der linken Schulter und röntgenologisch nachweisbare leichte Fehlstellung des Oberarmkopfes mit noch einliegendem Knochenvereinigungsmaterial. Diese Unfallfolgen im Bereich der linken Schulter bedingen keine MdE von mindestens 20 vH.

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Sowohl der vom Beklagten beauftragte Gutachter Dr L. als auch der vom Kläger benannte Sachverständige Dr Q. haben die MdE übereinstimmend mit 10 vH bewertet. Auch Prof Dr N. /Dr O. haben ihre frühere MdE-Bewertung nicht aufrechterhalten. Diese Einschätzung stimmt überein mit den versicherungsmedizinischen Erfahrungssätzen.

22

Bei der Bemessung der MdE bei Verletzungen einer Schulter ist eine MdE um 20 vH zB anzunehmen bei einer Bewegungseinschränkung vorwärts oder seitwärts nur bis 90 Grad bei freier Rotation (zB Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage S 560). Auch wenn sich im vorliegenden Fall der Heilverlauf erheblich verzögert und verkompliziert hat, ist erfreulicherweise eine so gravierende Funktionseinschränkung nicht verblieben, nicht zuletzt, weil der Kläger durch beständige Krankengymnastik die Beweglichkeit der Schulter erhalten hat.

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Der Kläger konnte bei allen Begutachtungen den linken Arm über 90 Grad vorheben und seitwärts anheben (jeweils 170 Grad am 22. Oktober 2012, 130 Grad am 21. Mai 2014 und 160 Grad am 4. Januar 2017). Die noch bestehenden Ruhe- und Bewegungsschmerzen, die nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr Q. auch durch die degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule hervorgerufen werden können, führen nicht zu einer höheren MdE. Denn auch sie führen nicht zu einer vermehrten Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes. Dagegen spricht, dass sich bei keiner Untersuchung wesentliche muskuläre Unterschiede der oberen Extremitäten fanden.

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Die vom Kläger im Schriftsatz vom 23. Oktober 2019 behauptete Verschlechterung der „unfallbedingten Situation“ gibt keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen, insbesondere zur Einholung eines „Sachverständigengutachtens auf Basis eines neu zu erstellenden MRT“. Diese Entscheidung bedarf nicht der (erneuten) Heranziehung der ehrenamtlichen Richter. Entsprechend der (Ablehnung einer) Wiedereröffnung des Verfahrens nach § 121 Satz 2 SGG entscheiden über die Erheblichkeit des neuen Vorbringens zur Fortführung des Verfahrens allein die Berufsrichter (Bergner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 124 SGG Rn 77 Stand: 7.5.2018). Die im Schriftsatz vom 23. Oktober 2019 angeführten Schmerzen und Beschwerden schilderte der Kläger bereits bei der Untersuchung durch den – auf seinen Antrag vom SG gehörten – Sachverständigen Dr Q. (s im Einzelnen S 8 f des Gutachtens vom 11. Januar 2017 unter 4: Aktuelle Beschwerden und 6.1: Medikamentöse Therapie) und entscheidend für die Schätzung der MdE ist – wie ausgeführt – der unfallbedingte Funktionsverlust. Dazu, insbesondere zu dem Bewegungsmaß des linken Arms enthält der aktuelle Schriftsatz keine Angaben. Allein Bildaufnahmen sind für die Schätzung der MdE nicht maßgebend, so dass auch deshalb der Beweisanregung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens „auf der Basis eines neu zu erstellenden MRT“ nicht nachgegangen werden muss. Sachverhaltsermittlungen „ins Blaue hinein“ muss der erkennende Senat nicht führen (stRspr zB BSG Beschluss vom 24. Januar 2018 – B 13 R 377/15 B – mwN). Sollte sich der unfallbedingte Funktionsverlust des linken Arms tatsächlich vergrößert haben, bleibt es dem Kläger zur Wahrung etwaiger Ansprüche unbenommen, bei der Beklagten einen Verschlimmerungsantrag zu stellen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), sind nicht gegeben

 


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