Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (11. Senat) - L 11 B 30/07 AS ER

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 18. Januar 2007 abgeändert.

Es wird festgestellt, dass die Klage der Antragstellerin vom 13. Dezember 2006 (S 7 AS 2267/06) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14. Dezember 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 hinsichtlich der dort geforderten Erstattung in Höhe von 3.154,62 EUR aufschiebende Wirkung hat.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Instanzen zu erstatten.

Gründe

I.



1

Mit Bescheid vom 16. März 2005 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin und ihrem Ehemann Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 1. März 2005. Mit Schreiben vom 30. August 2006 wies der Antragsgegner auf seiner Auffassung nach zu Unrecht bezogenes Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. April bis 30. September 2005 in Höhe von 3.154,62 EUR hin und gab der Antragstellerin und ihrem Ehemann Gelegenheit zur Stellungnahme. Zur Begründung wies er auf in dieser Zeit bezogenes Einkommen des Ehemannes der Antragstellerin hin, das zu einem geringeren Leistungsanspruch geführt habe. Mit Bescheid vom 14. Dezember 2005 hob der Antragsgegner den Bewilligungsbescheid vom 16. März 2005 und die nachfolgenden Änderungsbescheide teilweise auf und forderte die Erstattung der überzahlten Beträge. Dem widersprach die Antragstellerin und bat um Aussetzung der Vollstreckung. Dies lehnte der Antragsgegner ab, sah aber von einer zwangsweisen Geltendmachung der Erstattung ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2006 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin am 13. Dezember 2006 Klage beim Sozialgericht Schleswig erhoben (S 7 AS 2267/06).

2

Am 10. Januar 2007 hat die Antragstellerin darüber hinaus beim Sozialgericht Schleswig einen Antrag auf Gewährung eines einstweiligen Rechtsschutzes gestellt und die Feststellung beantragt, dass ihre Klage gegen die geforderte Erstattung aufschiebende Wirkung entfaltet. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 18. Januar 2007 die aufschiebende Wirkung der Klage insoweit angeordnet, als ein Betrag von mehr als 414,75 EUR zurückgefordert worden ist. Zur Begründung hat es sich auf die in Literatur und Rechtsprechung vertretene Auffassung gestützt, nach der Klagen gegen Rückforderungsbescheide auf zu viel gezahltes Arbeitslosengeld II nach § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung hätten.

3

Gegen die ihr am 23. Januar 2007 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 23. Februar 2007 eingelegte Beschwerde der Antragstellerin. Zur Begründung nimmt sie Bezug auf Entscheidungen von Sozial- und Landessozialgerichten sowie Auffassungen in der Literatur, wonach Widerspruch und Anfechtungsklagen gegen auf Arbeitslosengeld II bezogene Erstattungsbescheide aufschiebende Wirkung hätten.

4

Der Antragsgegner beantragt,

5

die Beschwerde zurückzuweisen,

6

und bemängelt die in dem Beschluss vorgenommene Berechnung der Forderung, da die gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II vorzunehmende prozentuale Aufteilung nicht berücksichtigt worden sei.

II.

7

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Die Klage gegen die Rückforderung des gesamten Betrages von 3.154,62 EUR hat aufschiebende Wirkung.

8

Verfahrensrechtliche Grundlagen für den von der Antragstellerin begehrten einstweiligen Rechtsschutz finden sich in § 86a und § 86b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG ordnet als allgemeiner Grundsatz die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage an und bestimmt in Absatz 2 Ausnahmen hierzu, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt. Als eine dieser Ausnahmen regelt § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, dass ein Bundesgesetz den Nichteintritt der aufschiebenden Wirkung bestimmt. Ein solcher Fall ist jedoch nicht gegeben. Der insoweit in dem angefochtenen Beschluss in Bezug genommene § 39 Nr. 1 SGB II findet auf den vorliegenden Fall der Erstattung überzahlten Arbeitslosengeldes II keine Anwendung.

9

§ 39 SGB II bestimmt: „Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der 1. über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet oder 2. den Übergang eines Anspruchs bewirkt, haben keine aufschiebende Wirkung.“ Ob diese Vorschrift auch die Rückforderung bzw. Erstattung von Leistungen für vergangene Bewilligungszeiträume erfasst, ist in der Rechtsprechung und Literatur umstritten. Hinsichtlich der hierzu vertretenen Auffassungen verweist der beschließende Senat auf den angefochtenen Beschluss, in dem diese Auffassungen wiedergegeben werden. Der Senat ist der Auffassung, dass nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck die Vorschrift auf die Rückforderung von Arbeitslosengeld II für vergangene Bewilligungszeiträume keine Anwendung findet.

10

Soweit ein Bescheid eine Änderung der Leistung nach dem SGB II gemäß §§ 45 oder 48 des Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X) vornimmt, handelt es sich um eine Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung; soweit hingegen eine Erstattung überzahlter Leistungen der Grundsicherung nach § 50 SGB X gefordert wird, handelt es sich nicht um eine Leistung der Grundsicherung, sondern um eine Rückleistung. Denn nur im ersteren Fall geht es unmittelbar um die Sozialleistung, wie sie auch in § 19a Abs. 1 des Ersten Sozialgesetzbuches (SGB I) als Ausfluss sozialer Rechte gemäß § 2 SGB I bestimmt wird. Anders verhält es sich hingegen bei Erstattungsansprüchen nach § 50 SGB X, da es sich nunmehr um einen Rückforderungsanspruch des Leistungsträgers gegen den ursprünglichen Leistungsempfänger handelt. Damit ändert sich die rechtliche Zuordnung von einer Leistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende in einen Bereicherungsanspruch (vgl. Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts v. 5.3.2007 - L 10 B 15/07 AS ER -). Dieser ist auf Zahlung des Erstattungsbetrages allgemein gerichtet, ohne dass es auf die Herkunft des Rückzahlungsbetrages ankommt.

11

Aber auch wenn der Wortlaut der Vorschrift nicht als so eindeutig erachtet wird, ist eine restriktive Auslegung in diesem Sinne geboten. Denn wie bereits oben ausgeführt, bestimmt § 86a SGG in seinem Absatz 1 als allgemeinen Grundsatz die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage, während § 39 SGB II i.V.m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG als Ausnahmeregelung die aufschiebende Wirkung entfallen lässt. Es ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, dass diese Ausnahmeregelung erweiternd auszulegen ist.

12

Das folgt bereits aus der Systematik der Vorschrift des § 39 SGB II und hier aus einem direkten Vergleich der Nr. 1 mit der Nr. 2. Bei einer weiten Auslegung des Begriffs der Leistungen nach der Nr. 1 wäre die Regelung der Nr. 2 nämlich überflüssig, da auch der Übergang von Ansprüchen letztlich Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose betrifft (Conradis in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 39 Rdnr. 7). Auch ein Vergleich mit dem § 39 SGB II ähnlichen Regelungen aus dem Bereich des Sozialrechts spricht gegen eine erweiternde Auslegung der Vorschrift. Denn in den dem Arbeitslosengeld II vergleichbaren Regelungen im Bereich des Arbeitslosengeldes I und der früheren Arbeitslosenhilfe sowie auch im Bereich der Sozialhilfe fehlt es an einer Parallelvorschrift im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II. Jedenfalls erfassen die Regelungen, nach denen die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage entfällt, wie § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG, § 336a des Dritten Sozialgesetzbuches und § 93 Abs. 3 des Zwölften Sozialgesetzbuches die Rückforderungsansprüche zu viel erbrachter Leistungen gegen den Leistungsempfänger nicht. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber im SGB II für die dort geregelten Leistungen zum Arbeitslosengeld II etwas anderes hat regeln wollen. In dem Fall wäre jedenfalls zu erwarten gewesen, dass dies durch eine eindeutige Regelung geschieht. Auch in der Gesetzesbegründung zu § 39 (BT-Drucks 15/1516, S. 63) ergibt sich kein Anhalt dafür.

13

Die von der Gegenauffassung vertretene erweiternde Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II mit der Erstreckung auch auf Rückforderungsbeträge berücksichtigt nicht hinreichend die Belastungen, die sich in der Regel bereits aus der Verringerung oder der Aufhebung laufender zukunftsbezogener Leistungen ergeben. Für die laufenden Leistungen, bei denen im Falle einer Verringerung Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, wird so vermieden, dass der Leistungsträger gezwungen wird, ggf. laufend fehlerhafte Leistungen auszuzahlen.

14

Eine gleiche Interessenlage besteht bei bereits gezahlten und überzahlten Beträgen dagegen nicht. Deshalb verbleibt es insoweit bei der Grundregel des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG.

15

Dies ist auch sachgerecht, denn durch eine Rückforderung wird der Betroffene häufig zeitgleich mit einer Verringerung oder Aufhebung von laufenden Leistungen zusätzlich belastet. Auf jeden Fall betreffen Rückforderungsansprüche in der Regel längere Zeiträume und belasten damit den Erstattungspflichtigen durch den hohen Erstattungsbetrag erheblich.

16

Die von der Gegenauffassung angeführten Argumente vermögen den beschließenden Senat nicht zu überzeugen. Soweit es Sinn und Zweck des § 39 SGB II sein soll, eine umgehende staatliche Reaktion auf unrechtmäßiges bzw. sozialwidriges Verhalten zu gewährleisten und potentielle Nachahmer abzuschrecken (Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23.11.2006 - L 6 B 292/06 AS ER -), findet sich dafür weder im Gesetzeswortlaut noch in der in der Entscheidung angegebenen Gesetzesbegründung ein Anhalt. Vielmehr wiederholt die Gesetzesbegründung zu § 39 (BT-Drucks 15/1516, S. 63) lediglich den Inhalt der Vorschrift, weist jedoch nicht auf einen bestimmten Sinn und Zweck hin. Auch für die insoweit behauptete „bewusste gesetzgeberische Entscheidung“, solche Verwaltungsakte ausnahmslos sofort zu vollziehen, findet sich weder im Wortlaut des Gesetzes noch in seinen Materialien ein Anhalt. Vielmehr stellt sich bei einem solchen der Vorschrift beigemessenen Sinn die Frage, warum nicht auch potentielle Nachahmer anderer Leistungen, z. B. die Bezieher von Arbeitslosengeld I und Sozialhilfe, abgeschreckt werden sollen und warum dort eine umgehende staatliche Reaktion nicht erforderlich ist. Jedenfalls ist kein Grund dafür ersichtlich, diese nur auf Arbeitslosengeld II-Empfänger zu beschränken (zur verfassungsrechtlichen Problematik im Hinblick auf Art. 3 Grundgesetz s. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39 Rdnr. 3).

17

Aus diesen Gründen ist dem Antrag der Antragstellerin stattzugeben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14. Dezember 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 insoweit auszusprechen, als es um die auf § 50 SGB X gestützte Erstattungsforderung in Höhe von 3.154,62 EUR geht.

18

Der Senat geht davon aus, dass der Antragsgegner keine Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt hat. Zwar wendet er sich gegen die darin vorgenommene Berechnung der Forderung, sein Antrag geht hingegen nur auf Zurückweisung der Beschwerde der Antragstellerin.

19

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Im Hinblick auf diese Kostenentscheidung und den damit einhergehenden Erstattungsanspruch gegenüber dem Antragsgegner sieht der Senat von einer Entscheidung über den von der Antragstellerin gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab.

20

Gleiches gilt für die Beschwerde gegen Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren.

21

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).


Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen