Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht - LVerfG 4/21

Tenor

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

A.

1

Die Antragstellerin, eine fraktionslose Landtagsabgeordnete, wendet sich im Organstreitverfahren gegen die Entscheidung des Antragsgegners als verfassungsändernder Gesetzgeber, durch die Artikel 22a über einen Notausschuss in die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (Landesverfassung – LV) eingefügt worden ist. Dieser lautet:

Artikel 22a – Notausschuss

(1) Der Landtag bestellt einen Notausschuss. Der Notausschuss besteht aus mindestens elf Abgeordneten; diese dürfen nicht der Landesregierung angehören. Die Fraktionen benennen durch Erklärung gegenüber der Landtagspräsidentin oder dem Landtagspräsidenten die von ihnen zu stellenden Ausschussmitglieder und die Stellvertreterinnen und Stellvertreter. Der Notausschuss kann beim Zusammentritt als Notparlament nach Absatz 2 um weitere anwesende Abgeordnete vergrößert werden. Die Fraktionen sind mit mindestens je einem Mitglied vertreten. Die Sitze werden unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen verteilt; dabei ist sicherzustellen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss den Mehrheitsverhältnissen im Landtag entsprechen. Das Nähere, insbesondere Zusammensetzung und Verfahren, regelt die Geschäftsordnung des Landtages.

(2) Während einer Notlage nach Absatz 4 hat der Notausschuss als Notparlament die Stellung des Landtages und nimmt dessen Rechte wahr. Der Notausschuss darf nur die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Handlungsfähigkeit des Landes während der Notlage zu sichern. Die Landesverfassung und die Geschäftsordnung des Landtages dürfen durch den Notausschuss weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Die Befugnis, der Ministerpräsidentin oder dem Ministerpräsidenten nach Artikel 42 das Misstrauen auszusprechen, steht dem Notausschuss nicht zu.

(3) Während einer Notlage finden durch den Landtag vorzunehmende Wahlen nicht statt. Nachdem der Landtag die Notlage für beendet erklärt hat, sind die Wahlen innerhalb von zwei Monaten nachzuholen. Der Notausschuss kann die Amtszeit von Personen, deren Ämter während der Notlage nachzubesetzen wären, mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder bis zum Ablauf des Tages der Neuwahl nach Satz 2 verlängern.

(4) Eine Notlage liegt vor, wenn aufgrund einer außerordentlich schweren Katastrophe oder einer epidemischen Lage von überregionaler Tragweite im Land dem unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder seine Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden kann.

(5) Der Notausschuss tritt nicht als Notparlament zusammen, wenn während einer Notlage eine Sitzung des Landtages in Anwesenheit und durch Zuschaltung mittels Bild- und Tonübertragung (hybride Sitzung) zulässig ist. Dies ist der Fall, wenn eine Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden und der zugeschalteten Abgeordneten feststellt, dass eine Notlage vorliegt und die Anwesenheit oder Zuschaltung durch Bild- und Tonübertragung allen Abgeordneten sowie den Mitgliedern und Beauftragten der Landesregierung ermöglicht und eine sichere elektronische Kommunikation gewährleistet ist. Artikel 22 Absatz 3 findet entsprechende Anwendung. Die Rechte der Abgeordneten aus Artikel 17 und der Landesregierung aus Artikel 27 bleiben unberührt. Beschlussfassungen in einer hybriden Sitzung unterliegen den Beschränkungen des Absatzes 2 Satz 2 bis 4. Das Nähere regelt die Geschäftsordnung des Landtages.

(6) Die Landtagspräsidentin oder der Landtagspräsident beruft den Notausschuss unverzüglich als Notparlament ein, wenn eine Notlage vorliegt und eine hybride Sitzung des Landtages nach Absatz 5 nicht zulässig ist, und macht die Einberufung und ihre Begründung in geeigneter Weise bekannt. Der Notausschuss tritt in Präsenz zusammen und stellt zu Beginn jeder Sitzung mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder fest, ob eine Notlage nach Absatz 4 vorliegt. Das Landesverfassungsgericht kann auf Antrag einer oder eines Abgeordneten im Wege der einstweiligen Anordnung den Zusammentritt des Notausschusses als Notparlament untersagen oder dessen Beschlüsse für einstweilen unanwendbar erklären. Das Nähere regelt ein Gesetz.

(7) Die Regelungen über die Verhandlungen des Landtages gelten entsprechend. Abgeordnete, die dem Notausschuss nicht angehören, haben das Recht, in seinen Sitzungen anwesend zu sein. Ihnen ist auf Wunsch das Wort zu erteilen. Sie haben das Recht, Fragen und Anträge zu stellen. Die Vorlagen und Beschlüsse des Notausschusses sind allen Abgeordneten unverzüglich zuzuleiten.

(8) Vom Notausschuss beschlossene Gesetze werden nach Artikel 46 verkündet. Ist dies nicht rechtzeitig möglich, so erfolgt die Verkündung in anderer Weise; sie ist im Gesetz- und Verordnungsblatt nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen. Beschlüsse des Notausschusses treten frühestens mit Ablauf des auf die Beschlussfassung folgenden Tages in Kraft. Stellt eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Absatz 6 Satz 3, verzögert sich das Inkrafttreten der Beschlüsse des Notausschusses bis zur Entscheidung des Landesverfassungsgerichts, höchstens jedoch um zwei weitere Tage. Der Aufschub ist unverzüglich in geeigneter Weise bekannt zu machen.

(9) Beschlüsse des Notausschusses treten mit Ablauf des Tages außer Kraft, an dem der Landtag erstmalig nach Ende der Notlage zusammentritt, sofern der Landtag diese Beschlüsse nicht bestätigt hat. Zum gleichen Zeitpunkt treten Rechtsverordnungen, die auf Grund nicht bestätigter Gesetze ergangen sind, außer Kraft. Bestätigung und Außerkrafttreten werden von der Landtagspräsidentin oder dem Landtagspräsidenten bekannt gemacht.

(10) Der Landtag hat die Notlage unverzüglich für beendet zu erklären, wenn die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht mehr vorliegen.

I.

2

1. Die Landesverfassung trifft in Auszügen folgende Regelungen:

Artikel 2 – Demokratie, Funktionentrennung

(1) Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus.

(2) Das Volk bekundet seinen Willen durch Wahlen und Abstimmungen. Es handelt durch seine gewählten Vertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden sowie durch Abstimmungen.

(3) Die Verwaltung wird durch die gesetzmäßig bestellten Organe, die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte ausgeübt.

3

Artikel 16 – Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung. Der Landtag wählt die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. Er übt die gesetzgebende Gewalt aus und kontrolliert die vollziehende Gewalt. Er behandelt öffentliche Angelegenheiten.

(2) Die Abgeordneten des Landtages werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

4

Artikel 17 – Stellung der Abgeordneten

(1) Die Abgeordneten vertreten das ganze Volk. Bei der Ausübung ihres Amtes sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.

(2) Die Abgeordneten haben das Recht, im Landtag sowie in den ständigen Ausschüssen und in den Sonderausschüssen des Landtages Fragen und Anträge zu stellen. Sie können bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abgeben; Stimmrecht in den Ausschüssen des Landtages haben nur die Ausschussmitglieder.

[…]

5

Artikel 47 – Verfassungsändernde Gesetze

(1) Diese Verfassung kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das ihren Wortlaut ausdrücklich ändert oder ergänzt.

(2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages oder der Zustimmung des Volkes nach Artikel 49 Absatz 4 Satz 2 und 3.

6

Artikel 51 – Landesverfassungsgericht

[…]

(2) Das Landesverfassungsgericht entscheidet:

1. über die Auslegung der Verfassung aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten des Landtages oder der Landesregierung oder anderer Beteiligter, die durch die Landesverfassung oder die Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind;

[…]

7

2. Der erste Abschnitt des Dritten Teils des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht (Landesverfassungsgerichtsgesetz – LVerfGG) – Verfahren in den Fällen des § 3 Nr. 1 (Organstreitigkeiten) – trifft in Auszügen die folgenden Regelungen:

8

§ 35 – Antragstellerin oder Antragsteller und Antragsgegnerin oder Antragsgegner

Antragstellerin oder Antragsteller und Antragsgegnerin oder Antragsgegner können nur der Landtag, die Landesregierung und andere Beteiligte, die durch die Landesverfassung oder die Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind, sein.

9

§ 36 – Zulässigkeit des Antrags

(1) Der Antrag ist nur zulässig, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller geltend macht, dass sie oder er oder das Organ, dem sie oder er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung der Antragsgegnerin oder des Antragsgegners in ihren oder seinen ihr oder ihm durch die Landesverfassung übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist.

(2) Im Antrag ist die Bestimmung der Landesverfassung zu bezeichnen, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung der Antragsgegnerin oder des Antragsgegners verstoßen wird.

(3) Der Antrag muss binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung der Antragstellerin oder dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden.

10

§ 38 – Entscheidung

Das Landesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung der Antragsgegnerin oder des Antragsgegners gegen eine Bestimmung der Landesverfassung verstößt. Die Bestimmung ist zu bezeichnen. Das Landesverfassungsgericht kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung der Landesverfassung erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt.

II.

11

1. Die Antragstellerin wurde am 7. Mai 2017 in den 19. Schleswig-Holsteinischen Landtag gewählt. Sie gehörte zunächst der Fraktion Alternative für Deutschland (AfD) an, bis sie am 4. Dezember 2018 aus dieser ausgeschlossen wurde.

12

Im Schleswig-Holsteinischen Landtag sind aktuell vier Fraktionen sowie Abgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW), denen nach § 1 Abs. 2 Gesetz über die Rechtsstellung und Finanzierung der Fraktionen im Schleswig-Holsteinischen Landtag (FraktionsG) vom 18. Dezember 1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Mai 1999 (GVOBl S. 134), die Rechte einer Fraktion zustehen, vertreten. Seit die AfD aufgrund des Austritts eines Abgeordneten aus der Fraktion im September 2020 ihren Fraktionsstatus verlor, sind neben der Antragstellerin vier weitere Abgeordnete fraktionslos.

13

2. Am 6. November 2020 unterbreiteten die im Landtag vertretenen Fraktionen sowie die Abgeordneten des SSW einen Entwurf zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (Landtags-Drucksache 19/2558). Danach sollte folgender Art. 47a in die Landesverfassung eingefügt werden:

Artikel 47a – Notausschuss

(1) Der Landtag bestellt einen Notausschuss. Die Mitglieder und ihre Stellvertretungen werden vom Landtag entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen gewählt; sie dürfen nicht der Landesregierung angehören. Die Bildung des Notausschusses und sein Verfahren werden durch die Geschäftsordnung des Landtages geregelt.

(2) Im Notfall hat der Notausschuss als Notparlament die Stellung des Landtages und nimmt dessen Rechte wahr. Der Ausschuss darf nur die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Handlungsfähigkeit des Landes im Notfall zu sichern. Die Landesverfassung und die Geschäftsordnung des Landtages dürfen durch den Notausschuss weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Die Befugnis, der Ministerpräsidentin oder dem Ministerpräsidenten nach Artikel 42 das Misstrauen auszusprechen, steht dem Ausschuss nicht zu.

(3) Ein Notfall liegt vor, aufgrund einer Naturkatastrophe, Seuchengefahr oder eines besonders schweren Unglücksfalls oder einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes dem unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder seine Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden kann.

(4) Liegt nach Feststellung der Landtagspräsidentin oder des Landtagspräsidenten ein Notfall vor, beantragt sie oder er die einstweilige Bestätigung dieser Feststellung durch das Landesverfassungsgericht. Das Landesverfassungsgericht entscheidet innerhalb Tagesfrist. Hat das Landesverfassungsgericht das Vorliegen eines Notfalls einstweilen bestätigt, tritt der Notausschuss unverzüglich zusammen. Der Notausschuss entscheidet zu Beginn jeder Sitzung mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder, ob die Voraussetzungen des Notfalls nach Absatz 3 fortbestehen. Anträge nach Artikel 51 Absatz 2 Nummer 1 gegen die Feststellung des Notfalls und Beschlüsse des Notausschusses nach Satz 4 bleiben unberührt.

(5) Die Feststellung wird von der Landtagspräsidentin oder dem Landtagspräsidenten unverzüglich bekannt gemacht. Vom Notausschuss beschlossene Gesetze werden im Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet. Ist dies nicht rechtzeitig möglich, so erfolgt die Verkündung in anderer Weise; sie ist im Gesetz- und Verordnungsblatt nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen.

(6) Der Landtag kann durch den Notausschuss beschlossene Gesetze oder andere Maßnahmen durch Beschluss aufheben, wenn dies spätestens vier Wochen nach dem nächsten Zusammentritt des Landtages beantragt wird.

(7) Der Landtag hat den Notfall unverzüglich für beendet zu erklären, wenn die Voraussetzungen für seine Feststellung nicht mehr gegeben sind.

14

Zudem sollte nach dem Entwurf Art. 70 LV um folgenden Absatz 3 ergänzt werden:

(3) Der Landtag überprüft zum 31. Dezember 2022, ob aufgrund der konkreten Erfahrungen eine Änderung oder Fortführung der Regelung zum Notausschuss in Artikel 47a angezeigt ist. Artikel 47a tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2023 außer Kraft.

15

Der Gesetzentwurf enthielt keine Begründung.

16

Der Entwurf wurde am 20. November 2020 an den Innen- und Rechtsausschuss überwiesen (PlPr 19/1000, S. 7701). Dieser holte schriftliche Stellungnahmen ein und führte eine mündliche Anhörung durch.

17

Am 24. Februar 2021 erfolgte ein erster Änderungsantrag aller Fraktionen und der Abgeordneten des SSW (Landtags-Umdruck 19/5420).

18

Mit einem weiteren Änderungsantrag vom 24. März 2021 (Landtags-Umdruck 19/5556) unterbreiteten diese den Vorschlag, die Regelung zum Notausschuss insgesamt neu zu fassen und in die Landesverfassung einen Artikel 22a, wie in Randnummer 1 dargestellt, einzufügen.

19

Zur Begründung führte der Änderungsantrag unter anderem aus, die erheblichen Beeinträchtigungen durch die COVID19-Pandemie hätten ein Bedürfnis aufgezeigt, in außergewöhnlichen Notlagen dafür Sorge zu tragen, die Funktions- und Handlungsfähigkeit des Schleswig-Holsteinischen Landtags jederzeit zu sichern und zu gewährleisten. Daher sei es erforderlich, die Landesverfassung zu ergänzen und die Möglichkeit zu schaffen, dass das Parlament auch in Notlagen zusammentreten und Entscheidungen treffen könne. Wenn die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise zulässige hybride Sitzung des Landtags nicht vorlägen, könne ein Notausschuss aktiviert werden, der als verkleinertes Parlament den Landtag spiegelbildlich abbilden und in außergewöhnlichen Notlagen gewährleisten solle, dass das Parlament jederzeit seine verfassungsrechtlichen Aufgaben wahrnehmen könne.

20

Der Notausschuss werde als ständiger Ausschuss für die Dauer einer Wahlperiode durch den Landtag bestellt. Er bestehe aus mindestens elf Mitgliedern und sei entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zu besetzen. Die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss müssten den Mehrheitsverhältnissen im Landtag entsprechen. Falls auf Gruppierungen fraktionsloser Abgeordneter – die sich wegen gleicher Parteizugehörigkeit oder aufgrund eines Wahlbündnisses zusammengeschlossen haben, ohne Fraktionsstärke zu erreichen – bei der festgelegten Größe des Notausschusses und auf der Grundlage des vom Parlament angewendeten Proportionalverfahrens ein oder mehrere Sitze entfielen, seien auch diese zu berücksichtigen. Die Größe des Ausschusses werde zum Beginn der Wahlperiode gemäß Absatz 1 Satz 7 durch die Geschäftsordnung festgelegt. Mit der nach Absatz 1 Satz 4 bei Zusammentritt als Notparlament vorgesehenen Erweiterung des Notausschusses um weitere anwesende Abgeordnete sei beabsichtigt, den Statusrechten der Abgeordneten, soweit möglich, Rechnung zu tragen und dass der Notausschuss als Notparlament in der jeweils größtmöglichen Zusammensetzung tage.

21

Der Notausschuss nehme während einer Notlage die Funktion des Parlaments wahr. Die Wahrnehmung unterliege allerdings inhaltlichen Beschränkungen.

22

Eine Notlage sei nach Absatz 4 unter drei Voraussetzungen gegeben: Es müsse eine außerordentlich schwere Katastrophe oder epidemische Lage von überregionaler Tragweite vorliegen. Daneben müssten unüberwindliche Hindernisse für den unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtags oder seine Beschlussfähigkeit bestehen. Diese müssten gerade auf die Katastrophe zurückzuführen sein.

23

Eine Notlage sei immer dann anzunehmen, wenn die Beschlussfähigkeit des Landtags nicht hergestellt werden könne. Damit solle die mit sinkender Zahl der Teilnehmenden steigende Gefahr von Zufallsmehrheiten reduziert werden, um bei parlamentarischen Entscheidungen grundsätzlich die Mehrheitsverhältnisse im Landtag zu wahren. Ein Indiz für das Vorliegen einer epidemischen Lage von überregionaler Tragweite sei gegeben, wenn der Deutsche Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) durch Beschluss feststelle. Auch bei Vorliegen der äußeren Rahmenbedingungen sei eine Notlage nur dann gegeben, wenn aufgrund dieser dem unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtags unüberwindliche Hindernisse entgegenstünden oder seine Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden könne. Der Zusammentritt des Landtags sei unaufschiebbar, wenn zwingend eine kurzfristige Beschlussfassung durch ihn objektiv erforderlich sei.

24

Eine Einberufung des Notausschusses als Notparlament sei außerdem ultima ratio. Unter Berücksichtigung der Beteiligungs- und Informationsrechte der Abgeordneten sei vor dem Zusammentritt des Notausschusses der Versuch zu unternehmen, den Landtag in hybrider Sitzung mit anwesenden und über elektronische Bild- und Tonübertragung zugeschalteten Abgeordneten zusammentreten zu lassen. Erst wenn eine hybride Sitzung nicht zulässig sei, lägen die Voraussetzungen für die Einberufung des Notausschusses vor.

25

Um die Verhältnismäßigkeit der mit dem Notausschussverfahren verbundenen Eingriffe in die Rechte der Abgeordneten aus Art. 17 LV zu wahren und damit die Eingriffe auf das Unerlässliche zu beschränken, müsse deren Recht, an den Sitzungen des Ausschusses teilzunehmen, das Wort zu ergreifen sowie Fragen und Anträge zu stellen, erhalten bleiben. Ebenso müssten alle Abgeordneten ungehinderten Zugang zu den Sitzungsunterlagen haben. Die unverzügliche Zuleitung der Vorlagen und Beschlüsse des Notausschusses sei zudem auch zur Wahrnehmung ihrer Kontrollrechte sowie zur rechtzeitigen Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes gemäß Absatz 6 Satz 3 zu gewährleisten.

26

Dieser Änderungsantrag wurde im Innen- und Rechtsausschuss am 24. März 2021 erörtert und einstimmig angenommen (Niederschrift Innen- und Rechtsausschuss 19/113, S. 7 f.). Der Innen- und Rechtsausschuss empfahl dem Landtag einstimmig, den Gesetzentwurf in der geänderten Fassung anzunehmen (Landtags-Drucksache 19/2777).

27

Der Antragsgegner verabschiedete den Gesetzentwurf in der zweiten Lesung am 26. März 2021 entsprechend der Empfehlung des Innen- und Rechtsausschusses gegen die alleinige Stimme der Antragstellerin (PlPr 19/116, S. 8700 <8810>).

28

Das Gesetz wurde am 20. April 2021 ausgefertigt und im Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein vom 14. Mai 2021 veröffentlicht (S. 438). Es trat damit nach seinem Artikel 2 am 15. Mai 2021 in Kraft.

29

Die Geschäftsordnung des Antragsgegners enthielt in der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 9. Februar 2022 geltenden Fassung vom 26. August 2021 keine Regelung zum Notausschuss. Mit Beschluss vom 25. Februar 2022 (GVOBl S. 222) hat der Antragsgegner die Geschäftsordnung um einen neuen Abschnitt Xa – Notlage (§ 22 a Landesverfassung) – ergänzt.

30

Ein Notausschuss ist bisher nicht bestellt worden.

III.

31

Die Antragstellerin hat am 23. Juni 2021 das Landesverfassungsgericht angerufen.

32

Sie macht geltend, die Regelung zur Einrichtung des Notausschusses sowie zur Benennung dessen Mitglieder verletze sie in ihren Abgeordnetenrechten.

33

Es handele sich um verfassungswidriges Verfassungsrecht. Zwar fehle in der Landesverfassung eine Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbare Vorschrift. Daraus folge aber nicht, dass Änderungen der Landesverfassung keinen inhaltlichen Schranken unterlägen. Grenzen des rechtlich Zulässigen resultierten vielmehr aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG.

34

Eine Verfassungsänderung sei daher unzulässig, wenn sie gegen Kernprinzipien des Demokratiegebots nach Art. 20 GG verstoße. Art. 22a LV verletze das Demokratiegebot aus Art. 2 LV, namentlich das Gebot der Repräsentation, sowie die bundesstaatliche Struktur gemäß Art. 30 GG.

35

Nach Art. 2 LV bekunde das Volk seinen Willen durch Wahlen und Abstimmungen. Art. 17 LV formuliere, wie die Mitglieder des Landtags ihre Repräsentativrechte ausübten. Art. 17 LV sei die Konsequenz aus Art. 2 LV und aus der Umsetzung der Stellung des Landtags gemäß Art. 16 LV. Die Stellung der Antragstellerin folge daher unmittelbar aus dem Demokratieprinzip und nicht erst aus Art. 17 LV.

36

Die von ihr geltend gemachten Verfassungsrechte übe sie als Repräsentantin der Wählerschaft aus. Wenn eine Vorschrift wie Art. 22a LV die Rechte aus Art. 17 LV verletze, verletze sie zugleich das Demokratieprinzip und die Stellung des Landtags aus Art. 16 LV.

37

Aufgrund der kardinalen Bedeutung von Art. 16 und 17 LV gingen diese Art. 22a LV vor. Die Regeln über einen Notausschuss müssten den Anforderungen aus den Art. 16, 17 und 2 LV entsprechen. Da dies hier nicht der Fall sei, liege ein Verfassungsverstoß vor.

38

Die Regelung verstoße außerdem gegen das Repräsentationsprinzip. Der Notausschuss sei kein Arbeitsausschuss, der die Beschlussfassung des Landtags vorbereite, sondern ein Ersatzparlament. Werde der Notausschuss tätig, sei der größte Teil der Abgeordneten prinzipiell von der Abstimmung ausgeschlossen.

39

Auch aus der Regelung zum Gemeinsamen Ausschuss in Art. 53a GG lasse sich kein allgemeiner Grundsatz ableiten, nach dem es zulässig wäre, das Parlament auf ein Notparlament zu verkleinern, wenn es vorübergehend nicht zusammentreten könne oder dies aus Gründen der Arbeitserleichterung opportun erscheine.

40

Es sei zudem nicht ersichtlich, warum es in der Zeit des nach Art. 22a LV definierten Notstands erforderlich sein sollte, Gesetze zu verabschieden. Ausreichend sei, wenn der Notausschuss nach dem Vorbild von Art. 110 der Verfassung des Landes Hessen befugt wäre, im Einvernehmen mit der Landesregierung Notverordnungen zu erlassen, um die Exekutive handlungsfähig zu erhalten.

41

Art. 22a LV verstoße auch gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine epidemische Lage von überregionaler Tragweite sei kein tragfähiger Grund, um daraus einen Verfassungsnotstand abzuleiten. Seit diese durch Beschluss des Bundestags vom 25. März 2020 festgestellt worden sei, sei kein Fall bekannt geworden, in dem der Bundestag oder einer der Landtage nicht hätte zusammentreten können. Parlamente könnten auch auf größere Räumlichkeiten ausweichen, um die Einhaltung der Abstandsgebote zu gewährleisten.

42

Die Regelung verstoße darüber hinaus gegen die Bund-Länder-Kompetenzordnung, weil die „epidemische Lage“ im Sinne des Art. 22a LV nicht nur begrifflich, sondern auch tatbestandlich an § 5 Abs. 2 Satz 1 IfSG anknüpfe. Der Feststellung des Bundestags, dass eine solche epidemische Lage für das Gebiet der Bundesrepublik vorliege, solle laut Beschlussempfehlung des Innen- und Rechtsausschusses für das Bestehen einer epidemischen Lage im Sinne von Art. 22a LV Indizcharakter zukommen. Damit erhalte der politische Willensakt eines Bundesorgans unzulässigerweise Imperativcharakter für ein Landesorgan.

43

Die Art der Benennung der Mitglieder des Ausschusses verstoße ebenfalls gegen das Demokratieprinzip und verletze die Antragstellerin in ihren Rechten. Die Antragstellerin sei sowohl von der Mitgliedschaft im Ausschuss ausgeschlossen als auch des Rechts benommen, über die Zusammensetzung des Ausschusses mitzubestimmen.

44

Da der Ausschuss an die Stelle des Landtags trete, sei es nicht ausreichend, wenn dort die gleiche Arithmetik herrsche wie im Landtag. Die Meinungsbildung im Landtag sei kein bloßer rechnerischer Vorgang. Wäre sie das, brauchte der Landtag nie zusammenzutreten, da die Mehrheitsverhältnisse nach einer Wahl feststünden.

45

Es sei schon problematisch, dass fraktionslose Abgeordnete von vornherein von der Mitgliedschaft im Notausschuss ausgeschlossen seien. Dass sie durch Art. 22a LV aber auch von der Wahl der Mitglieder ausgeschlossen seien, sei demokratietheoretisch nicht zu rechtfertigen, auch nicht unter Verweis auf das Gebot der Spiegelbildlichkeit. Es sei ein verfassungsrechtliches Mindestgebot, den Abgeordneten bei der Verlagerung von Zuständigkeiten des Parlaments auf den Notausschuss nur so viel wie zwingend erforderlich an Rechten zu entziehen. Diese Grenze sei überschritten, wenn man, wie in Art. 22a LV erfolgt, den Fraktionen anstelle des Parlaments zubillige, Abgeordnete zu entsenden. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass es um die Ersetzung des vom Volk gewählten Parlaments durch einen Notausschuss mit elf Mitgliedern gehe. Gründe, warum die Antragstellerin nicht an der Entscheidung über die Besetzung mitwirken dürfe, habe der Antragsgegner nicht vorgetragen.

46

Die Antragstellerin beantragt,

festzustellen, dass der Antragsgegner durch die Aufnahme des Art. 22a LV i. d. F. der Bekanntmachung vom 20. April 2021 (GVOBl S. 1873) zur Bildung eines Notausschusses in die Landesverfassung die Rechte der Antragstellerin als Abgeordnete aus Art. 17 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 LV i. V. m. Art. 16 LV sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 LV verletzt.

IV.

47

Der Antragsgegner macht geltend, Art. 22a LV verletze die Antragstellerin nicht in ihren Rechten aus ihrem Abgeordnetenstatus, sondern konkretisiere als vollgültiges Verfassungsrecht diesen Status. Art. 22a LV sei ordnungsgemäß zustande gekommen. Auch materiell sei die Norm rechtmäßig. Zwar unterliege eine Änderung der Landesverfassung trotz fehlender ausdrücklicher materieller Grenzen zumindest den Grenzen der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese umfassten jedoch allein den Erhalt eines Mindestmaßes parlamentarischer Minderheitsrechte sowie die Möglichkeit einer effektiven Opposition.

48

Art. 22a LV sei verfassungskonform, da er unter Wahrung der Anforderungen des parlamentarischen Repräsentationsprinzips, der Spiegelbildlichkeit und der Rechte fraktionsloser Abgeordneter einen schonenden Ausgleich mit widerstreitenden verfassungsrechtlichen Postulaten aus dem Abgeordnetenstatus, insbesondere auch fraktionsloser Abgeordneter, darstelle. Als Kernbestandteil der Demokratiekonzeption gehe parlamentarische Repräsentation vom Idealbild der Verhandlung und Entscheidung im Plenum in Präsenz der Abgeordneten aus. Eine Delegation an beschließende – plenarersetzende – Ausschüsse sei jedoch zulässig, soweit dies für den Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang erforderlich sei. Vorliegend diene die Regelung des Art. 22a LV der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Landtags in außergewöhnlichen Krisensituationen. Sie sei dafür erforderlich. Der Anwendungsbereich der Norm sei auf extreme Notlagen begrenzt. Die Regelung wahre dabei das Spiegelbildlichkeitsprinzip.

49

Soweit die Antragstellerin das Benennungsrecht der Fraktionen rüge, handele es sich bei der Besetzung nicht um die Anwendung des demokratischen Legitimationskettenmodells, sondern lediglich um die Frage der personellen Zuständigkeit innerhalb des parlamentarischen Organbereichs.

50

Der Notausschuss halte sich weitestgehend an das parlamentarische Verfahren. Insbesondere werde die parlamentarische Öffentlichkeit, die demokratische Legitimation vermittele, nicht eingeschränkt. Der Notausschuss habe außerdem einen stark eingeschränkten Kompetenzumfang. Zudem träten nach Art. 22a Abs. 9 LV Beschlüsse des Notausschusses mit Ablauf des Tages außer Kraft, an dem der Landtag erstmalig nach Ende der Notlage zusammentrete, sofern der Landtag diese nicht bestätige.

51

Die Rechte fraktionsloser Abgeordneter würden durch die Möglichkeit zur Mitwirkung umfassend gewahrt. Ein Stimmrecht könne ihnen jedoch nicht zustehen, da andernfalls die Abbildung der demokratischen Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss konterkariert würde. Der Ausgleich zwischen den Interessen der fraktionslosen Abgeordneten und den Interessen des Gesamtparlaments habe stets von der Erkenntnis auszugehen, dass Fraktionen notwendige Bestandteile eines funktionierenden Parlamentarismus seien. Die Regelung des Art. 22a LV berücksichtige dabei aber auch die Bedürfnisse fraktionsloser Abgeordneter. Allen Abgeordneten des Landtags seien die Vorlagen und Beschlüsse des Notausschusses unverzüglich zuzuleiten.

52

Es bestünden auch umfassende Rechtsschutzmöglichkeiten. Zum einen könne das Landesverfassungsgericht nach Art. 22a Abs. 6 Satz 3 LV auf Antrag jedes Abgeordneten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den Zusammentritt des Notausschusses als Notparlament untersagen oder, sofern dieser bereits Beschlüsse gefasst habe, diese für einstweilen unanwendbar erklären. Unabhängig davon sei ein Organstreitverfahren möglich. Schließlich unterlägen die vom Notausschuss gefassten Beschlüsse den in der Landesverfassung vorgesehenen Überprüfungsmöglichkeiten.

53

Der Indizcharakter der epidemischen Lage überregionaler Tragweite verstoße nicht gegen die bundesstaatliche Ordnung, da die Feststellung eine autonome Entscheidung des Landes bleibe.

54

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

V.

55

Das Landesverfassungsgericht hat der Landesregierung Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

B.

56

Der Antrag ist zulässig (hierzu I), aber unbegründet (hierzu II).

I.

57

Der Antrag ist zulässig.

58

1. Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist eröffnet. Das Verfahren ist eine Organstreitigkeit nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 3 Nr. 1 und §§ 35 ff. LVerfGG.

59

2. Die Antragstellerin ist als Landtagsabgeordnete nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 35 LVerfGG als andere Beteiligte, die durch die Landesverfassung mit eigenen Rechten ausgestattet ist (Art. 17 LV), antragsberechtigt

(vgl. Urteile vom 29. August 2019 - LVerfG 1/19 -, LVerfGE 30, 334 ff. = SchlHA 2019, 347 ff. = NordÖR 2019, 467 ff., Juris Rn. 31, vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, LVerfGE 28, 469 ff. = SchlHA 2017, 213 ff. = NordÖR 2017, 378 ff. = NVwZ 2017, 593 ff., Juris Rn. 26, und vom 30. September 2013 - LVerfG 13/12 -, LVerfGE 24, 512 ff. = SchlHA 2013, 465 ff. = NordÖR 2014, 20 ff. = KommJur 2014, 137 ff., Juris Rn. 33; Beschluss vom 29. Oktober 2021 - LVerfG 3/21 -, Juris Rn. 29).

60

3. Die Verabschiedung eines verfassungsändernden Gesetzes ist im Organstreitverfahren vor dem Landesverfassungsgericht tauglicher Verfahrensgegenstand.

61

Gegenstand des Organstreitverfahrens muss eine rechtserhebliche Maßnahme sein, die die aus einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten erwachsenden Rechte verletzen oder unmittelbar gefährden kann.

62

Als rechtserhebliche Maßnahme, die im Organstreitverfahren angegriffen werden kann, kommt auch der Erlass eines Gesetzes in Betracht

(stRspr., vgl. Urteil vom 30. September 2013 - LVerfG 13/12 -, LVerfGE 24, 512 ff. = SchlHA 2013, 465 ff. = NordÖR 2014, 20 ff. = NVwZ-RR 2014, 3 ff. = KommJur 2014, 137 ff. = DÖV 2014, 127, Juris Rn. 34; Beschluss vom 29. Oktober 2021 - LVerfG 3/21 -, Juris Rn. 39; BVerfG, Urteile vom 16. März 1955 - 2 BvK 1/54 -, BVerfGE 4, 144 ff., Juris Rn. 15 und vom 4. Juli 2007 - 2 BvE 1/06 -, BVerfGE 118, 277 ff., Juris Rn. 187).

Dasselbe gilt im vorliegenden Fall der Beschlussfassung über das verfassungsändernde Gesetz, mit dem Art. 22a LV eingefügt wurde. Diese Maßnahme ist geeignet, auf den Abgeordnetenstatus der Beschwerdeführerin einzuwirken.

63

Die Antragstellerin kann sich insoweit auf eine verfassungsrechtliche Rechtsposition berufen. Zwar ergibt sich diese nicht unmittelbar aus Art. 17 LV. Gegenstand des Verfahrens ist die Verabschiedung eines verfassungsändernden Gesetzes, das nunmehr selbst formal vollgültiges Landesverfassungsrecht ist und den Status der Antragstellerin als Abgeordnete neu bestimmt. Da Verfassungsbestimmungen prinzipiell gleichrangig sind, kann grundsätzlich keine von ihnen an der anderen gemessen werden; vielmehr ist jede von ihnen in der Lage, andere einzuschränken oder Ausnahmen von ihnen zu begründen

(vgl. für das Grundgesetz BVerfG, Urteile vom 18. Dezember 1953 - 1 BvL 106/53 -, BVerfGE 3, 225 ff., Juris Rn. 19, vom 3. Mai 2016 - 2 BvE 4/14 -, BVerfGE 142, 25 ff., Juris Rn. 111 und vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Juris Rn. 52 f.; für die Verfassung von Berlin VerfGH Berlin, Urteil vom 15. Januar 2014 - 67/12 -, LVerfGE 25, 85 ff., Juris Rn. 92).

64

Auch Art. 28 Abs. 1 GG vermittelt der Antragstellerin keine im Organstreitverfahren beachtliche Rechtsposition. Art. 28 Abs. 1 GG ist zwar als Bundesrecht gegenüber der Landesverfassung höherrangiges Recht. Er ist jedoch im Organstreitverfahren nicht rügefähig. Nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten des Landtags oder der Landesregierung oder anderer Beteiligter, die durch die Landesverfassung oder die Geschäftsordnung des Landtags mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dementsprechend ist der Antrag nach § 36 Abs. 1 LVerfGG nur dann zulässig, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller geltend macht, durch eine Maßnahme oder Unterlassung der Antragsgegnerin oder des Antragsgegners in ihren oder seinen durch die Landesverfassung übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. Bei einer etwaigen Rechtsposition aus Art. 28 Abs. 1 GG handelt es sich nicht um eine aus der Landesverfassung abgeleitete Rechtsposition.

65

Sie kann sich jedoch auf das Demokratieprinzip als identitätsstiftende und -sichernde Grundentscheidung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein berufen.

66

Eine zur Verfassungswidrigkeit führende Kollision von Verfassungsnormen untereinander kann in Betracht kommen, wenn und soweit eine von ihnen gegen identitätsstiftende und -sichernde Grundentscheidungen der Verfassung verstößt und deshalb verfassungswidriges Verfassungsrecht darstellt

(vgl. für die Verfassung von Berlin VerfGH Berlin, Urteil vom 15. Januar 2014, a. a. O., Juris Rn. 92 m. w. N.).

67

Die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein enthält zwar anders als die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG dem Wortlaut nach keine materiellen Schranken für eine Verfassungsänderung. Gleichwohl gibt es einen Kernbestand der Landesverfassung, der einer Verfassungsänderung entzogen ist. Eine Verfassung bindet, auch wenn sie nicht unter dem Schutz einer ausdrücklichen Ewigkeitsgarantie steht, den verfassungsändernden Gesetzgeber an ihre identitätsstiftenden und -sichernden Grundentscheidungen

(vgl. für den jeweiligen Verfassungsraum BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1953, a. a. O., Juris Rn. 19 ff.; VerfGH Berlin, Urteile vom 28. Juli 1994 - 47/92 -, LVerfGE 2, 43 ff., Juris Rn. 39 sowie vom 13. Mai 2013 - 155/11 -, LVerfGE 24, 9 ff., Juris Rn. 20; VerfG Hamburg, Urteil vom 13. Oktober 2016 - 2/16 -, LVerfGE 27, 267 ff., Juris Rn. 210 ff.).

68

Zu diesen Grundentscheidungen der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein zählt das Demokratieprinzip.

69

Bereits die ursprüngliche Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 bekannte sich in ihrem Artikel 2 Absatz 1 dazu, dass alle Gewalt vom Volk ausgeht, das im Land durch seine gewählten Vertretungen handelt. Auch die Landesregierung nahm im Entwurf vom 11. Oktober 1949 ausdrücklich Bezug auf die allen demokratischen Verfassungen eigenen Grundsätze für die politische Willensbildung

(Landtags-Vorlage 263/2, Seite 186).

70

Im Rahmen der Änderung der Landessatzung in die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein wurde dies übernommen, nunmehr mit der Ergänzung durch plebiszitäre Elemente auch auf Landesebene

(vgl. zur Einführung plebiszitärer Elemente in die Landesverfassung Urteil vom 6. Dezember 2019 - LVerfG 2/18 -, SchlHA 2020, 29 ff. = LVerfGE 30, 470 ff. = W+B 2020, 43 ff. = ZUR 2020, 170 ff. = ZfW 2020, 68 ff. = NVwZ 2020, 228 ff. = NordÖR 2020, 18 ff. = ZfB 2020, 145 ff., Juris Rn. 74 ff.).

71

Das Demokratieprinzip als identitätsstiftende und -sichernde Grundentscheidung der Landesverfassung ist nicht nur objektives Strukturprinzip der Verfassung, sondern gewährt auch der bzw. dem einzelnen Abgeordneten im Organstreitverfahren rügbare Rechte.

72

Demokratie im Schleswig-Holsteinischen Verfassungsraum ist, auch wenn plebiszitäre Elemente vorhanden sind, primär repräsentative Demokratie. Das unmittelbare Repräsentationsorgan des Volkes im Land Schleswig-Holstein ist der Schleswig-Holsteinische Landtag. Dieser besteht aus den als Vertreterinnen und Vertretern des ganzen Volkes (Art. 17 Abs. 1 LV) gewählten Abgeordneten, die insgesamt die Volksvertretung bilden. Der Landtag erfüllt seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit, durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder, also nicht durch einzelne Abgeordnete, durch eine Gruppe von Abgeordneten oder durch die parlamentarische Mehrheit. Die Wahrnehmung der Repräsentationsfunktion durch den Landtag als Ganzes setzt entsprechende Mitwirkungsbefugnisse aller Abgeordneten voraus. Diese verfügen damit grundsätzlich über die gleichen Rechte und Pflichten. Daher ist jede bzw. jeder Abgeordnete berufen, an der Arbeit des Landtags, seinen Verhandlungen und Entscheidungen teilzunehmen

(vgl. für den Bundestag BVerfG, Urteile vom 28. Februar 2012 - 2 BvE 8/11-, Juris Leitsatz 1 und Rn. 101 ff. und vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Juris Rn. 48).

Erst dadurch wird Demokratie lebendig.

73

4. Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt.

74

Sie hat im Sinne von § 36 Abs. 1 LVerfGG geltend gemacht, durch die streitgegenständliche Maßnahme in ihren ihr durch die Landesverfassung übertragenen Rechten unmittelbar gefährdet zu sein und hinreichende Tatsachen vorgetragen, die eine solche Gefährdung möglich erscheinen lassen

(vgl. zu den Anforderungen an die Antragsbefugnis Urteile vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, LVerfGE 28, 469 ff. = SchlHA 2017, 213 ff. = NordÖR 2017, 378 ff. = NVwZ-RR 2017, 593 ff., Juris Rn. 28 und vom 29. August 2019 - LVerfG 1/19 -, LVerfGE 30, 334 ff. = SchlHA 2019, 347 ff. = NordÖR 2019, 467 ff., Juris Rn. 34 jeweils m. w. N.).

75

Es ist möglich, dass die Antragstellerin durch die Verabschiedung der Regelung des Art. 22a LV durch den Antragsgegner in ihren aus dem Demokratieprinzip als identitätsstiftender und -sichernder Grundentscheidung der Landesverfassung folgenden Rechten als Abgeordnete auf Abstimmung unmittelbar gefährdet ist. Dies betrifft sowohl die Beteiligung an der Abstimmung innerhalb des Notausschusses, wenn dieser als Notparlament zusammentritt, als auch das Besetzungsverfahren nach Art. 22a Abs. 1 LV.

76

Die Regelung des Art. 22a LV führt unter bestimmten Voraussetzungen dazu, dass anstelle des Landtags ein Notausschuss ohne die Mitwirkung fraktionsloser Abgeordneter, zu denen die Antragstellerin gehört, zusammentritt und Entscheidungen treffen kann. Betroffen ist damit unmittelbar das Recht der Antragstellerin als Abgeordnete auf Abstimmung. Abgeordnete, die dem Notausschuss nicht angehören, haben nach Art. 22a Abs. 7 LV nur das Recht, in seinen Sitzungen anwesend zu sein, sowie ein Rede-, Frage-, Antrags- und Informationsrecht, jedoch kein Recht zur Abstimmung.

77

Außerdem ist die Antragstellerin als fraktionslose Abgeordnete nach Ansicht des Antragsgegners nicht am Verfahren zur Benennung der in den Ausschuss zu entsendenden Mitglieder zu beteiligen. Nach Art. 22a Abs. 1 Satz 1 LV bestellt der Landtag den Notausschuss. Nach Art. 22a Abs. 1 Satz 3 LV werden die Mitglieder des Notausschusses durch die Fraktionen benannt. Aufgrund der Einlassung des Antragsgegners ist zu erwarten, dass auf die Benennung durch die Fraktionen keine weitere Entscheidung des Landtags mehr folgt. Auch dadurch besteht die Möglichkeit, dass die Antragstellerin in einem Recht auf Abstimmung unmittelbar gefährdet ist.

78

5. Der Antrag ist fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nach Bekanntwerden der angegriffenen Maßnahme gestellt worden (§ 36 Abs. 3 LVerfGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 20 Abs. 1, § 36 Abs. 2 LVerfGG).

79

6. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis besteht. Die Antragstellerin hat keine alternativen und gleich effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten. Sie ist insbesondere nicht gehalten, Rechtsschutz erst im Falle einer tatsächlichen Bestellung eines Notausschusses zu suchen. Die Rechtsposition der Antragstellerin wird bereits durch die entsprechende Verfassungsänderung in Art. 22a LV unmittelbar gefährdet. Einem Rechtsschutzbedürfnis steht auch nicht entgegen, dass es im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch keine entsprechende Geschäftsordnungsregelung gegeben hat und nach Angaben des Antragsgegners in der mündlichen Verhandlung davon auszugehen sei, dass vor Ablauf der Legislaturperiode kein Notausschuss mehr bestellt werde. Eine Bestellung, zu der der Antragsgegner nach Art. 22a LV nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, kann jederzeit erfolgen.

II.

80

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die Verabschiedung des verfassungsändernden Gesetzes verstößt nicht gegen die Landesverfassung. Rechte der Antragstellerin sind weder durch die mögliche Einrichtung und das Tätigwerden eines Notausschusses ohne ihre Beteiligung (hierzu 1) noch – bei entsprechend verfassungskonformer Auslegung des Art. 22a Abs. 1 LV – durch das vorgeschaltete Bestellungsverfahren (hierzu 2) unmittelbar gefährdet.

81

1. Die mögliche Einrichtung und das Tätigwerden des Notausschusses ohne ihre Beteiligung stellen keine unmittelbare Gefährdung von Rechten der Antragstellerin dar. Das Abstimmungsrecht der Antragstellerin als Abgeordnete des Schleswig-Holsteinischen Landtags wird dadurch zwar eingeschränkt (hierzu a). Der Eingriff ist jedoch gerechtfertigt (hierzu b).

82

a) Die Einrichtung und das Tätigwerden eines Notausschusses ohne ihre Beteiligung schränkt das sich aus dem Demokratieprinzip abzuleitende Recht der Antragstellerin als Abgeordnete auf Abstimmung ein.

83

Es ist zu erwarten, dass die Antragstellerin als fraktionslose Abgeordnete nicht als Mitglied im Notausschuss benannt werden und dort daher kein eigenes Recht auf Abstimmung haben wird. Der Notausschuss hat nach Art. 22a Abs. 1 Satz 2 LV mindestens elf Mitglieder, während der Schleswig-Holsteinische Landtag ohne etwaige Ausgleichsmandate 69 Mitglieder hat, § 1 Abs. 1 Satz 1 Wahlgesetz für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz – LWahlG) in der Fassung vom 7. Oktober 1991, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. April 2021 (GVOBl S. 430). Zudem sieht Art. 22a Abs. 1 Satz 6 LV vor, dass die Sitze unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen verteilt werden, wobei sicherzustellen ist, dass die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss den Mehrheitsverhältnissen im Landtag entsprechen. Das Nähere, insbesondere Zusammensetzung und Verfahren, soll die Geschäftsordnung des Landtags regeln, Art. 22a Abs. 1 Satz 7 LV.

84

Die weiteren Teilhaberechte als Abgeordnete sind durch eine Nicht-Mitgliedschaft im Notausschuss hingegen nicht betroffen. Im Ausschuss selbst hätte die Antragstellerin auch als Nichtmitglied ein Anwesenheits- und Rederecht, dürfte Fragen und Anträge stellen und erhielte Vorlagen und Beschlüsse, Art. 22 Abs. 7 LV.

85

b) Der Eingriff in das Recht der Antragstellerin auf Abstimmung ist jedoch gerechtfertigt. Art. 22a LV ist sowohl formell (hierzu aa) als auch materiell (hierzu bb) verfassungsgemäß.

86

aa) Art. 22a LV ist formell verfassungsgemäß. Insbesondere ist der Schleswig-Holsteinische Landtag für eine Änderung der Landesverfassung zuständig. Anderes ergibt sich nicht daraus, dass in der Begründung des Gesetzentwurfs auf eine Indizwirkung der Feststellung des Bundestags zu einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite verwiesen wird. Der Feststellung des Bundestags soll ausdrücklich nur eine indizielle Wirkung zukommen; sie ersetzt nicht die notwendige eigenständige Prüfung durch die Landtagspräsidentin bzw. den Landtagspräsidenten, entfaltet also gerade keine Imperativwirkung. Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, inwieweit die Anknüpfung an die Feststellung des Bundestags eine Verletzung der Bund-Länder-Kompetenzordnung begründen könnte.

87

bb) Art. 22a LV ist auch materiell verfassungsgemäß.

88

Die Regelung dient dem Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang (hierzu (1)) und ist verhältnismäßig (hierzu (2)).

89

(1) Das Recht auf Freiheit und Gleichheit des Abgeordnetenmandats und damit auch das Recht auf Teilnahme an Abstimmungen, die vorliegend im Demokratieprinzip wurzeln, sind nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt werden

(vgl. für das Bundesverfassungsrecht BVerfG, Urteile vom 28. Februar 2012 - 2 BvE 8/11 -, BVerfGE 130, 318 ff., Juris Rn. 114 und vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Juris Rn. 52 f.).

90

Die Regelung zur Einrichtung eines Notausschusses dient dem Schutz anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang, konkret der Funktionsfähigkeit des Landtags (hierzu (a)) sowie der Sicherstellung der Repräsentationsfunktion des Landtags unter Abbildung der Mehrheitsverhältnisse des Plenums (hierzu (b)).

91

(a) Art. 22a LV soll primär die Funktionsfähigkeit des Landtags sicherstellen. Die Regelung ist zugeschnitten auf Situationen, in denen der Landtag als Plenum aufgrund einer außerordentlich schweren Katastrophe oder einer epidemischen Lage von überregionaler Tragweite im Land nicht zusammentreten kann und der Zusammentritt des Landtags unaufschiebbar ist, Art. 22a Abs. 4 LV.

92

Die Funktionsfähigkeit des Landtags als unmittelbarem Repräsentationsorgan des alle Staatsgewalt ausübenden Volkes ist ein Rechtsgut von Verfassungsrang

(vgl. für den Bundestag BVerfG, Urteile vom 28. Februar 2012, a. a. O., Juris Rn. 114 m. w. N. sowie vom 22. März 2022 a. a. O., Juris Rn. 52 ff., 109).

93

(b) Die Repräsentationsfunktion des Landtags unter Abbildung der Mehrheitsverhältnisse des Plenums ist ebenfalls ein Rechtsgut von Verfassungsrang. Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung, Art. 16 Abs. 1 LV. Grundsätzlich wird das Volk bei parlamentarischen Entscheidungen nur durch das Parlament als Ganzes und damit durch die Gesamtheit seiner Mitglieder angemessen repräsentiert

(vgl. für den Bundestag BVerfG, Urteile vom 22. September 2015 - 2 BvE 1/11 -, BVerfGE 140, 115 ff., Juris Rn. 91 m. w. N. und sowie vom 22. März 2022 a. a. O., Juris Rn. 48).

Zwar liegt auch bei einer Verhinderung einzelner Abgeordneter keine Tätigkeit der Gesamtheit aller Mitglieder vor. Dies ist jedoch hinzunehmen, soweit nicht eine Schwelle erreicht wird, ab der nur noch eine Minderzahl der eigentlichen Mitglieder des Landtags tätig wird; dann handelt nicht mehr der Landtag als Plenarorgan.

94

Obwohl die Abgeordneten gemäß Art. 17 Abs. 1 LV das ganze Volk vertreten, bei der Ausübung ihres Amtes nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, spiegelt die Zusammensetzung des Landtags als Plenum mit den dort abgebildeten politischen Stärkeverhältnissen das Ergebnis einer Verhältniswahl wider, die den politischen Willen des Volkes zum Ausdruck bringt

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff. = DÖV 2010, 942 = JA 2010, 911 ff. = NVwZ 2010, 1560, Juris Rn. 99).

Je mehr Abgeordnete an der Abstimmung im Plenum nicht teilnehmen können, desto eher drohen zufällige Mehrheitsverhältnisse, die dem Willen des Wahlvolks nicht mehr entsprechen.

95

(2) Die Regelung zur Einrichtung eines Notausschusses ist zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Landtags sowie der Repräsentationsfunktion des Landtags unter Abbildung der Mehrheitsverhältnisse des Plenums geeignet (hierzu (a)), erforderlich (hierzu (b)) und angemessen (hierzu (c)) und damit verhältnismäßig.

96

(a) Die Regelung des Art. 22a LV ist geeignet.

97

Zum einen kann durch die Bestellung eines die Mehrheitsverhältnisse im Plenum widerspiegelnden Notausschusses, der im Fall einer Notlage nach Art. 22a Abs. 4 LV anstelle des Landtags als Notparlament handeln kann, die Funktionsfähigkeit des Landtags – vertreten durch den Notausschuss als Notparlament – weitestgehend sichergestellt werden. Da im Zeitpunkt der Bestellung des Notausschusses zu Beginn der Wahlperiode nicht vorhersehbar ist, welche Landtagsabgeordneten aufgrund der Notlage nicht in der Lage sein werden, an einer Sitzung des Landtags teilzunehmen, setzt die Geeignetheit die Bestellung einer großen Anzahl von Stellvertreterinnen und Stellvertretern voraus.

98

Die Regelung des Art. 22a LV ist zum anderen auch geeignet, die Mehrheitsverhältnisse im Landtag widerzuspiegeln und somit die Repräsentationsfunktion des Landtags sicherzustellen. Dies folgt aus der Regelung selbst. Nach deren Absatz 1 Satz 6 ist Vorgabe für die Besetzung des Notausschusses, dass die Sitze unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen verteilt werden. Dabei ist sicherzustellen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss den Mehrheitsverhältnissen im Landtag entsprechen.

99

(b) Die Einrichtung eines Notausschusses ist erforderlich. Es ist kein milderes Mittel ersichtlich, um die Funktionsfähigkeit des Landtags sicherzustellen.

100

Würde keine Regelung getroffen, drohte in einer Notlage im Sinne des Art. 22a Abs. 4 LV die Handlungsunfähigkeit des Parlaments. Dies hätte zur Folge, dass dann gerade auch die bzw. der einzelne Abgeordnete nicht abstimmen und nicht ihre bzw. seine verfassungsmäßige, vom Volk übertragene Aufgabe wahrnehmen könnte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine außerordentlich schwere Katastrophe oder eine epidemische Lage von überregionaler Tragweite eintritt, in der weder ein persönliches Zusammentreten noch – wegen eines Zusammenbruchs der Infrastruktur oder auch eines vorübergehenden krankheitsbedingten Ausfalls einer großen Anzahl von Abgeordneten – eine Sitzung des Landtags in Anwesenheit und durch Zuschaltung mittels Bild- und Tonübertragung (hybride Sitzung) möglich ist.

101

Würden alternativ zum Notausschuss in Form einer Notverordnungsregelung Kompetenzen auf die Landesregierung übertragen

(vgl. Art. 44 Niedersächsische Verfassung; Art. 60 Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen; Art. 111 Verfassung für Rheinland-Pfalz),

bedeutete dies einen erheblichen Eingriff in die Gewaltenteilung und damit in die verfassungsmäßige Grundordnung. Der Eingriff in die Rechte des Parlaments als Legislative und der bzw. des einzelnen Abgeordneten wäre damit stärker als bei einer Übertragung von Kompetenzen auf den Notausschuss, mit der die Funktionsfähigkeit des Landtags für Notlagen gerade sichergestellt wird.

102

Eine Änderung der Regelungen zur Beschlussfähigkeit des Landtags (Art. 22 Abs. 3 LV) wäre nicht ebenso geeignet, um dessen Funktionsfähigkeit bei gleichzeitiger Sicherung der Mehrheitsverhältnisse zu sichern.

103

Soweit allein das für die Beschlussfähigkeit erforderliche Quorum herabgesetzt würde

(vgl. Art. 43 Abs. 3 Verfassung von Berlin mit Geltung bis zum Ende der 18. Wahlperiode; für den Bund § 126a Abs. 1 GOBT a. F. mit Geltung bis zum Ende der 19. Wahlperiode; sowie § 59a LTGO in der Fassung vom 18. März 2020 mit Geltung bis zum 31. Juli 2020, vom 25. September 2020 mit Geltung bis zum 31. Oktober 2020 und vom 30. Oktober 2020 mit Geltung bis zum 28. Februar 2021),

wären die Abgeordneten zwar weniger in ihren Rechten betroffen, weil alle, die nicht aufgrund der Ausnahmesituation an der Teilnahme an einer Sitzung gehindert sind, ihre Abgeordnetenrechte weiterhin ausüben könnten. Damit bestünde allerdings das Risiko, dass die Mehrheitsverhältnisse erheblich verschoben werden könnten und eine Minderheit eine Regelung gegen die eigentliche Parlamentsmehrheit durchsetzen könnte, da es anders als beim Notausschuss keinen Sicherungsmechanismus für die Abbildung der Mehrheitsverhältnisse gäbe.

104

Es wäre zwar denkbar, bei Nichterreichung des Quorums für die Beschlussfähigkeit eine weitere besondere Regelung zur Beschlussfähigkeit vorzusehen. Diese könnte bei Anwesenheit nur einer geringen Anzahl von Abgeordneten aufgrund einer außergewöhnlichen Notlage daran geknüpft werden, dass die Fraktionen und Gruppen bei der Abstimmung entsprechend ihres Stärkeverhältnisses repräsentiert sind oder alle Fraktionen und Gruppen vertreten sind und keine benachteiligte Fraktion oder Gruppe eine eventuelle Verschiebung der Stärkeverhältnisse rügt. Damit würde nicht in die Statusrechte der Abgeordneten eingegriffen, weil auf diese Weise niemand (potentiell) von der Mitwirkung ausgeschlossen würde. Allerdings wäre eine solche Regelung im Vergleich zur Einrichtung eines Notausschusses im Sinne des Art. 22a LV kein milderes Mittel, da sie nicht ebenso geeignet wäre. Wenn das niedrigere Quorum nicht erreicht würde oder die Mehrheitsverhältnisse nicht spiegelbildlich wären, wäre der Landtag handlungsunfähig. Gerade das soll durch die Regelung zum Notausschuss in Art. 22a LV vermieden werden.

105

Die Regelung des Art. 22a LV ist auch im Hinblick auf die Repräsentationsfunktion des Landtags erforderlich. Soweit nicht ausreichend Abgeordnete an der Sitzung teilnehmen können, um im Plenum die vom Wahlvolk gewollten Mehrheitsverhältnisse abzubilden, ist dies nur in einem entsprechend der Mehrheitsverhältnisse verkleinerten Gremium möglich. Ein milderes, gleich geeignetes Mittel ist nicht ersichtlich.

106

(c) Die Regelung des Art. 22a LV ist angemessen. Sie stellt einen schonenden Ausgleich der widerstreitenden Verfassungsgrundsätze und -rechte dar.

107

Das Tätigwerden des Notausschusses als Notparlament ist an enge Voraussetzungen geknüpft und damit auf ein Mindestmaß beschränkt. Erforderlich ist zum einen, dass aufgrund einer außerordentlich schweren Katastrophe oder einer epidemischen Lage von überregionaler Tragweite im Land dem unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtags unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder seine Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden kann, Art. 22a Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 LV. Zum anderen muss eine hybride Sitzung des Landtags in Anwesenheit und durch Zuschaltung über eine elektronische Bild- und Tonübertragung ausgeschlossen sein. Daran fehlt es, wenn eine Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden und der zugeschalteten Abgeordneten feststellt, dass eine Notlage vorliegt und die Anwesenheit oder Zuschaltung durch Bild- und Tonübertragung allen Abgeordneten sowie den Mitgliedern und Beauftragten der Landesregierung möglich und eine sichere elektronische Kommunikation gewährleistet ist, Art. 22a Abs. 5 LV.

108

Darüber hinaus ist die Tätigkeit des Notausschusses als Notparlament auch inhaltlich beschränkt. Der Notausschuss darf als Notparlament nur Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um die Handlungsfähigkeit des Landes während der Notlage zu sichern. Die Landesverfassung und die Geschäftsordnung des Landtags dürfen durch den Notausschuss weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Auch steht dem Notausschuss nicht die Befugnis zu, der Ministerpräsidentin oder dem Ministerpräsidenten das Misstrauen auszusprechen, Art. 22a Abs. 2 Satz 2 bis 4 LV. Während einer Notlage finden durch den Landtag vorzunehmende Wahlen nicht statt; der Notausschuss kann lediglich die Amtszeit von Personen, deren Ämter während der Notlage nachzubesetzen wären, mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder bis zwei Monate nach Ablauf der Notlage verlängern, Art. 22a Abs. 3 LV.

109

Schließlich ist die Wirkung der Tätigkeit des Notausschusses zeitlich begrenzt. Beschlüsse des Notausschusses treten mit Ablauf des Tages außer Kraft, an dem der Landtag erstmalig nach Ende der Notlage wieder zusammentritt, sofern er die Beschlüsse des Notarparlaments nicht bestätigt, Art. 22a Abs. 9 LV.

110

2. Die Antragstellerin wird auch durch die Verabschiedung des in Art. 22a Abs. 1 LV vorgesehenen Besetzungsverfahrens in ihren Rechten nicht unmittelbar gefährdet. Es fehlt hier bereits an einem Eingriff in ihr aus dem Demokratieprinzip folgenden Abstimmungsrecht als Abgeordnete. Zwar widerspräche es dem Demokratieprinzip, wenn die Entscheidung über die Besetzung des Notausschusses allein bei den Fraktionen läge und diese durch Erklärung gegenüber der Landtagspräsidentin oder dem Landtagspräsidenten die Mitglieder benennen würden (hierzu a). Art. 22a Abs. 1 LV ist jedoch verfassungskonform dahin auszulegen, dass ein eigener Entscheidungsakt des Landtags über die personelle Besetzung des Notausschusses, mithin ein Wahlakt, hinzutritt (hierzu b).

111

a) Die besondere Stellung des Notausschusses erfordert ein erhöhtes Maß an demokratischer Legitimation. Es geht nicht nur um die Frage der personellen Zuständigkeit innerhalb des Organbereichs des Landtags bei Notlagen, sondern um die demokratische Legitimation eines an die Stelle des eigentlichen Landtags tretenden Gremiums.

112

Der Notausschuss übt als Notparlament durch seine Entscheidungen unmittelbar Staatsgewalt aus. Seine Mitglieder müssen daher in ausreichender Weise durch das Staatsvolk legitimiert sein.

113

In der freiheitlichen Demokratie geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. Alle Organe und Vertretungen, die Staatsgewalt ausüben, bedürfen hierfür einer Legitimation, die sich auf die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger als Staatsvolk zurückführen lässt. Die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation erfordert eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 - 2 BvR 1178/86 -, BVerfGE 77, 1 ff., Juris Rn. 98).

114

Der Umstand, dass die Mitglieder des Notausschusses unmittelbar vom Volk gewählte Vertreterinnen und Vertreter des ganzen Volkes sind, ist vor dem Hintergrund der besonderen Stellung des Notausschusses allein nicht ausreichend, um diesen demokratisch zu legitimieren.

115

Zwar erlangen die Abgeordneten des Landtags die für ihre Tätigkeit als Volksvertreterinnen und -vertreter erforderliche demokratische Legitimation unmittelbar durch die Wahl. Die in regelmäßig wiederkehrenden zeitlichen Abständen stattfindende Wahl stellt sicher, dass die Abgeordneten dem Volk verantwortlich bleiben. Durch diese Wahl erhält der Landtag seine Legitimation als Repräsentationsorgan des Volkes

(vgl. für den Bundestag BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 - 2 BvR 1178/86, 2 BvR 1179/86, 2 BvR 1191/86 -, BVerfGE 77, 1 ff., Juris Rn. 99).

116

Der Notausschuss handelt jedoch, wenn er als Notparlament tätig wird, weder als bloß vorbereitender Arbeitsausschuss noch als parlamentarischer Fachausschuss, der als Hilfsorgan des Landtags lediglich von diesem übertragene Aufgaben erfüllt

(so für den Untersuchungsausschuss des Bundestags nach Art. 44 GG BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987, a. a. O., Juris Rn. 99).

Vielmehr hat in entsprechenden Fällen der Notausschuss die Stellung des Landtags und nimmt dann weitgehend dessen Rechte wahr, Art. 22a Abs. 2 Satz 1 LV. Zwar darf er nur die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Handlungsfähigkeit des Landes während der Notlage zu sichern, Art. 22a Abs. 2 Satz 2 LV, und unterliegt weiteren inhaltlichen Beschränkungen nach Art. 22a Abs. 2 Satz 3 sowie Abs. 4 LV. Er hat in diesem Rahmen jedoch das Recht zur Gesetzgebung, selbst wenn seine Beschlüsse mit Ablauf des Tages, an dem der Landtag erstmalig nach Ende der Notlage zusammentritt, außer Kraft treten, sofern der Landtag diese nicht bestätigt hat, Art. 22a Abs. 9 Satz 1 LV. Damit übernimmt der Notausschuss in der Notlage eine Kernaufgabe des Parlaments als gesetzgebender Gewalt, für die sonst nach den Grundprinzipien parlamentarischer Demokratie ein Entscheidungsmonopol der parlamentarischen Vollversammlung gilt

(vgl. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 9 Rn. 106).

117

Die für ein Notparlament erforderliche Legitimation kann nicht von den Fraktionen vermittelt werden. Fraktionen sind Zusammenschlüsse von Mitgliedern des Landtags und wirken an der Erfüllung der Aufgaben des Landtags mit, § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 FraktionsG. Sie verfügen aber nicht selbst über eine vom Volk abgeleitete demokratische Legitimation. Eine Benennung durch Fraktionen kann daher nicht dem Plenum zugerechnet werden und stellt auch keine Wahl durch dieses dar

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1974 - 2 BvK 1/73 -, 2 BvR 902/73 -, BVerfGE 38, 258 ff., Juris Rn. 54).

Es widerspräche daher dem Demokratieprinzip, wenn die Entscheidung über die Besetzung des Notausschusses allein bei den Fraktionen läge und diese durch Erklärung gegenüber der Landtagspräsidentin oder dem Landtagspräsidenten dessen Mitglieder benennen würden. Die erforderliche Legitimation des Notausschusses kann – unabhängig davon, ob alle im Landtag vertretenen Abgeordneten Mitglieder von Fraktionen sind – nur unmittelbar durch das Parlament selbst in Form einer eigenen Wahlentscheidung geschaffen werden. Durch diese Wahlentscheidung wird den einzelnen Abgeordneten eine zumindest mittelbare Teilhabe an den späteren Entscheidungen des Notausschusses eingeräumt

(vgl. Arndt in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 21 Rn. 42).

Eine solche Wahlentscheidung schützt – anders als eine Entsendung durch die Fraktionen – spiegelbildlich auch das freie Mandat der in den Notausschuss berufenen Abgeordneten

(vgl. Abmeier, Die Parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestags nach dem Grundgesetz, 1984, S. 96, 171).

118

Eine hinreichende Legitimation ergibt sich danach nicht bereits dadurch, dass der Landtag die Entscheidung über die Einrichtung des Notausschusses als solche trifft. Zum einen steht die Entscheidung darüber, ob ein Notausschuss eingerichtet wird – anders als für die Ausschüsse nach Art. 23 LV – nicht im Ermessen des Antragsgegners; dieser wird vielmehr durch Art. 22a LV nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, einen Notausschuss einzurichten. Zum anderen erfordert die demokratische Legitimation eines in bestimmten Situationen vollständig an die Stelle des Landtags tretenden Gremiums aus den vorgenannten Gründen nicht nur eine Entscheidung des Landtags über die Einrichtung eines solchen Gremiums, sondern auch über dessen konkrete personelle Zusammensetzung.

119

b) Zwar sieht Art. 22a Abs. 1 LV nicht ausdrücklich einen Entscheidungsakt des Landtags über die personelle Besetzung des Notausschusses vor. Art. 22a Abs. 1 Satz 1 LV ist jedoch verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die darin vorgesehene Bestellung des Notausschusses durch den Landtag einen eigenen Wahlakt des Landtags über dessen personelle Zusammensetzung umfasst.

120

Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten. Die verfassungskonforme Auslegung darf jedoch mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht in Widerspruch treten

(vgl. zu den Anforderungen an eine verfassungsgemäße Auslegung BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2014 - 1 BvR 2142/11 -, BVerfGE 138, 64 ff., Juris Rn. 86).

121

Die von der Verfassung gebotene Auslegung dahingehend, dass der Bestellung des Notausschusses ein eigener Wahlakt des Landtags über die personelle Zusammensetzung vorausgehen muss, ist angesichts des Wortlauts des Art. 22a Abs. 1 LV ohne weiteres möglich. Bestellung ist kein einheitlich definierter Begriff und wird in verschiedenen Rechtsgebieten, vor allem auch im Gesellschafts- und Vereinsrecht, verwendet. Im öffentlichen Recht dient Bestellung meist als Begriff für das Verfahren bei der Besetzung öffentlicher Ämter. Die Landesverfassung verwendet ihn in unterschiedlichem Zusammenhang. Dabei bezeichnet Bestellung mal einen einseitigen Akt der Berufung oder Ernennung (vgl. Art. 33 Abs. 2 Satz 2 LV für die Vertretung der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten), mal den Vorgang der Konstituierung eines Organs oder Besetzung des Amtes einer Organwalterin bzw. eines Organwalters mit oder ohne vorausgehenden Wahlakt (vgl. für die öffentliche Verwaltung Art. 2 Abs. 3 LV, den Petitionsausschuss Art. 25 Abs. 1 LV oder die Mitglieder des Landesverfassungsgerichts Art. 68 i. V. m. Art. 51 Abs. 3 LV). In diesem Sinne hat auch der Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung erklärt, der Begriff „bestellt“ in Art. 22a LV sei „untechnisch“ zu verstehen.

122

Die Bestellung des Notausschusses ist nach dem Wortlaut der Verfassungsnorm nicht mit der Auswahlentscheidung der Fraktionen gleichzusetzen. Diese „benennen“ lediglich gemäß Art. 22a Abs. 1 Satz 3 LV durch Erklärung gegenüber der Landtagspräsidentin oder dem Landtagspräsidenten die „von ihnen zu stellenden“ Ausschussmitglieder. Die Benennung von Mitgliedern für den Notausschuss ist also eine Vorbereitungshandlung für die nachfolgende Bestellung des Notausschusses durch den Landtag gemäß Absatz 1 Satz 1. Möglich ist eine Auslegung, nach der die Bestellung des Notausschusses in der schlichten administrativen Umsetzung ohne eigene Entscheidungskompetenz durch den Landtag läge. Ebenso möglich ist, dass im Anschluss an die Benennung der Mitglieder des Notausschusses – als ungeschriebene Verfassungsvoraussetzung – deren Wahl durch den Landtag erfolgte. Diese Wahl könnte entweder einen Zwischenschritt vor einer Ernennung durch den Landtag oder sogleich die abschließende Bestellung des Notausschusses darstellen. Wohl in dem zuletzt genannten Sinn regelte der Art. 22a LV vorhergehende Entwurf eines Art. 47a LV (Landtags-Drucksache 19/2558) in Absatz 1 Satz 1, dass der Landtag einen Notausschuss „bestellt“, und in seinem Absatz 1 Satz 2, dass die Mitglieder und ihre Stellvertretungen vom Landtag entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen gewählt werden. Die Fassung des Art. 22a Abs. 1 LV lässt aber auch ohne eine solche ausdrückliche Regelung die Auslegung zu, dass für die Bestellung des Notausschusses eine Wahl durch den Landtag erforderlich ist.

123

Auch systematische Gesichtspunkte stehen der gebotenen Auslegung nicht entgegen. Art. 22a Abs. 1 LV folgt im Anschluss an die Regelungen, die sich auf Funktion und Zusammensetzung des Landtags (Art. 16 LV), die Stellung der Abgeordneten (Art. 17 LV) und die Beschlussfassung durch den Landtag (Art. 22 LV) beziehen. Die Verfassungsnorm steht damit in einer Abfolge mit den die Rechte des Landtags konstituierenden Regelungen. Dies vergegenwärtigt die herausgehobene Stellung, die dem Notausschuss als Notparlament in einer Notlage zukommt. Hätte der verfassunggebende Gesetzgeber den Notausschuss wie einen sonstigen Ausschuss angesehen, hätte er die Regelung erst im Anschluss an Art. 23 LV über die Ausschüsse verortet, so wie er dies für Untersuchungsausschüsse (Art. 24 LV), den Petitionsausschuss (Art. 25 LV) und den parlamentarischen Einigungsausschuss (Art. 26 LV) getan hat. Deshalb findet die Auffassung, dass beim Notausschuss anders als bei sonstigen Ausschüssen eine Wahl der Mitglieder durch den Landtag erfolgen muss, im Gefüge der Verfassungsnormen eine zusätzliche Stütze.

124

Sinn und Zweck der Bestellung des Notausschusses widerstreiten gleichfalls nicht der Annahme, dass eine Wahl des Notausschusses durch den Landtag geboten ist, sondern tragen diese Auslegung in besonderer Weise. Gerade weil der Notausschuss in definiertem Umfang die Rechte des Gesamtparlaments ausübt, bedürfen die Mitglieder der entsprechenden Beauftragung durch das Plenum.

125

Die Auslegung, dass als ungeschriebene Verfassungsvoraussetzung eine Wahl der Mitglieder des Notausschusses durch den Landtag erfolgen muss, widerspricht schließlich auch nicht dem klar erkennbaren Willen des Verfassungsgebers. Insbesondere lässt der Umstand, dass der Art. 22a LV vorhergehende Entwurf eines Art. 47a LV (Landtags-Drucksache 19/2558) in seinem Absatz 1 Satz 2 ausdrücklich einen Wahlvorgang vorsah, während diese Formulierung in Art. 22a LV nicht aufgegriffen wurde, nicht zwingend darauf schließen, dass von einer Wahl abgesehen werden sollte. Die Gesetzesbegründung (Landtags-Umdruck 19/5556) verhält sich nicht dazu, ob die Bestellung des Notausschusses gemäß Art. 22a LV einen Entscheidungsakt des Landtags voraussetzt oder nicht.

III.

126

Die mündliche Verhandlung war nicht nach § 13 Abs. 2 LVerfGG i. V. m. § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO wiederzueröffnen. Zwar hat der Antragsgegner nach der mündlichen Verhandlung vom 9. Februar 2022 mit Beschluss vom 25. Februar 2022 seine Geschäftsordnung geändert. Ferner steht am Tag der Verkündung dieser Entscheidung ein Antrag zur Änderung des Landesverfassungsgerichtsgesetzes im Landtag zur Abstimmung (Landtags-Drucksache 19/3652, vgl. Beschlussempfehlung des Innen- und Rechtsausschusses Landtags-Drucksache 19/3714), und die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 18. Februar 2022 ergänzend vorgetragen. Diese Umstände waren aber nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu rechtfertigen.

IV.

127

Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Auslagen können auf Antrag erstattet werden (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Ein entsprechender Antrag wurde nicht gestellt. Über die Vollstreckung ist nicht zu entscheiden (§ 34 LVerfGG).

128

Das Urteil ist einstimmig ergangen.


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