Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 11 UF 85/14
Tenor
Auf die Beschwerde der Kindesmutter wird der am 09.04.2014 erlassene Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Hamm abgeändert. Der Antrag des Kindesvaters auf Vollstreckbarerklärung der Sorgerechtsentscheidung des Tribunal de Grande Instance Albi (Frankreich) vom 28.11.2013 (R.G. ##/#####) wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden für das Beschwerdeverfahren nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Dieser Beschluss wird mit Rechtskraft wirksam.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 € festgesetzt.
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Gründe:
3Die gem. § 24 IntFamRVG zulässige Beschwerde der Kindesmutter ist begründet.
4Das Amtsgericht hätte die Sorgerechtsentscheidung des Tribunal de Grande Instance Albi (Frankreich) vom 28.11.2013 (R.G. ##/#####) nicht für vollstreckbar erklären und mit der Vollstreckungsklausel versehen dürfen.
5Zwar liegen die formellen Voraussetzungen vor, unter denen die in Frankreich ergangene Sorgerechtsentscheidung gem. Art. 28 ff. der sog. Brüssel-IIa-VO in Deutschland für vollstreckbar zu erklären wäre.
6Der Antrag des Kindesvaters ist aber gem. Art. 31 Abs.2, 23 b) der Brüssel-IIa-VO abzulehnen. Denn die Sorgerechtsentscheidung ist nicht anerkennungsfähig, weil die französischen Gerichte das nach den Maßstäben des § 159 FamFG anzuhörende Kind nicht angehört und damit – nach dem hier maßgeblichen deutschen Rechtsverständnis - die das Kindeswohl betreffenden Umstände nicht umfassend aufgeklärt haben (vgl. z.B. Rauscher im Münchener Kommentar zum FamFG, 2. Auflage 2013, § 109 Rn 42). Nach Art. 23 b) der Brüssel-IIa-VO wird eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung nicht anerkannt, wenn die Entscheidung - ausgenommen in dringenden Fällen - ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaates, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden.
7In Deutschland ist die Frage, ob eine Anhörung des Kindes geboten war, anhand des § 159 FamFG zu beurteilen. Die deutsche Rechtsprechung legt diese Vorschrift so aus, dass regelmäßig Kinder ab drei, spätestens vier Jahren anzuhören sind. Denn die Kindesanhörung ist ein ganz wesentlicher Verfahrensgrundsatz mit Verfassungsrang. Dies folgt aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Artikel 103 GG) und der Subjektstellung des Kindes als Träger eigener Grundrechte, darunter insbesondere der Menschenwürde (Artikel 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Artikel 2 GG), sowie daraus, dass das Grundrecht des Artikels 6 Absatz II GG auf Grund seiner Ausstrahlungswirkung Einfluss auf die Gestaltung kindschaftsrechtlicher Verfahren hat.
8Nach h.M. ist dabei eine Anhörung des Kindes durch den Richter erforderlich. Eine Anhörung durch dritte Personen genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen regelmäßig nicht. Die Gegenmeinung beruft sich auf eine Entscheidung des BVerfG vom 29. 10. 1998 (FamRZ 1999, 85 (89)). Die Entscheidung betraf das Haager Kindesentführungsübereinkommen vom 25. 10. 1980 (HKÜ) und den Sonderfall einer gegenläufigen Kindesentführung. Das BVerfG hat darin ausgeführt, dass die Kindesanhörung im Ausland „gegebenenfalls auch durch Begutachtung und Auskunft der zuständigen Behörde” geschehen könne. Allerdings - und deshalb ist diese Entscheidung als Beleg für die Mindermeinung nicht geeignet - sind Rückführungsverfahren nach dem HKÜ gerade keine Sorgerechtsverfahren (so ausdrücklich Art. 19 HKÜ). Genau darauf hat das BVerfG auch in dieser Entscheidung hingewiesen und ausgeführt, dass in Rückführungsverfahren grundsätzlich gar keine Kindesanhörung erforderlich sei. Es hat dies nur für die Fälle gegenläufiger Rückführungsanträge dahingehend eingeschränkt, dass eine Anhörung dort notwendig sei, allerdings nicht zwingend durch den Richter selbst. Hieraus ableiten zu wollen, dass das BVerfG von seiner ständigen Rechtsprechung abgerückt sei, derzufolge Artikel 6 GG in sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren die persönliche Anhörung durch den Richter gebietet, entbehrt einer hinreichenden Grundlage (Völker, Steinfatt: Die Kindesanhörung als Fallstrick bei der Anwendung der Brüssel IIa-Verordnung, FPR 2005, 415).
9Eine Ausnahme von Art. 23 b der Brüssel IIa-VO wird - über den Wortlaut hinaus - dann angenommen, wenn eine Anhörung auf Grund des Alters oder des Reifegrades des Kindes unangemessen erscheint. Eine bestimmte Altersgrenze legt die Verordnung nicht fest. In den meisten Mitgliedstaaten werden Kinder regelmäßig ab einem Alter von etwa zwölf bis vierzehn Jahren angehört. Sehr unterschiedlich ist die Praxis zur Anhörung von jüngeren Kindern. Zunehmend wird eine Urteilsfähigkeit des Kindes ab etwa dem schulpflichtigen Alter angenommen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des EGMR, die - trotz des weiten Ermessensspielraums der Gerichte der Mitgliedstaaten - tendenziell einer Anhörungspflicht auch jüngerer Kinder den Weg bereitet. Sieht etwa ein Mitgliedstaat nur die Anhörung von Kindern ab vierzehn Jahren vor, ist die fehlende Anhörung des jüngeren Kindes grundsätzlich ein Anerkennungsversagungsgrund. Es wird aber in gewissem Umfang hinzunehmen sein, wenn die Einschätzung, ab welchem Alter eine Kindesäußerung Einfluss auf die Entscheidung nehmen kann, im Einzelfall abweichend vom deutschen Recht beurteilt wird. Ein Grenzfall wäre sicherlich die unterbliebene Anhörung eines sechsjährigen Kindes. Die Anerkennung einer Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat kann daher versagt werden, wenn der ausländische Richter nach dem ihm zustehenden Ermessen entschieden hat, das Kind nicht anzuhören (vgl. Schlauß: Fehlende persönliche Anhörung des Kindes durch den ausländischen Richter - ein Anerkennungshindernis? FPR 2006, 228).
10Im vorliegenden Fall war das betroffene Kind schon im Zeitpunkt der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vor dem französischen Gericht am 17.10.2013 fast 7 Jahre alt und ging bereits zur Schule. Nach dem Bericht des Jugendamts der Stadt D vom 10.10.2013 handelt es sich um ein sein Alter gemäß gut entwickeltes, selbstbewusstes Kind, das den Wunsch hatte, seine Sichtweise dem französischen Gericht persönlich mitzuteilen. Hätte das Sorgerechtsverfahren in Deutschland stattgefunden, wäre das Kind F von dem zur Entscheidung berufenen Gericht ohne Zweifel persönlich anzuhören gewesen. Auf die Streitfrage, ob diese Anhörung in Frankreich zwingend durch die entscheidenden Richter vorzunehmen gewesen wäre, oder ob eine Anhörung durch einen Sozialarbeiter oder Verfahrensbeistand, der dem Gericht darüber berichtet hätte, ausreichend gewesen wäre, kommt es in der vorliegenden Konstellation nicht an. Denn im Sorgerechtsverfahren hat sich das französische Gericht keinen Eindruck von dem (aktuell) geäußerten Willen, den Bindungen und der Bedürfnislage des Kindes verschafft. Der die Äußerungen des Kindes lediglich zusammenfassende Bericht des Jugendamts D vom 10.10.2013 reicht hierzu keinesfalls aus, zumal er nicht einmal auf Anforderung des französischen Gerichts erstattet worden ist. Die Kindesmutter hatte das Jugendamt D um eine Stellungnahme zur Vorlage beim Gericht in Frankreich gebeten.
11Auf die Anhörung des Kindes in dem in Frankreich geführten Sorgerechtsverfahren konnte auch nicht deshalb verzichtet werden, weil es bereits im Rahmen des HKÜ-Verfahrens am 12.7.2013 in Deutschland von der Familienrichterin des Amtsgerichts Hamm angehört worden ist. Denn diese Anhörung lässt den Versagungsgrund des Art. 23 b der Brüssel-IIa-VO nicht entfallen, weil sie zum einen schon eine Weile zurücklag und außerdem einen abweichenden Verfahrensgegenstand betraf (vgl. auch OLG Schleswig, Beschluss vom 19.5.2008 – 12 UF 203/07, FamRZ 2008, 1761).
12Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 20 Abs.2 IntFamRVG, 81 Abs.1 FamFG.
13Rechtsbehelfsbelehrung:
14Gegen diesen Beschluss ist gemäß §§ 28 ff. IntFamRVG, 574 ff. ZPO das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde statthaft. Beschwerdeberechtigt ist derjenige, dessen Rechte durch den Beschluss beeinträchtigt sind. Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Frist von einem Monat nach der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses durch Einreichen einer Beschwerdeschrift bei dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, Herrenstr. 45a, 76133 Karlsruhe einzulegen und muss durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt unterschrieben sein. Die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde beträgt ebenfalls einen Monat und beginnt mit der schriftlichen Bekanntgabe des angefochtenen Beschlusses.Die weiteren Einzelheiten zu den zwingenden Förmlichkeiten und Fristen von Rechtsbeschwerdeschrift und Begründung ergeben sich aus §§ 28 ff. IntFamRVG, 574 ff. ZPO.
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Referenzen
- §§ 28 ff. IntFamRVG, 574 ff. ZPO 2x (nicht zugeordnet)
- IntFamRVG § 24 Einlegung der Beschwerde; Beschwerdefrist 1x
- FamFG § 159 Persönliche Anhörung des Kindes 2x
- 12 UF 203/07 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 81 Grundsatz der Kostenpflicht 1x
- FamFG § 20 Verfahrensverbindung und -trennung 1x