Urteil vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (3. Senat) - L 3 R 359/12

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 17. Juli 2012 aufgehoben, der Bescheid der Beklagten vom 18. März 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2010 geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. Oktober 2008 zu bewilligen.

Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren über die Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

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Der am ... 1956 geborene Kläger absolvierte nach seiner Schulausbildung (10.-Klasseabschluss) vom 1. September 1973 bis zum 31. August 1975 erfolgreich eine Berufsausbildung zum "Baufacharbeiter" (Facharbeiterzeugnis vom 15. Juli 1975). Er war zunächst als "Baufacharbeiter, Schweißer, Schichtführer" und vom 18. April 1994 bis zum 30. Juni 2000 bei der W. und T. AG (die sich seit 2007 in Insolvenz befindet) als Zimmermann/Einschaler und Betonarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt.

3

Der Kläger erlitt am 7. Juli 1997 durch Gewaltanwendung erhebliche Schädigungen im Gesichtsbereich. Auf den Antrag des Klägers vom 2. November 1997 stellte das Landesverwaltungsamt mit Bescheid vom 27. Juli 2004 die Gewährung einer Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach § 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs fest. In dem Bescheid wird festgestellt, der Kläger habe in seinem ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich ausgeübten Beruf einen Einkommensverlust. Maßgebend sei insoweit der Beruf des Baufacharbeiters.

4

Der Arbeitsmedizinische Dienst der Bau-Berufsgenossenschaft H. stellte unter dem 4. Februar 2000 dauernde gesundheitliche Bedenken für die Fortsetzung der Tätigkeit des Klägers fest. Der Kläger ist seit dem 1. Juli 2000 arbeitslos. Die Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt (LVA), deren Rechtsnachfolgerin die Beklagte ist, lehnte den Rentenantrag des Klägers vom 3. Mai 2000 bestandskräftig ab. Der Kläger nahm vom 30. April 2002 bis zum 13. Januar 2004 an einer Umschulung zum "Bürokaufmann" an der Deutschen Angestellten Akademie (DAA) teil, deren Kosten vom Rentenversicherungsträger getragen wurden. Unter dem 13. Januar 2004 erteilte ihm die Industrie- und Handelskammer M. das Prüfungszeugnis nach § 34 Berufsbildungsgesetz (BBiG). Unterlagen über besondere gesundheitliche Vorkommnisse lagen nach Angaben der Ausbildungseinrichtung nicht bzw. nicht mehr vor.

5

Der Kläger beantragte am 21. Oktober 2008 bei der Beklagten erneut die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog zunächst die Unterlagen aus dem vorausgegangenen Rentenverfahren bei. Dem Befundbericht der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. S. vom 6. Juni 2000 ist eine von ihr attestierte Arbeitsunfähigkeit des Klägers seit dem 7. Februar 2000 auf Grund der von ihm angegebenen Doppelbilder in allen Blickrichtungen zu entnehmen. Aus dem beigefügten Bericht der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Universität M. vom 17. Juli 1997 geht hervor, der Kläger sei dort vom 7. bis zum 17. Juli 1997 stationär behandelt worden, nachdem er unter Alkoholeinfluss stehend zusammengeschlagen worden sei. Er habe bei seiner Aufnahme Doppelbilder bei Blick in alle Richtungen und Kopfschmerzen angegeben. Im Rahmen der am Aufnahmetag durchgeführten Operation sei ein Bruch des Augenhöhlenbodens festgestellt worden. Die postoperative Versorgung beim Augenarzt habe wiederum die Parese bei Blickhebung und -senkung gezeigt. Dem Bericht der Universitätsklinik für Augenheilkunde dieser Universität vom 26. November 1997 ist ein Visus RA s.c. 1,25 und LA s.c. 1,0 zu entnehmen. Die Untersuchung des Doppelbildgesichtsfeldes habe ein Einfachsehen beim Blick geradeaus und unterhalb der Horizontale, insbesondere rechts, ergeben. Im Alltag komme der Kläger mittlerweile gut zurecht, indem er die Doppelbilder mit der Kopfhaltung kompensiere. Die LVA holte in dem ersten Rentenverfahren das Gutachten von dem Oberarzt an der Universitätsklinik für Augenheilkunde der Universität M. Dr. K. vom 23. August 2000 (mit inhaltlicher Zustimmung des Klinikdirektors Prof. Dr. B.) ein. Als augenärztliche Diagnosen lägen vor:

6

Linkes Auge

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Doppelsichtigkeit,

8

Zustand nach Prellung des Augapfels (Contusio bulbi) vom 6. Juli 1997,

9

Hebungsschwäche (Hebung nicht möglich) bei

10

Zustand nach Bruch des knöchernen Bodens der Augenhöhle links (Orbitabodenfraktur) vom 6. Juli 1997, Zustand nach Augenhöhlenbodenoperation links vom 7. Juli 1997,

11

Zustand nach operativer Darstellung und Revision des geraden unteren Augenmuskels (Muskulus rectus inferior) am 25. Juli 1997,

12

Tieferstand des linken Auges (positive Vertikaldivergenz).

13

Rechtes Auge

14

Anamnestisch Zustand nach Schieloperation Dezember 1997.

15

Infolge des Rohheitsdeliktes vom 6. Juli 1997 sei es zu einer Bewegungseinschränkung und einem Tieferstand des linken Auges gekommen. Auf Grund dieses Befundes komme es zur Wahrnehmung von Doppelbildern im zentralen Gesichtsfeld. Bei dem Kläger bestehe aus augenärztlicher Sicht eine MdE um 25 Prozent. Um die Kopfzwangshaltung, die der Kläger einnehme, und die Doppelbildwahrnehmung beim Blick geradeaus zu reduzieren, sei eine erneute Operation an einem Muskel des linken Auges nötig. Die Doppelbildwahrnehmung werde durch eine solche Operation möglicherweise beim Blick geradeaus verschwinden und dann nur noch beim Blick nach unten und oben vorhanden sein. Da der Kläger Doppelbilder im zentralen Blickfeld bei gerader Kopfhaltung wahrnehme, dürfe er zurzeit kein Kfz führen. Bei einem ständigen Abdecken des linken Auges wäre nach einem Vierteljahr das Führen eines Kfz erlaubt. Arbeiten in der Höhe oder an rotierenden Maschinen seien wegen der Doppelbildwahrnehmung ausgeschlossen. Mit diesen Einschränkungen bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers in dem bisher ausgeübten Beruf und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Rahmen der aus dem Verfahren über die Leistungen zur Teilhabe vorliegenden ärztlichen Stellungnahme der Ärztin W. für das Berufsförderungswerk G. vom 8. Januar 2002 wird ausgeführt, ärztlicherseits bestünden keine Bedenken gegen eine Ausbildung zum Bürokaufmann, für die der Kläger sich interessiere. Das räumliche Sehen sei nicht vorhanden. Der Kläger gebe an, Doppelbilder zu sehen.

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Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 18. März 2009 ab. Mit dem vorhandenen Leistungsvermögen könne der Kläger im erlernten Beruf als Bürokaufmann Tätigkeiten im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich tätig sein.

17

Der Kläger stützte seinen hiergegen eingelegten Widerspruch auf eine drastische Verschlechterung seines Gesundheitszustands in Bezug auf seine Sehbehinderung. Es sei ihm kaum möglich, in den Vormittagsstunden am öffentlichen Leben teilzunehmen. Um die entstandenen Doppelbilder halbwegs ausgleichen zu können, bedürfe es täglich einiger Stunden. Nach Nächten mit schlechtem Schlaf gelinge ihm dies gar nicht. Lesen und Schreiben sowie Arbeiten am PC seien ihm kaum oder stark eingeschränkt oder nur kurzzeitig möglich. Hinzu kämen noch ständige Gleichgewichtsstörungen.

18

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 6. April 2010 als unbegründet zurück. Der Kläger sei nicht erwerbsgemindert, insbesondere nicht berufsunfähig. Bei ihm sei von einem Hauptberuf als Zimmermann auszugehen. Dieser sei in das durch das Bundessozialgericht (BSG) entwickelte Mehrstufenschema für Angestellte einzuordnen (Stufe II b: Angestellte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren). Unter Berücksichtigung dieses beruflichen Status sei der Kläger zumutbar auf die umgeschulte Tätigkeit als Bürokaufmann objektiv und subjektiv zumutbar zu verweisen. Den vorliegenden medizinischen Unterlagen seien keine Anhaltspunkte zu entnehmen, dass er die Tätigkeit als Bürokaufmann nicht mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne.

19

Mit seiner am 4. Mai 2010 vor dem Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren, gerichtet auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, weiterverfolgt. Er habe den Beruf des Baufacharbeiters/Zimmermanns erlernt, als Vorarbeiter und zuletzt als Einschaler gearbeitet. Auf Grund eines Rohheitsdelikts leide er seit 1997 unter einem Sehschaden und Doppelbildern. Als Bürokaufmann könne er "nicht länger als sechs Stunden täglich" eingesetzt werden. Seine Umschulung zum Bürokaufmann habe er erfolgreich absolviert. Während der Umschulung habe er indes auf einem Sonderarbeitsplatz gearbeitet. Das Sehen von Doppelbildern lasse seine Tätigkeit am PC nicht zu. Die Identifikation der kleinen Sehobjekte sei nahezu unmöglich. Einen Pkw könne er in der Dämmerung und bei Nacht nicht mehr führen, sodass er einen Arbeitsplatz nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufsuchen könne. Er sei der Gruppe der Facharbeiter im Sinne des Mehrstufenschemas des BSG für Arbeiter zuzuordnen. Er hat sein Vorbringen im Wesentlichen auf die "Stellungnahme zum Arbeitseinsatz" der Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. H. (ohne Datum) gestützt, aus der hervorgeht, das Sehen von Doppelbildern werde durch die fehlende Fixierung des linken Auges auf Sehobjekte hervorgerufen. Dieser Zustand sei durch eine Brille nicht korrigiert und werde bei älteren Patienten nicht mehr durch eine unbewusste Leistung des Gehirns ausgeglichen. Das räumliche Sehen sei nicht mehr möglich. Der Kläger fahre auf Grund der Doppelbilder "kaum noch Pkw". Dies sei ihm nur noch bei vollem Tageslicht möglich. Doppelbilder ließen eine Arbeit am PC nicht zu bzw. durch die voranschreitende Verschlechterung der Sehleistung (Visus rechts 0,9, links 0,4) und die Doppelbilder sei der Einsatz für PC-gestützte Arbeiten eingeschränkt. Die Forderungen des Arbeitsmedizinischen Grundsatzes G 37 (Bildschirmarbeitsplätze) entsprechend der Anlage zu dieser Stellungnahme seien bei dem Kläger ohne Effekt. Soweit von der DAA unter dem 10. November 2010 angegeben worden sei, die Umschulung sei ohne gesundheitliche Probleme verlaufen, sei dies nach den Angaben des Klägers zur Einrichtung eines Sonderarbeitsplatzes nicht nachvollziehbar. Die Einschränkungen beim Führen eines Pkw schränkten die Erwerbsfähigkeit gleichfalls ein. Im Übrigen wird zu den Einzelheiten der Stellungnahme auf Blatt 27 bis 33 Bd. I der Gerichtsakten Bezug genommen.

20

Das Sozialgericht hat zunächst eine Arbeitgeberauskunft bei der früheren W. und T. AG eingeholt, die im August 2011 nach Aktenlage erstellt worden ist. Der Kläger sei bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung (39 Stunden) beschäftigt gewesen. Die Arbeitsgebiete hätten als Tätigkeiten und Aufgaben "Einschalen und Betonarbeiten" umfasst. Die Entlohnung des Klägers sei zunächst nach der Lohngruppe V und ab 1995 nach der Lohngruppe III des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe (BRTV) erfolgt. Der Kläger sei mehrfach in eine niedrigere Lohngruppe umgruppiert worden. Die letzte Tätigkeit sei von der Wertigkeit niedriger als die vorhergehende gewesen. Die Entlohnung sei ausschließlich auf Grund tariflich vorgegebener Tätigkeitsmerkmale, d.h. nicht auf Grund von mit der Tätigkeit verbundenen Nachteilen/Erschwernissen oder eines vertraglich geregelten Bewährungsaufstiegs, erfolgt. Die Tätigkeiten hätten keine Lehre oder Anlernzeit vorausgesetzt. Bei den Tätigkeiten habe es sich um Arbeiten gehandelt, die im Allgemeinen von angelernten Arbeitern im oberen Bereich mit einer Ausbildung von mehr als zwölf Monaten bis maximal zwei Jahren in einem Ausbildungsberuf verrichtet würden. Die Arbeiten seien von dem Kläger nicht vollwertig wie bei einem normalen Ausbildungsweg in dem Beruf verrichtet worden. Die Anlerntätigkeit habe Kenntnisse und Fähigkeiten in Zimmermannsarbeiten verlangt. Eine völlig ungelernte Kraft habe für diese Tätigkeit sechs bis zwölf Monate angelernt werden müssen. Es habe sich um körperlich schwere Arbeiten im Freien gehandelt. Im Übrigen wird zu den Einzelheiten auf Blatt 56 bis 59 Band I der Gerichtsakten Bezug genommen.

21

Das Sozialgericht hat im Übrigen durch Einholung von Befundberichten ermittelt. Dr. S. hat unter dem 18. August 2011 eine vorausgegangene Konsultation durch den Kläger zuletzt für den 25. Januar 2010 angegeben. Sie habe einen Visus von rechts 1,0 und links 0,4 mit Doppelbildern in Ferne und Nähe festgestellt. Es bestünden gleichbleibende Probleme auch nach den durchgeführten Operationen. Bezüglich der Einzelheiten wird auf Blatt 52 bis 55 und 60 bis 63 Bd. I der Gerichtsakten Bezug genommen.

22

Das Sozialgericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens von dem Facharztes für Augenheilkunde und Facharztes für Arbeitsmedizin Priv.-Doz. Dr. M. vom 27. März 2012, das auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 26. März 2012 erstattet worden ist. Der Kläger habe bei der Untersuchung Doppelbildwahrnehmungen in allen Blickrichtungen angegeben. Eine Prismenbrille führe nicht zu einer Verbesserung. Eine Abdeckung auf dem linken Auge werde nur kurzzeitig ge- und vertragen. Die einzige Möglichkeit, dass der Kläger wieder vollschichtig tätig sein könne, sei die Abdeckung des linken Auges. Damit sei er als Einäugiger zu betrachten und könne für diese Menschen geeignete Tätigkeiten verrichten. Die Abdeckung sei durchaus zumutbar. Als Tauglichkeitseinschränkungen seien zu beachten (mit und ohne Abdeckung des Auges):

23

Keine Arbeiten mit Eigen- oder Fremdgefährdung, d.h. keine Tätigkeiten mit Absturzrisiko oder an rotierenden, nicht abgesicherten Maschinen.

24

Untauglichkeit zum Führen eines Privat-Pkw ohne Abdeckung eines Auges.

25

Die Abdeckung werde offensichtlich nicht ständig getragen. Der Kläger seit zeitweise tauglich für Bildschirmarbeit. Als Einäugigem sei für den Kläger ein dauernder Einsatz in Bildschirmtätigkeiten nicht zu empfehlen (G 37 nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen). Der Kläger sei zum Bürokaufmann umgeschult worden. In dieser Tätigkeit bestehe eine volle Tauglichkeit seitens der Augen. Dabei sei zu bedenken, dass die Umschulung zum Bürokaufmann eines der wichtigsten Angebote für Sehgeschädigte/Sehschwache in den Berufsförderungswerken für Sehgeschädigte sei. Als Maurer/Zimmermann sei der Kläger nicht mehr tauglich.

26

Dem Kläger ist während des Klageverfahrens die stationäre Rehabilitationskur vom 21. Februar bis zum 13. März 2012 bewilligt worden. Nach dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik E.-S.-GmbH vom 15. März 2012 ist der Kläger aus der Maßnahme mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten bei wechselnder Körperhaltung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entlassen worden. Einschränkungen des qualitativen Leistungsvermögens bestünden für Tätigkeiten, die mit Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 15 bis 20 kg einhergingen, für Tätigkeiten in häufig hockender oder gebückter Körperhaltung und schließlich für Tätigkeiten, die das Ersteigen von Leitern und Gerüsten erforderten.

27

Das Sozialgericht hat dem Kläger das Gutachten von Priv.-Doz. Dr. M. mit Verfügung vom 18. April 2012 zur freigestellten Stellungnahme übersandt. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 17. Juli 2012 ist dem Klägerbevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis vom 11. Juni 2012 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2012 hat der Kläger beantragt, Priv.-Doz. Dr. M. zur Stellungnahme zu seinem Gutachten und Dr. H. zur mündlichen Verhandlung zu laden.

28

Das Sozialgericht hat nach dem mit einer krankheitsbedingten Verhinderung des Prozessbevollmächtigten des Klägers begründeten Terminsverlegungsantrag einseitig mündlich verhandelt und in diesem Rahmen den auf die Bewilligung von Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung - insbesondere bei Berufsunfähigkeit - gerichteten Antrag für den Kläger formuliert. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil auf diese mündliche Verhandlung abgewiesen. Ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, insbesondere bei Berufsunfähigkeit, bestehe nicht. Bisheriger Beruf des Klägers sei der Beruf des Zimmermanns und Einschalers, den er bis 2000 ausgeübt habe. Diesen Beruf könne der Kläger glaubhaft nicht mehr ausüben. Die Tatsache, dass der Kläger eine Umschulung zum Bürokaufmann absolviert habe, bleibe außer Betracht, da der Kläger in diesem Beruf nicht versicherungspflichtig gearbeitet habe. Der bisherige Beruf des Klägers als Zimmermann und Einschaler sei nach der Auskunft des letzten dem Bereich der Angelernten im unteren Bereich zuzuordnen. Damit sei der Kläger auch sozial zumutbar auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, sodass eine teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht vorliege.

29

Der Kläger hat gegen das ihm am 31. Juli 2012 zugestellte Urteil am 20. August 2012 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt und in der nichtöffentlichen Sitzung am 19. September 2013 klargestellt, dass Streitgegenstand ausschließlich die Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist. Im Berufungsverfahren ist zunächst Priv.-Doz. Dr. M. in der vorgenannten nicht-öffentlichen Sitzung zu seinem Gutachten angehört worden. Er hat hierzu eingangs ausgeführt: "Der Kläger ist vor 16 Jahren Opfer eines verabscheuungswürdigen Rohheitsdelikts geworden. Dies ist strafrechtlich abgearbeitet worden und es ist die entsprechende zuerkannte Versorgung in Höhe von ca. 1.700,00 EUR monatlich bewilligt worden, sodass der Kläger bis zum Rentenalter abgesichert ist". Im Übrigen wird bezüglich des Ergebnisses der Anhörung auf Blatt 170 bis 171 Bd. II der Gerichtsakten Bezug genommen.

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Es ist sodann Beweis erhoben worden durch Einholung des Gutachtens von der Fachärztin für Augenheilkunde Dipl.-Med. L., Institut für medizinische Begutachtung und Sachverständigentätigkeit IMBS in S. Bei dem Kläger liegen nach dem unter dem 5. November 2014 erstellten Gutachten folgende Diagnosen vor:

31

Hyperopie, Astigmatismus, Presbyopie.

32

Zustand nach Orbitaboden-Fraktur links.

33

Zustand nach operativer Revision der Orbitaboden-Fraktur.

34

Posttraumatische Heberparese links, Zustand nach Augenmuskel-Operation rechts.

35

Doppelbilder.

36

Mit den krankhaften Veränderungen bei dem Kläger sei die Wahrnehmung von Doppelbildern verbunden. Diese störten im täglichen Leben. So sei z.B. das Autofahren nicht möglich. Nach Abdeckung des linken Auges entstünden Probleme durch die dann erzeugte Einäugigkeit im Sinne von Problemen in der Einschätzung von Entfernungen. Ein möglicher Ausgleich der Doppelbilder durch Kopfwendung (Kopfzwangshaltung nach hinten) sei auch nur zeitweise möglich, da die Zwangshaltung zu Kopfschmerzen und Haltungsschäden führen könne. Es bestünden bei dem Kläger noch keine Schäden am Haltungsapparat. Es seien ihm körperlich bis zu mittelschwere und gelegentlich mittelschwere Arbeiten möglich. Die Gebrauchsfähigkeit seiner Hände sei nicht eingeschränkt. Der Kläger sei in der Lage, eine geeignete Beschäftigung noch mindestens drei Stunden täglich auszuüben. Er sei in der Lage, eine Beschäftigung in der umgeschulten Tätigkeit auszuüben, wenn es gelinge, die Doppelbilder zu unterdrücken, zum Beispiel durch Abdecken des linken Auges. Zu diesem Zweck müssten die Brillen aktualisiert und an den entsprechenden Arbeitsplatz angepasst werden. Eine Pause sei sinnvoll innerhalb dieser Arbeitszeit, um die Akkommodation zu entspannen. Bei einer Arbeitszeit von sechs Stunden täglich könne es auf Grund der Einäugigkeit nach Abdeckung des linken Auges zur vermehrten Belastung durch die Akkommodation kommen. Hierdurch könnten Kopfschmerzen, Augenbrennen bzw. -tränen, Körperzwangshaltungen und Verspannungen entstehen. Bei Nichtabdeckung des Auges erhöhe sich die Unfallgefahr durch die Doppelbilder. Ebenso könne es dadurch zu vermehrten Kopfschmerzen kommen.

37

Die Beklagte hat in Bezug auf das Gutachten von Dipl.-Med L. unter Bezugnahme auf die prüfärztliche Stellungnahme des Prüf- und Gutachterarztes Dr. V. vom 15. Januar 2015 Stellung genommen, in der ein quantitativ gemindertes Leistungsvermögen des Klägers verneint worden ist. Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten auf Blatt 235 bis 236 Bd. II der Gerichtsakten verwiesen.

38

Dipl.-Med. L. hat in ihrer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 13. März 2015 an ihrer Leistungsbeurteilung festgehalten.

39

Seine Berufung stützt der Kläger nach der Beweisaufnahme im Wesentlichen darauf, er sei nicht "einäugig". Wie in dem Gutachten von Priv.-Doz. Dr. M. ausgeführt, müsse er ein Vierteljahr das defekte Auge abdecken, um wieder am Straßenverkehr teilnehmen zu können. Er sei auf Grund der Doppelbilder und der fehlenden Möglichkeit zur Abdeckung des defekten Auges nicht in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich tätig zu sein. Er meint, ausweislich des Berufsgruppenverzeichnisses zum BRTV sei auch bei der Berufsgruppe V (Bezeichnung "Baufacharbeiter") von einer Zuordnung zu den Facharbeitern auszugehen. Er hat auf Aufforderung des Berichterstatters einen Anstellungsvertrag über eine Tätigkeit mit der Entlohnung nach der Lohngruppe V aus dem Jahr 1994 vorgelegt. Den Gehaltsabrechnungen für die Monate April 1994 und November 1999 ist jeweils ein "Zeitlohn" zu entnehmen. Aus den Lohnabrechnungen für die Monate Januar und Oktober 1995 und Dezember 1998 ergibt sich ein Tariflohn pro Stunde in Höhe von 19,48 DM für Januar 1995 und in Höhe von 22,52 DM für den Monat Oktober 1995. Die Baustellen, auf denen er eingesetzt worden sei, hätten sich in C. (April 1994), B. (Mai bis August 1994), M. (September 1994 bis Juni 1995 und August 1995 bis Ende 1996) und H. bei B. (Anfang 1997 bis Mai 1997) befunden.

40

Der Kläger beantragt,

41

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 17. Juli 2012 und den Bescheid der Beklagten vom 18. März 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2010 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. Oktober 2008 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu bewilligen.

42

Die Beklagte beantragt,

43

die Berufung zurückzuweisen.

44

Sie hält das angefochtene Urteil und ihren Bescheid, soweit dieser angefochten ist, für zutreffend. Sie hat mit Schriftsatz vom 12. Mai 2015 mitgeteilt, der Kläger sei z.B. durch Abdeckung des linken Auges und bei Aktualisierung der Brillen und Anpassung eines Arbeitsplatzes in der Lage, "eine Beschäftigung in der umgeschulten Tätigkeit auszuüben". Derartige Maßnahmen seien dem Kläger zumutbar. Hilfsweise würden die Verweisungstätigkeiten des Pförtners an der Nebenpforte und des Telefonisten benannt, die dem Kläger sozial und medizinisch zumutbar seien.

45

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

46

Die Berufung ist begründet.

47

Das Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben, da der Kläger ab dem Monat der Rentenantragstellung einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit hat. Der insoweit angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

48

Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Anspruch auf eine solche Rente bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind.

49

Der Kläger erfüllt die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Er ist nach dem maßgebenden Stichtag geboren und berufsunfähig.

50

Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (Satz 2). Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die der Versicherte durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden ist (Satz 3). Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Satz 4).

51

Für die Frage, ob ein Versicherter berufsunfähig ist, ist sein "bisheriger Beruf" maßgebend. Wenn er diesen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, ist die Zumutbarkeit einer anderen Tätigkeit zu prüfen. Bisheriger Beruf im Sinne des § 240 SGB VI ist grundsätzlich die zuletzt ausgeübte und auf Dauer angelegte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Diese muss also mit dem Ziel verrichtet werden, sie bis zur Erreichung der Altersgrenze auszuüben. Dieser Grundsatz gilt jedenfalls dann, wenn die Tätigkeit zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben der Versicherten gewesen ist (vgl. z.B. Nazarek in JurisPraxiskommentar SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 240 RdNr. 35 m.w.N.).

52

Bisheriger Beruf des Klägers ist der des Baufacharbeiters mit der zur Überzeugung des Senats im Jahr 1995 erfolgten Einstufung in die Berufsgruppe III des BRTV, den der Kläger auf der Grundlage seiner Ausbildung zum Baufacharbeiter (vom 1. September 1973 bis zum 31. August 1975) ausgeübt hat.

53

Der Senat ist davon überzeugt, dass die in der von dem Sozialgericht eingeholten Arbeitgeberauskunft angegebene Höhergruppierung im Jahr 1995 und nachfolgende Herabstufung tatsächlich erfolgt ist. Die Lohnabrechnungen von Januar und Oktober 1995 weisen eine deutliche Steigerung auf. Nach § 5 Nr. 6. BRTV ist maßgebend der Lohn der Arbeitsstelle bzw. ein höherer Tariflohn bei einer Auswärtstätigkeit im Bereich mit einem höheren Tariflohn. Die dem Kläger gezahlte Vergütung ist hier anhand des Tarifvertrages zur Regelung der Löhne und Ausbildungsvergütungen im Baugewerbe im Beitrittsgebiet (ausgenommen B.-Ost) (im Folgenden: TV Lohn/Ost) vom 20. April 1994 zu bewerten. Die Arbeitsstelle des Klägers befand sich nach seinen glaubhaften Angaben im Oktober 1995 in M. Auf den Lohnabrechnungen wird die Niederlassung H. angegeben. Der Tariflohn pro Stunde in Höhe von 19,48 DM für Januar 1995 liegt zwischen der Lohnregelung nach dem TV Lohn/Ost vom 20. April 1994 für die Berufsgruppe IV und für die Berufsgruppe III. Der Tariflohn pro Stunde in Höhe von 22,52 DM für Oktober 1995 liegt nach dem TV Lohn/Ost vom 24. April 1995 zwischen der Lohnregelung für die Berufsgruppe II und für die Berufsgruppe III.

54

Der bisherige Beruf begründet für den Kläger einen Berufsschutz auf der Ebene der Facharbeiter im Sinne des Mehrstufenschemas des BSG. Einem Versicherten ist die Ausübung einer ungelernten Arbeitstätigkeit nur zuzumuten, wenn sein bisheriger Beruf entweder dem Leitberuf des angelernten oder ungelernten Arbeiters zuzuordnen ist. Bei den angelernten Arbeitern ist weiter zu differenzieren: Angelernte mit einer Regelausbildungszeit von bis zu einem Jahr (sog. untere Angelernte) sind auf alle ungelernten Tätigkeiten verweisbar. Demgegenüber können Angelernte mit einer Regelausbildungszeit von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren (sog. obere Angelernte) nur auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, die sich durch bestimmte Qualitätsmerkmale auszeichnen (vgl. hierzu z.B. Niesel in: Kasseler Kommentar, § 43 SGB VI a.F. RdNr. 109 m.w.N.). Der bisherige Beruf des Klägers ist der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen. Denn der Kläger hat eine zweijährige betriebliche Ausbildung nach den maßgebenden Bedingungen des Berufsbildes des Baufacharbeiters der DDR durchlaufen und ist im Oktober 1995 von Arbeitgeberseite unter Zahlung des Tariflohns der Berufsgruppe III zugeordnet worden. Die Berufsgruppe III ist für die Spezialbaufacharbeiter vorgesehen. Insoweit setzt nach dem Anhang zum BRTV bereits die Eingruppierung als gehobener Baufacharbeiter den Abschluss der Berufsausbildung der Stufenausbildung mit der obersten Stufe voraus (vgl. zur differenzierenden Betracht bei einer Zuordnung zur Berufsgruppe IV nach der Anlage zum BRTV: BSG, Urteil vom 19. Juni 1997 - 13 RJ 101/96 - juris).

55

Der Kläger hat sich von seiner Tätigkeit als Baufacharbeiter nicht gelöst. Nur wenn sich ein Versicherter im Sinne der Rechtsprechung von seinem früheren Beruf "gelöst" hat, ist dieser für die Frage des Berufsschutzes nicht mehr maßgebend (allg. Meinung: vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005 - B 5 RJ 27/04 R - SGb 2005, 337; von Koch in Kreikebohm, SGB VI Kommentar, 3. Aufl. 2008, § 240 RdNr. 11). Eine Lösung vom Beruf setzt voraus, dass der Versicherte eine früher ausgeübte Tätigkeit endgültig und freiwillig aufgegeben und eine andere versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hat (vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005, a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind insbesondere für die Herabstufung des Klägers während der laufenden Beschäftigung bei der W. & T. AG zu verneinen. Der Kläger erlitt die Augenverletzung mit maßgebendem Einfluss auf seine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bereits im Jahr 1997.

56

In körperlicher Hinsicht ist der Kläger den Anforderungen an die Tätigkeit eines Baufacharbeiters/Einschalers nicht mehr gewachsen. Diese Feststellung entspricht den insoweit übereinstimmenden Angaben insbesondere auch beider gerichtlichen Sachverständigen, die im Rahmen des Klage- und des Berufungsverfahrens herangezogen worden sind. Im Übrigen ergibt sich rechtlich ein Beschäftigungshindernis aus dem Ergebnis der Untersuchung des Arbeitsmedizinischen Dienstes der Bau-Berufsgenossenschaft H. unter dem 4. Februar 2000, in dem dauernde gesundheitliche Bedenken für die Fortsetzung der letzten Tätigkeit des Klägers festgestellt wurden.

57

Die Tätigkeit als Bürokaufmann, auf die er umgeschult wurde, ist dem Kläger nicht zumutbar im Sinne des § 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI.

58

Der Kläger ist zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung vom 30. April 2002 bis zum 13. Januar 2004, d.h. für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten, der allgemein insoweit als Untergrenze maßgebend erachtet wird, im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben umgeschult worden. Eine "Umschulung" im Sinne der Regelung stellen alle Tätigkeiten dar, die nach bestimmten Ausbildungsplänen vorgehen und sich über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten erstrecken; dabei ist es ohne Belang, ob die Rentenversicherung Kostenträger für die Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben war (vgl. BSG, Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 103/76 - SozR 2200 § 1246 Nr. 25). Der erfolgreiche Abschluss der Umschulung ist durch das dem Kläger erteilte Prüfungszeugnis nach § 34 BBiG dokumentiert. Ohne Bedeutung ist es insoweit, ob der Kläger diesen Erfolg durch eine besondere Ausstattung des Arbeitsplatzes oder eine besondere Rücksichtnahme im Rahmen der Prüfung (vgl. hierzu die Empfehlungen des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung) hat erreichen können.

59

Im vorliegenden Fall ist der Senat nicht überzeugt, dass sich dem Kläger mit seinen Kenntnissen als Bürokaufmann ein Tätigkeitsfeld auf dem Arbeitsmarkt erschließen würde. Die Rechtsprechung hat auf die Zumutbarkeit der Umschulungs- bzw. Ausbildungsberufe die engen Grenzen des Mehrstufenschemas nicht übertragen (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 1984 - 11 RA 72/83 - BSGE 57, 291 ff., BSG, Urteil vom 24. März 1983 - 1 RA 15/82 - BSGE 55, 45ff.). Erforderlich sind indes eine fortbestehende Wettbewerbsfähigkeit und gesundheitliche Eignung des Versicherten für den Umschulungsberuf.

60

Die erforderliche Wettbewerbsfähigkeit des Versicherten kann insbesondere entfallen, wenn der Versicherte nicht in dem Umschulungsberuf erwerbstätig gewesen ist und ein längerer Zeitraum seit dem Ende der Umschulung verstrichen ist (vgl. BSG, Urteil vom 8. September 1993 - 5 RJ 70/92 - SozR 3-2200 § 1246 Nr. 35; vgl. auch Nazarek in JurisPraxiskommentar SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 240 RdNr. 120). Bereits unter diesem Gesichtspunkt begegnet es gewissen Bedenken, ob die Umschulung des Klägers zum "Bürokaufmann" hier die Benennungspflicht der Beklagten für einen Verweisungsberuf im Rahmen des Mehrstufenschemas hat entfallen lassen. Der Kläger hat zu keinem Zeitpunkt den Beruf des Bürokaufmanns im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ausgeübt. Die Beklagte hat ein aktuelles Anforderungsprofil der Tätigkeit des "Bürokaufmanns" nicht dargelegt. Die gerichtliche Feststellung eines solchen Anforderungsprofils entfällt bereits unter dem Gesichtspunkt, dass mit der Verordnung über die Berufsausbildung zum Kaufmann für Büromanagement vom 11. Dezember 2013 (BGBl. I S. 4125, zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 16. Juni 2014, BGBl. I S. 791) eine Ausbildung zum Bürokaufmann nach dem Berufsbildungsgesetz nicht mehr möglich ist. Tätigkeiten unter der Bezeichnung "Bürokaufmann" werden insbesondere von der Bundesagentur für Arbeit nicht mehr ausgeschrieben.

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Der Senat ist auch von einer gesundheitlichen Einsatzfähigkeit des Klägers in dem Umschulungsberuf nicht überzeugt. Insoweit ist dem gerichtlichen Sachverständigen Priv.-Doz. Dr. M. beizupflichten, dass im Rahmen des Angebots von Berufsförderungswerken die Ausbildung/Weiterbildung zum Bürokaufmann auch für Sehbehinderte angeboten wurde. Das Marktangebot für Teilhabeleistungen bildet indes nicht zwingend die tatsächlichen Bedingungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ab. Insoweit gibt der erfolgreiche Abschluss der Berufsausbildung auch keinen Aufschluss darüber, in welchem zeitlichen Umfang der Absolvent nachfolgend in dem Umschulungsberuf tätig sein könnte. Im Rahmen der Beschäftigung von behinderten Menschen kann insbesondere auch eine Teilzeitbeschäftigung in Anspruch genommen werden, die indes für den Kläger nach der gesetzlichen Regelung in § 240 Abs. 2 SGB VI einen Rentenanspruch nicht ausschließt.

62

Für den Senat ist im Übrigen offen geblieben, in welchem Umfang sich der gerichtliche Sachverständige Priv.-Doz. Dr. M. von seinen Kenntnissen des tatsächlichen Ausbildungsangebotes für Sehbehinderte in seiner Bewertung hat leiten lassen, der Kläger sei noch für die Tätigkeit eines Bürokaufmanns "tauglich". Es bestehen Zweifel an der Verwertbarkeit des von Priv.-Doz. Dr. M. erstellten Gutachtens, weil er den Kläger als durch seine Leistungen nach dem BVG hinreichend versorgt angegeben hat. Entsprechende Gesichtspunkte dürfen bei der nicht von einem Bedarf des Versicherten abhängigen Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht berücksichtigt werden. Es ist indes anzumerken, dass auch Priv.-Doz. Dr. M. eine dauerhafte Einsatzfähigkeit des Klägers an einem PC-Bildschirm verneint hat.

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Dem Gutachten von Dipl.-Med. L. ist bereits ein in zeitlicher Hinsicht auf weniger als sechs Stunden täglich herabgesunkenes Leistungsvermögen zu entnehmen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Fragestellung bereits nach den Hinweisen in der Beweisanordnung auf die Tätigkeit des Bürokaufmanns konkretisiert worden ist. Der Kläger bewältigt die Doppelbilder bei einem fokussierten Sehen nur durch eine besondere Kopfhaltung, die zwingend eine Zwangshaltung hervorruft. Der Senat hatte insbesondere keinen Anlass, die Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für einen "Bürokaufmann" durch ein berufskundliches Gutachten näher beleuchten zu lassen, weil die Beklagte keine aktuelles Berufsbild bezeichnet hat und die überwiegende Tätigkeit in den kaufmännischen Berufen mit Innentätigkeit an einem PC-Bildschirm sich aus den allgemein zugänglichen Anforderungsprofilen (s. z.B. Berufenet der Bundesagentur für Arbeit für den Kaufmann für Büromanagement) entnehmen lässt. Soweit bestimmte Sonderformen einer kaufmännischen Tätigkeit angeboten werden (z.B. als Servicemitarbeiter, in Organisationstätigkeiten im Außendienst), vermag der Senat insoweit auf Grund der Einschränkungen des Klägers keine bessere Eignung zu erkennen. Insbesondere ist er bereits unter rechtlichen Gesichtspunkten in der Nutzung eines Pkw eingeschränkt, da er Doppelbilder auch bei einer Kopfgeradehaltung wahrnimmt (vgl. § 12 Fahrerlaubnisverordnung, Anlage 6).

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Vor diesem Hintergrund hat der Senat die Frage nicht abschließend entscheiden müssen, ob das dauerhafte Tragen einer Augenabdeckung zu Lasten des Klägers hier unterstellt und sein Leistungsvermögen unter diesen Bedingungen fingiert werden könnte. Ob dem Kläger im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, das die eigenverantwortliche Gestaltung der äußeren Erscheinung einschließt (vgl. z.B. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. Dezember 2013 - 1 WRB 2/12, 3/12 - juris, RdNr. 43 m.w.N.), zur Vermeidung einer Rentengewährung die Obliegenheit der dauerhaften Abdeckung seines linken Auges treffen würde, ist fraglich. Insoweit war bereits dem Gutachten von Priv.-Doz. Dr. M. zu entnehmen, dass der Kläger angegeben hatte, die Augenabdeckung nicht zu vertragen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger seit Rentenantragstellung für den erforderlichen Zeitraum von mehr als drei Monaten eine permanente Abdeckung des linken Auges tatsächlich durchgeführt hat.

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Die Beklagte hat einen geeigneten Verweisungsberuf im Übrigen nicht benannt. Die Tätigkeiten eines Pförtners an der Nebenpforte oder eines Telefonisten sind dem Kläger sozial nicht zumutbar. Der Kläger ist nicht, wie die Beklagte nun meint, in die Gruppe der oberen Angelernten, sondern auf Grund der maßgebenden tarifvertraglichen Eingruppierung als Facharbeiter im Sinne des Mehrstufenschemas des BSG anzusehen. Eine geeignete Tätigkeit, die dem Kläger sozial und gesundheitlich zumutbar wäre, drängt sich für den Senat auch nicht auf.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


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