Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht - 2 Rev 87/15

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 9, vom 15. Juni 2015 aufgehoben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

1

Das Amtsgericht Hamburg hat den Angeklagten mit Entscheidung vom 19. Februar 2015 wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 19. Dezember 2012 unter gleichzeitiger Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr fünf Monaten sowie wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr fünf Monaten verurteilt.

2

Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Hamburg mit Urteil vom 15. Juni 2015 ohne Sachentscheidung verworfen, nachdem der Angeklagte im Termin zur Berufungshauptverhandlung nicht erschienen war.

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Gegen die Berufungsverwerfung wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, auf deren kostenpflichtige Verwerfung die Generalstaatsanwaltschaft angetragen hat.

II.

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Die zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Angeklagten hat mit der auf die rechtsfehlerhafte Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) gestützten Verfahrensrüge Erfolg.

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1. Die Rüge, das Gericht habe durch rechtsfehlerhafte Annahme nicht genügender Entschuldigung des Ausbleibens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung die Verfahrensvorschrift des § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) verletzt, ist in zulässiger Weise erhoben.

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Wird ein die Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) verwerfendes Urteil mit der Verfahrensrüge dahingehend angegriffen, das Gericht habe zu Unrecht aufgrund der im Urteil getroffenen Feststellungen das Ausbleiben des Angeklagten nicht als genügend entschuldigt angesehen, so ist die Rüge regelmäßig bereits ohne ins Einzelne gehenden Tatsachenvortrag als sog. „unsubstantiierte Verfahrensrüge“ zulässig erhoben, da es einer Wiederholungen der im Urteil enthaltenen Ausführungen in der Revisionsbegründung nicht bedarf, und die so erhobene Rüge lediglich zur Überprüfung des Urteils auf Grundlage der darin enthaltenen Feststellungen führt, an die das Revisionsgericht insoweit gebunden ist (vgl. HK-StPO-Rautenberg (5. Aufl.) § 329 Rn. 50 m. w. Nachw.; SK-StPO-Frisch (4. Aufl.) § 329 Rn. 70; LR-Gössel (26. Aufl.) § 329 Rn. 99).

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So liegt der Fall auch hier, nachdem die Revision ausdrücklich die Verletzung des „§ 329 StPO“ rügt und dazu näher ausführt, das Landgericht habe die über seine Verteidigerin vorgetragene Mitteilung des Angeklagten, aufgrund Schwindels und starker Bauchschmerzen nicht zur Hauptverhandlung erscheinen zu können, zu Unrecht als „bloße Behauptung“ gewertet und rechtsfehlerhaft ohne weitere Sachaufklärung die Berufung schon deshalb verworfen, weil der Angeklagte kein Attest für seine Erkrankung vorgelegt habe.

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2. Der Rüge bleibt auch in der Sache der Erfolg nicht versagt. Das Landgericht hat in der angefochtenen Entscheidung keine ausreichenden, die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) tragenden Feststellungen getroffen.

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a) Auf die vorgenannte Verfahrensrüge ist das Urteil insbesondere daraufhin zu überprüfen, ob die Voraussetzungen einer Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) ausreichend dargelegt sind und die Vorschrift auf die festgestellten Tatsachen ohne Rechtsfehler angewandt worden ist.

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aa) Im Verwerfungsurteil hat das Gericht die für erwiesen erachteten Tatsachen und deren Würdigung in einer Weise darzulegen, die dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglicht, ob zu Recht von einem nicht genügend entschuldigten Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung ausgegangen worden ist (vgl. Senat, Beschl. v. 22. Dezember 2011, Az.: 2 - 50/11 (REV) m. w. Nachw.).

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Im Urteil sind daher vorgetragene oder auf andere Weise dem Gericht bekannt gewordene Entschuldigungsgründe sowie vorgelegte Bescheinigungen, in der Hauptverhandlung gestellte Vertagungsanträge oder sonstige Umstände darzustellen, aus denen sich Erkenntnisse zur Frage der genügenden Entschuldigung ergeben (BayObLG NJW 2001, 1438; LR-Gössel (26. Aufl.) § 329 Rn. 69). Das Revisionsgericht prüft das Urteil insoweit auch auf erkennbare Unvollständigkeiten der darin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen (BayObLG aaO.; SK-StPO-Frisch (4. Aufl.) § 329 Rn. 73).

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Auf Grundlage des festgestellten Sachverhalts hat das Berufungsgericht sodann in umfassender Würdigung darzulegen, weshalb das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldig ist. Verzichtet werden kann auf eine solche Gesamtwürdigung lediglich dann, wenn das Vorbringen des Angeklagten von Vornherein offensichtlich zur Begründung einer genügenden Entschuldigung nicht geeignet ist (LR-Gössel (26. Aufl.) § 329 Rn. 69; BayObLG aaO.). Im Übrigen kann eine rein „formularmäßige“ Begründung der Verwerfungsentscheidung ohne einzelfallbezogene Feststellungen und Würdigung nur in solchen Fällen ausreichend sein, in denen keinerlei Entschuldigungsgründe ersichtlich oder vorgetragen sind (LR-Gössel (26. Aufl.) § 329 Rn. 70 m. w. Nachw.).

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bb) Die Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) liegt - allgemeinen Grundsätzen entsprechend - bei dem die Berufung verwerfenden Gericht, das sich über die entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen Klarheit zu verschaffen und dies im Urteil zu dokumentieren hat (vgl. SK-StPO-Frisch (4. Aufl.) § 329 Rn. 34).

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Hat das Gericht Zweifel an der Richtigkeit eines vorgetragenen Entschuldigungssachverhalts, so hat es diese im Wege freibeweislicher Ermittlungen einer Klärung zuzuführen, sofern das Vorbringen hinreichend konkret und schlüssig ist (vgl. BayObLG NJW 1998, 172; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 240; vgl. OLG Düsseldorf VRS Bd. 71, 292). Gleiches gilt, wenn dem Gericht konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen von Entschuldigungsgründen in sonstiger Weise bekannt werden. Von der gerichtlichen Aufklärungspflicht sind lediglich solche Beweismittel nicht umfasst, die nur mit erheblicher Verzögerung herangezogen werden können, da § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) auch der Verfahrensbeschleunigung dient und ein längeres Aufschieben der Verwerfungsentscheidung diesem Gesetzeszweck widerspräche (vgl. SK-StPO-Frisch (4. Aufl.) § 329 Rn. 33). Sind Entschuldigungsgründe allerdings schon vor Beginn der Berufungshauptverhandlung bekanntgeworden, so hat das Gericht die zur Verfügung stehende Zeit für gegebenenfalls erforderliche Aufklärung zu nutzen (SK-StPO-Frisch (4. Aufl.) § 329 Rn. 33).

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Korrespondierend mit der gerichtlichen Aufklärungspflicht trifft den Angeklagten grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung entschuldigender Umstände (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1997, 240; BayObLG 1998, 172; OLG Düsseldorf StV 1987, 9; KK-Paul (7. Aufl.) § 329 Rn. 8; SK-StPO-Frisch (4. Aufl.) § 329 Rn. 34) oder zu sonstiger Mitwirkung an der gerichtlichen Aufklärung dieser Umstände (BayObLG aaO.). Eine nicht genügende Entschuldigung des Ausbleibens kann daher nicht schon deshalb angenommen werden, weil der Angeklagte - sei es auch entgegen gerichtlicher Aufforderung (vgl. BayObLG DAR 1986, 249) - keine Belege für sein Entschuldigungsvorbringen beigebracht hat (vgl. OLG Köln NJW 1953, 1036; vgl. ferner KG JR 1978, 36).

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Anders als im Verfahren über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, für das § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO dem säumigen Angeklagten die Glaubhaftmachung von Entschuldigungsgründen aufgibt, kommt es für das Vorliegen genügender Entschuldigung i. S. d. § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) allein darauf an, ob objektiv entschuldigende Umstände gegeben sind - ob der Angeklagte also entschuldigt „ist“ -, nicht dagegen darauf, ob der Angeklagte Entschuldigungsgründe glaubhaft gemacht hat - sich also genügend entschuldigt „hat“ (vgl. nur Senat, Beschluss v. 13. September 2011, 2-29/11 (REV) m. w. Nachw.).

17

Vor diesem Hintergrund mag es zwar dem Berufungsgericht nicht schlechthin verwehrt sein, (auch) aus einem Mangel an Belegen Rückschlüsse auf die Wahrhaftigkeit eines Entschuldigungsvorbringens zu ziehen. Bloße Zweifel des Gerichts am Vorliegen von Entschuldigungsgründen tragen jedoch die Verwerfung der Berufung nicht, vielmehr gilt auch im Verfahren nach § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) der Grundsatz „in dubio pro reo“. Hält das Berufungsgericht daher nach dem Ergebnis freibeweislicher Aufklärungsbemühungen ein schlüssiges und hinreichend konkretes Entschuldigungsvorbringen für nicht widerlegbar, oder vermag es sich bei sonstigem Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte für einen entschuldigenden Sachverhalt von dessen tatsächlichem Vorliegen nicht hinreichend zu überzeugen (zum erforderlichen Beweisgrad vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (58. Aufl.) § 329 Rn. 21), so wirken sich diese Zweifel zugunsten des Angeklagten aus. Eine Verwerfung der Berufung kommt dann nicht in Betracht (vgl. BayObLG NJW 1998, 172; KK-Paul (7. Aufl.) § 329 Rn. 9).

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Im Übrigen ist in Fällen des Ausbleibens wegen Krankheit zu berücksichtigen, dass eine genügende Entschuldigung i. S. d. § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) bereits dann vorliegt, wenn dem Angeklagten aufgrund seines Zustandes das Erscheinen zur Berufungshauptverhandlung nicht zuzumuten und ihm deshalb billigerweise kein Vorwurf zu machen ist (Meyer-Goßner/Schmitt (58. Aufl.) § 329 Rn. 23 m. w. Nachw.). Dass Art und Schwere der Erkrankung das Ausmaß einer Verhandlungsfähigkeit erreichen, ist demgegenüber nicht erforderlich (OLG Düsseldorf StV 1987, 9; LR-Gössel (26. Aufl.) § 329 Rn. 36 m. w. Nachw.).

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b) Den dargelegten Anforderungen genügt die landgerichtliche Begründung der Berufungsverwerfung nicht.

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aa) Die Begründung der angefochtenen Entscheidung, mit der das Landgericht das Vorliegen einer genügenden Entschuldigung für das Ausbleiben verneint, ist zunächst bereits unklar. Das Urteil führt insoweit lediglich aus:

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Die bloße Behauptung, krank zu sein und Schwindel und schwere Bauchschmerzen zu haben, reicht nicht aus. Insbesondere hat der Angeklagte bereits um 10.02 Uhr das Gericht verständigt, indessen aber nicht sofort das Krankenhaus aufgesucht, denn er hat um 10.30 Uhr nach den Angaben der Verteidigerin ihr gegenüber geäußert, dass er sich sofort auf den Weg ins AK Wandsbek mache.“

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Diesen Ausführungen lässt sich weder entnehmen, auf welcher festgestellten Tatsachengrundlage die Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) beruht, noch ob das Gericht, sollte es vom Vorliegen eines Erkrankungszustandes des Angeklagten ausgegangen sein, in eine Würdigung darüber eingetreten ist, ob auf dieser Grundlage dem Angeklagten ein Erscheinen zur Hauptverhandlung zuzumuten war oder nicht.

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bb) Unabhängig hiervon trägt die dargestellte Begründung die Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) auch dann nicht, wenn sie dahingehend verstanden wird, dass das Gericht das Entschuldigungsvorbringen des Angeklagten für nicht glaubhaft gehalten hat, da es „bloß behauptet“, nicht aber hinreichend belegt worden ist.

24

Wie sich aus den Ausführungen zu Ziff. 2 a) ergibt, konnte die Strafkammer die Annahme nicht genügender Entschuldigung des Ausbleibens des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei allein auf die fehlende Glaubhaftmachung seines Erkrankungszustandes stützen. Auch der weitere zur Begründung herangezogene Umstand, dass der Angeklagte sich nicht unmittelbar nach Ankündigung seines Ausbleibens gegenüber dem Gericht auf den Weg in ärztliche Behandlung begeben hat, lässt offensichtlich ohne nähere Aufklärung nicht schon den Schluss zu, der behauptete Krankheitszustand entspreche nicht der Wahrheit.

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cc) Schließlich rechtfertigen die Urteilsausführungen die Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO (a. F.) auch dann nicht, wenn sie alternativ dahingehend verstanden werden, dass das Gericht das Entschuldigungsvorbringen des Angeklagten („Schwindel und schwere Bauchschmerzen“) zwar seiner Entscheidung zugrunde gelegt, den Erkrankungszustand jedoch nicht für hinreichend gravierend gehalten hat, um das Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung genügend zu entschuldigen, und einen Beleg für die eher geringe Schwere der Beeinträchtigung darin erblickt hat, dass der Angeklagte sich nach seinem Anruf bei Gericht nicht „sofort“ in ein Krankenhaus begeben hat.

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Diese Begründung trägt die Entscheidung zunächst deshalb nicht, weil das nicht näher aufgeklärte Aufschieben eines Krankenhausbesuches durch den Angeklagten um etwa eine halbe Stunde für sich genommen keine nachvollziehbaren Schlüsse auf die Schwere der Erkrankung zulässt und es an sonstigen Feststellungen zum Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Angeklagten fehlt. Darüber hinaus mangelt es auch an der nach den vorangehend dargestellten Grundsätzen (vgl. oben Ziff. 2 a) aa)) zur Frage genügender Entschuldigung erforderlichen Gesamtwürdigung, welche zumindest die Gründe des Ausbleibens sowie die Bedeutung und den Gegenstand des Verfahrens einzubeziehen und gegeneinander abzuwägen hätte.

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dd) Schließlich ist das aus dem Urteil ersichtliche Entschuldigungsvorbringen des Angeklagten auch nicht derart unklar, unsubstantiiert oder unschlüssig, dass bereits deshalb das Landgericht von näherer Aufklärung des Sachverhaltes und entsprechenden Darlegungen im Urteil hätte absehen können. Es besteht kein Zweifel daran, dass Schwindelanfälle und schwere Schmerzen grundsätzlich geeignet sein können, die Teilnahme an einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung für den Angeklagten unzumutbar zu machen.

28

3. Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts, §§ 353, 354 StPO.

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