Urteil vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (6. Senat) - L 6 U 40/07

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen einer Berufskrankheit in Form einer obstruktiven Atemwegserkrankung im Sinne von Nrn. 4301/4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung.

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Der am ... 1959 geborene Kläger zeigte der Beklagten mit Schreiben vom 7. Juli 2004 eine Berufskrankheit an. Er teilte mit, er habe zwischen August 2001 und August 2002 als Entsorger bei Abrissarbeiten mit asbestverseuchtem Material Umgang gehabt. Zwischen August 2002 und August 2003 sei er bei Abrissarbeiten mit Stemmarbeiten zur Putzentfernung beschäftigt gewesen. Seit dem 18. August 2003 sei er (so zutreffend) arbeitsunfähig.

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Die Beklagte holte Befundberichte ein. In dem Bericht der Internistin Dr. S. war die Diagnose einer chronischen Bronchitis und Tracheitis mit dem Ergebnis von Lungenfunktionsprüfungen vom 25. August 2003, 7. Januar 2004 und 5. Mai 2004 verzeichnet, die einheitlich eine leichte restriktive Ventilationsstörung ergaben. Der Internist und Pneumologe Dipl.-Med. N. berichtete über eine Begutachtung am 29. April 2004. Aus seinem Bericht über die Ergebnisse an die Hausärztin folgte der Nachweis einer leichten Restriktion in der Lungenfunktionsprüfung.

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Der Kläger ist seit Ablauf des Jahres 2005 arbeitslos; die Arbeitsunfähigkeit hatte bis dahin angedauert.

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Nach Beiziehung einer abschlägigen gewerbeärztlichen Stellungnahme lehnte die Beklagte die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nummern 4301/4302 der Berufskrankheiten-Liste ab. Sie führte aus, eine obstruktive Atemwegserkrankung bzw. Inhalationsallergie sei zu keiner Zeit festgestellt worden. Der dagegen gerichtete Widerspruch des Klägers ging am 13. Oktober 2005 bei der Beklagten ein. Der Kläger beanspruchte ausdrücklich die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4302 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung und führte u. a. aus: "Um eine allergisch bedingte obstruktive Atemwegserkrankung handelt es sich nicht". Er machte sodann geltend, obstruktive Atemwegserkrankung sei ein Oberbegriff, der auch bei ihm vorliegende Entzündungen des Rachens, des Kehlkopfes und der Nasennebenhöhlen umfasse.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2006 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück und führte aus, die Entzündungen des Rachens, Kehlkopfes und der Nasennebenhöhlen fielen nicht unter die Berufskrankheit Nr. 4302. Bei Lungenfunktionsprüfungen sei nur eine leichte Restriktion, aber keine Obstruktion festgestellt worden.

7

Mit der noch im August 2006 beim Sozialgericht Dessau eingegangenen Klage hat der Kläger sein Anliegen weiter verfolgt. Das Gericht hat ein Gutachten der Fachärztin für Arbeitsmedizin/Umweltmedizin Dr. B. von der Sektion Arbeitsmedizin der Universität H. vom 17. November 2006 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 18 - 36 d. A. Bezug genommen wird. Die Sachverständige hat im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger leide zwar an einer chronischen Bronchitis als einem Krankheitsbild im Sinne einer BK 4302. Der Gesetzgeber habe aber die Entschädigung für den Fall einer bereits vorliegenden Atemwegsverengung, einer Obstruktion, vorgesehen. Diese sei beim Kläger bisher nicht nachgewiesen. Auch habe nach den vorliegenden Unterlagen keine passende Exposition vorgelegen.

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Mit Urteil vom 21. Februar 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Beklagte habe die Anerkennung einer Berufskrankheit nach den Nummern 4301 und 4302 zu Recht abgelehnt. Die Lungenfunktionsprüfungen hätten nur eine leichte Restriktion, jedoch keine Obstruktion ergeben.

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Gegen das ihm am 5. März 2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. April 2007 Berufung eingelegt und dazu ausgeführt, nach der von ihr selbst gegebenen Definition hätte die Sachverständige eigentlich eine obstruktive Atemwegserkrankung bestätigen müssen. Die erhobenen Werte auf mangelnde Mitarbeit zurückzuführen sei spekulativ. Zudem lägen neue Befunde vor.

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Der Kläger beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 21. Februar 2007 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 20. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach den Nrn. 4301/4302 der Berufskrankheitenliste festzustellen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie führt aus, es treffe nicht zu, dass sich aus dem Gutachten von Dr. B. eine obstruktive Ventilationsstörung ergebe. Die dazu erforderliche Erniedrigung des Quotienten aus Vitalkapazität und forciertem expiratorischen Volumen sei bei elf Untersuchungen nur einmal festgestellt worden. Zudem habe die Sachverständige nachvollziehbar eine nicht optimale Mitwirkung des Klägers festgestellt. Eine weitere Begutachtung sei auch deshalb nicht hilfreich, weil der Beweis der beruflichen Entstehung einer obstruktiven Atemwegserkrankung selbst dann nicht zu führen sei, wenn vier Jahre nach Wegfall beruflicher Belastungen eine solche Erkrankung nachweisbar wäre. Soweit im Rentenverfahren Dr. R. nunmehr eine chronischobstruktive Bronchitis diagnostiziert habe, sei dies nach dem Gutachten von Dr. B. nicht nachvollziehbar und aus den erhobenen Werten nicht abzuleiten. Die Einschätzung von Dr. B. finde auch ihre Stütze in der medizinischen Literatur. Wegen der beigefügten medizinischen Literatur wird auf Bl. 133 - 145 d. A. verwiesen.

15

Das Gericht hat einen Befundbericht des Facharztes für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. S. vom 19. September 2008, Bl. 94 - 99 d. A. und Rentengutachten der Fachärztin für Innere Medizin/Pulmologie Dr. R. vom 22. März 2008, Bl. 112 -117 d. A. und von MR D ... A. vom 7. März 2009, Bl. 118 - 129 d. A., beigezogen.

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Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

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Bei der Beratung und Entscheidungsfindung hat die Akte der Beklagten - Az. 049 20012 9 929 - vorgelegen.

Entscheidungsgründe

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Die gem. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat teilweise Erfolg, der aber im Ausspruch nicht zu berücksichtigen war. Soweit der Kläger im Berufungsverfahren eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf Anerkennung auch der Berufskrankheit nach Nr. 4301 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung erhebt, ist sie gem. § 78 Abs. 1 S. 1 SGG unzulässig, weil darüber kein Vorverfahren stattgefunden hat. Denn mit der Widerspruchsbegründung vom 1. März 2006 hat der Kläger zumindest einen vorher ggf. weiter reichenden Widerspruch teilweise zurückgenommen; die erforderliche Teilbarkeit zwischen zwei Berufskrankheiten besteht. Insoweit ist das Vorverfahren von Anfang an ohne Bestand, weil der Widerspruch als nicht eingelegt gilt (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 83 Rdnr. 5). Der Kläger hatte mit der Widerspruchsbegründung vom 1. März 2006 seinen Widerspruch auf die Prüfung einer Berufskrankheit nach Nr. 4302 der Anl. zur Berufskrankheiten-Verordnung beschränkt. Darin kann auch kein Schreibfehler gesehen werden, weil die Begründung auch den Satz enthält, mit dem der Kläger selbst den gesamten Tatbestand einer Berufskrankheit nach Nr. 4301 der Anl. zur Berufskrankheiten-Verordnung für nicht gegeben erklärt. Soweit bereits das Sozialgericht über eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen die Ablehnung einer Berufskrankheit nach Nr. 4301 der Anl. zur Berufskrankheiten-Verordnung entschieden hat, war dies fehlerhaft; insoweit ist der Kläger formell beschwert, weil die Entscheidung ablehnend ist. Eine solche Klage hatte der Kläger nicht erhoben. Die fristwahrende Klage enthielt keinen Antrag; vielmehr hat der Kläger sich diesen ausdrücklich vorbehalten. Einen sinngemäßen oder ausdrücklichen Antrag hat der Kläger vor dem Sozialgericht aber nicht mehr gestellt. Das Sozialgericht hat auch nicht im Sinne von § 106 Abs. 1 SGG vor der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf sachdienliche Anträge hingewirkt. Nach den sonstigen Umständen ist nur davon auszugehen, dass das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 4301 der Anl. zur Berufskrankheiten-Verordnung nicht Gegenstand der Klage vor dem Sozialgericht sein sollte, weil es schon nicht mehr Gegenstand des Vorverfahrens war. Aufschlüsse über den Umfang der Klage kann der Senat angesichts des Fehlens verwertbarer Äußerungen im Klageverfahren nur dem vorangegangenen Vorverfahren entnehmen. Zumindest besteht keinerlei Grund zu der Annahme, die Klage habe Gegenstände umfassen sollen, die nicht mehr Gegenstand des vorangegangenen Widerspruchs waren. Andere Schlüsse lassen sich nicht daraus ziehen, dass der Kläger unter genauer Übernahme des vom Sozialgericht in seinem Urteil formulierten Streitgegenstandes nunmehr im Berufungsverfahren auch wieder die Anerkennung der Berufskrankheit zu Nr. 4301 der Berufskrankheitenliste verfolgt. Die Überschreitung des Klageanliegens durch das Sozialgericht braucht nicht im Urteilsausspruch berücksichtigt zu werden. Der Ausspruch des Sozialgerichts - die Klageabweisung - kann aufrecht erhalten bleiben, weil der Kläger die entsprechende Klage nunmehr im Berufungsverfahren - wie dargelegt unzulässig - erhoben hat und sie (jetzt) abzuweisen ist. Der Bescheid der Beklagten vom 20. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2006 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S. 1 SGG, soweit er sachlich zu prüfen ist. Die Ablehnung der Beklagten, eine Berufskrankheit nach Nr. 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) in der Fassung durch VO v. 11. Juni 2009 (BGBl. I S. 1273, insoweit gegenüber den Fassungen seit Inkrafttreten in den östlichen Bundesländern unverändert) anzuerkennen, ist rechtmäßig. Der Kläger hat seine Tätigkeit als Abrissarbeiter nicht unter dem Zwang zur Unterlassung dieser Tätigkeit wegen deren Ursächlichkeit für eine obstruktive Atemwegserkrankung aufgegeben, wie es der Tatbestand der Berufskrankheit nach Nr. 4302 der Anl. 1 zur BKV aber erfordert. Denn es ist schon nicht feststellbar, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit spätestens durch Eintritt der Arbeitslosigkeit zum Jahresende 2005 bereits unter einer obstruktiven Atemwegserkrankung litt.

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Nach der sprachlichen Fassung des Tatbestandes der Nr. 4302 der Anl. 1 zur BKV steht die Aufgabe der maßgeblichen Tätigkeiten in einem zeitlichen Zusammenhang zur maßgeblichen Krankheit. Grundsätzlich geht es um Krankheiten, die die Aufgabe von Tätigkeiten erzwungen haben, weil die Tätigkeiten - schon vorher - für die Entstehung oder Verschlimmerung der Krankheit ursächlich waren. Die Krankheit muss wenigstens mit der Entstehung des Zwangs schon vorgelegen haben. Weiterhin muss die Aufgabe der Tätigkeit erzwungen sein, d. h. die Tätigkeit muss bis zum Entstehen des Zwangs noch ausgeübt worden sein. Auch wenn sie nicht subjektiv wegen des entstandenen Zwanges aufgegeben worden sein muss, sondern dafür andere Motive entscheidend gewesen sein dürfen (BSG, Urt. v. 8. 12. 1983 - 2 RU 33/82 - BSGE 56, 94), muss das Ende der Tätigkeit objektiv durch gesundheitlichen Zwang erklärbar sein. Insgesamt muss der Versicherte die gesundheitsschädigenden Tätigkeiten (objektiv) durch die Krankheit gezwungen unterlassen haben; die tatsächliche Unterlassung muss (nach den objektiven Schädigungszusammenhängen) wesentlich durch die Krankheit verursacht worden sein (BSG, Urt. v. 29. 8. 1980 - 8a RU 72/79 - BSGE 50, 187, 188).

20

Soweit die Vorschrift auch auf Tätigkeiten abstellt, die - zukünftig - ursächlich für Krankheiten sein können, bezieht sie sich auf die dort genannte Fallgruppe des Wiederauflebens, dessen Möglichkeit ebenfalls den Aufgabezwang begründen kann. Auch dieser Fall setzt aber nach der Vorsilbe "Wieder-" mit Notwendigkeit voraus, dass die Krankheit schon früher vorgelegen hat. Auch insoweit muss sie zeitlich dem entstandenen Zwang vorausgegangen sein.

21

Für dieses Verständnis der notwendigen zeitlichen Reihenfolge innerhalb des Tatbestandes spricht auch die Fassung der Ermächtigungsnorm des § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII, wonach die maßgebliche Krankheit sogar für die Unterlassung ursächlich gewesen sein müsste, nämlich zur Unterlassung "geführt haben" müsste. Wenn auch diese engere Ausdrucksweise losgelöst von subjektiven Beweggründen durch den objektiven Zwang zur Aufgabe ausgefüllt wird, wird aber deutlich, dass die Krankheit vor der Tätigkeitsaufgabe vorgelegen haben muss.

22

Im Fall des Klägers ist die maßgebliche obstruktive Atemwegserkrankung vor Aufgabe der Entsorgertätigkeit nicht ersichtlich. Noch bei der Begutachtung durch die Sachverständige Dr. B. hat sich eine obstruktive Atemwegserkrankung ausschließen lassen. Ihre Beurteilung ist vollständig nachvollziehbar. Sie hat ausgeführt, eine obstruktive Erkrankung sei auszuschließen, weil bei insgesamt elf Untersuchungen der Quotient aus Atemumfang und Ausatmungsumfang pro Sekunde nur einmal erniedrigt gewesen sei. Diese Verminderung sei als zweite Voraussetzung - neben der Verminderung des Ausatmungsumfangs pro Sekunde - aber notwendig mit einer obstruktiven Atemwegserkrankung verbunden. Dieses Ergebnis ist noch markanter, weil dem Kläger nahezu durchgehend keine ausreichende Mitarbeit gelungen ist und dies nach den Ausführungen der Sachverständigen zu verschlechterten Ergebnissen führt. Soweit die Sachverständige selbst ein zufrieden stellendes Atemmanöver erheben konnte, waren beide maßgeblichen Werte - Ausatmungsumfang pro Sekunde und Quotient aus Atemumfang und Ausatmung pro Sekunde - noch im Normbereich. Auch vor der Begutachtung durch Dr. B. hat kein behandelnder Arzt aus Lungenfunktionsprüfungen die Schlussfolgerung auf eine Obstruktion gezogen. Dazu bestand nach den von Dr. B. ausgewerteten Funktionsprüfungen Dr. S.s auch insoweit kein Anlass, als diese 2005 erhoben worden sind. Denn auch dort wurde durchgehend ein Quotient (im o. a. Sinne) von mehr als 80 % erhoben, der nach den Voraussetzungen Dr. B.s nicht für eine obstruktive Atemwegserkrankung spricht. Soweit der Kläger sich gegen die Ausführungen der Sachverständigen mit dem Hinweis auf die häufig erhobenen, erniedrigten Werte des Ausatmungsumfangs pro Sekunde wendet, verkennt er, dass diese allein nach den Ausführungen der Sachverständigen nicht die Diagnose einer obstruktiven Lungenfunktionsstörung erlauben, sondern eine Erniedrigung des beschriebenen Quotienten hinzukommen muss. Diese begrenzte Bedeutung einer Erniedrigung des Ausatmungsumfangs pro Sekunde allein wird durch die von der Beklagten vorgelegten Auszüge aus medizinischer Literatur auch bestätigt.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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Gründe für die Zulassung der Revision liegen gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG nicht vor.


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