Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 9 U 143/13

Tenor

Der Senat erwägt eine Zurückweisung der Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 23.08.2013 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO. Die Parteien erhalten vor einer Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.

Gründe

 
I.
Der Kläger macht aus abgetretenem Recht seiner Ehefrau, H. H., Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen die Beklagten geltend. Die Beklagten sind jeweils hälftige Miteigentümer eines Wiesengrundstückes in A., welches mit einer Seite an den O. Weg grenzt. Bei dem O. Weg handelt es sich um einen öffentlichen Fahrweg, welcher innerhalb der geschlossenen Ortschaft der Gemeinde A. der Erschließung verschiedener Wohngrundstücke dient. Der O. Weg wird von den Anliegern mit Kraftfahrzeugen befahren, wenn diese ihre Wohngrundstücke erreichen wollen. In dem für den Rechtstreit maßgeblichen Bereich ist der O. Weg nicht asphaltiert, sondern lediglich geschottert, und weist eine geringe Breite auf, so dass er nur einspurig befahrbar ist. Es gibt dort keine Bürgersteige oder andere von der Fahrbahn abgetrennte Fußgängerwege. Die Bewohner der anliegenden Häuser einschließlich verschiedener Kinder auf ihrem Schulweg müssen die Fahrbahn des O. Weges benutzen, wenn sie von ihren Wohnungen den Ortskern von A. erreichen wollen.
Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen: Seine Ehefrau sei am 04.01.2009 gegen 12:00 Uhr um die Mittagszeit von einem Spaziergang in der Umgebung des Ortes A. zurückgekehrt. Um zu ihrer Wohnung in der Straße Im K. zu gelangen, sei es notwendig gewesen, auf dem Rückweg den O. Weg zu benutzen. In den Tagen vorher sei es sehr kalt gewesen. Der Weg sei völlig vereist gewesen, womit die Ehefrau des Klägers vorher nicht gerechnet habe. Sie habe sich vorsichtig bewegt, indem sie teilweise versucht habe, neben dem Fahrweg (Schnee im Grasgelände) zu gehen. Dennoch sei sie schließlich auf dem Eis ausgerutscht und gestürzt, wodurch sie sich erheblich verletzt habe. Der Sturz habe sich in Gehrichtung am rechten Rand des Fahrwegs ereignet, und zwar unmittelbar neben dem Wiesengrundstück der beiden Beklagten. Zu dem Sturz wäre es nicht gekommen, wenn ein gedachter Gehweg im rechten Teil der Fahrbahn mit abstumpfenden Mitteln gestreut gewesen wäre. Dazu seien die Beklagten als Eigentümer des rechts angrenzenden Wiesengrundstücks verpflichtet gewesen. Die Verkehrssicherungspflicht sei den Beklagten hinsichtlich der Beseitigung von Schnee- und Eisglätte durch die Satzung der Gemeinde A. vom 11.12.1989 (Anlage K 3) übertragen worden. Wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht seien die Beklagten der Ehefrau des Klägers zum Ersatz aller materiellen und immateriellen Schäden verpflichtet.
Die Beklagten haben den Sachvortrag des Klägers erstinstanzlich sowohl zum Grund als auch zur Höhe der geltend gemachten Ansprüche mit Nichtwissen bestritten. Außerdem haben die Beklagten verschiedene rechtliche Einwendungen erhoben.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Ehefrau des Klägers als Zeugin, und hat sodann mit Urteil vom 23.08.2013 die Klage abgewiesen. Zwar stehe nach der Beweisaufnahme fest, dass die Ehefrau des Klägers am 04.01.2009 entsprechend dem Vorbringen des Klägers an der fraglichen Stelle auf dem O. Weg gestürzt sei, und sich dadurch erhebliche Verletzungen zugezogen habe. Eine Haftung der Beklagten komme jedoch nicht in Betracht. Denn diese seien auch bei Glatteis nicht verpflichtet gewesen, einen Streifen am Rand des O. Wegs zur Benutzung für Fußgänger abzustreuen. Die Gemeinde A. habe zwar mit der Satzung vom 11.12.1989 die Streupflicht für den O. Weg auf die Anlieger des Fahrwegs übertragen. Daraus habe sich jedoch eine Streupflicht nur für die Anlieger auf der anderen Seite des Fahrwegs ergeben. Denn nur auf der (in Gehrichtung der Ehefrau des Klägers) linken Seite des Fahrwegs seien Grundstücke mit Wohnhäusern vorhanden, während die Grundstücke auf der rechten Seite unbebaut seien. Daher sei auch nur auf der linken Seite des Fahrwegs im Winter bei Glätte ein Fußweg abzustreuen, wobei die Verkehrssicherungspflicht nur die Anlieger auf der linken Seite, also nicht die Beklagten, treffen könne. Ergänzend hat das Landgericht darauf hingewiesen, dass die Ehefrau des Klägers bei ihrem Spaziergang nicht gezwungen gewesen sei, den O. Weg zu benutzen. Sie hätte im Hinblick auf die Glätte mit einem nur geringen Umweg am Rand der in geringer Entfernung verlaufenden Bundesstraße B 33 laufen können. Das Mitverschulden der Ehefrau des Klägers sei so hoch anzusetzen, dass eine eventuelle Haftung eines Dritten aus einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in jedem Fall vollständig zurücktrete.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Er vertritt weiter die Auffassung, die Beklagten seien als Eigentümer des in Gehrichtung seiner Ehefrau rechts gelegenen Wiesengrundstücks verpflichtet gewesen, am rechten Fahrbahnrand des O. Wegs einen Fußweg abzustreuen. Denn es müsse auf beiden Seiten des Fahrweges jeweils ein gedachter Gehweg am Fahrbahnrand abgestreut werden. Zum einen müsse generell bei einer Straße mit Erschließungsfunktion im Winter ein benutzbarer - also bei Glätte abgestreuter - Fußweg vorhanden sein. Zum anderen gebe es entgegen den erstinstanzlichen Feststellungen auch auf der rechten Seite zwei Grundstücke, die mit Wohnhäusern bebaut seien, so dass diese Bewohner auf einen bei Glätte abgestreuten Fußweg auf der rechten Seite angewiesen seien. Der Kläger tritt im Übrigen den Ausführungen des Landgerichts zu einem Mitverschulden seiner Ehefrau entgegen. Das Landgericht habe die örtlichen Verhältnisse unzureichend gewürdigt. Wenn die Ehefrau des Klägers - nachdem sie die Glätte auf dem O. Weg erkannt hatte - einen anderen Weg hätte nehmen wollen, hätte dies einen Umweg von 1,5 Stunden bedeutet.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 23.08.2013 - 5 O 370/12 K - aufzuheben, und
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 4.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.000,00 EUR vom 02.02.2010 bis 05.10.2010 und aus mindestens 4.000,00 EUR seit 06.10.2010 zu zahlen,
2. die Beklagten weiter als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 3.957,18 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 654,78 EUR vom 06.10.2010 bis zur Klagezustellung und aus 3.957,18 EUR seit Klagezustellung zu zahlen,
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3. die Beklagten weiter als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 546,69 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 06.10.2010 zu zahlen, und
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4. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen zukünftigen Schäden zu ersetzen, die aus dem Unfallereignis der Frau H. H., ..., vom 04.01.2009 resultieren, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
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Die Beklagten beantragen,
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die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
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Die Beklagten verteidigen das Urteil des Landgerichts und nehmen Bezug auf ihre weiteren erstinstanzlichen Einwendungen.
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Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
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Die zulässige Berufung des Klägers dürfte voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben. Eine Entscheidung des Senats nach mündlicher Verhandlung erscheint auch im Hinblick auf die Gesichtspunkte gemäß § 522 Abs. 2 Ziff. 2, 3, 4 ZPO nicht erforderlich. Nach vorläufiger Auffassung des Senats hat das Landgericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
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1. Bei innerörtlichen Straßen und Gehwegen gibt es im Winter eine Verkehrssicherungspflicht, um Fußgänger und Kraftfahrzeugführer in gewissem Umfang vor Schäden durch Glätte zu schützen. Eine Verkehrssicherungspflicht besteht jedoch nicht unbeschränkt, da Fußgänger und Kraftfahrzeugführer nicht vor sämtlichen Gefahren geschützt werden können. Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht hängt von den Umständen des Einzelfalles und von den berechtigten Erwartungen des Verkehrs ab (vgl. BGH, NJW 1960, 41; OLG Jena, NVwZ-RR 2006, 60, 61). Dabei sind grundsätzlich an die Sicherung des Fußgängerverkehrs höhere Anforderungen zu stellen als an die Sicherung des Fahrzeugverkehrs (vgl. OLG Jena a. a. O. mit weiteren Nachweisen). Hiervon ausgehend sind Fußgängerwege und Bürgersteige, die innerorts entlang einer Straße verlaufen, bei Glätte grundsätzlich abzustreuen, wenn ein Bedürfnis des Fußgängerverkehrs besteht. Von einem Bedürfnis des Fußgängerverkehrs ist grundsätzlich auszugehen, wenn die innerörtliche Straße der Erschließung von Grundstücken dient, die mit Wohnhäusern bebaut sind. Denn für die Bewohner der Häuser muss im Winter eine Möglichkeit gegeben sein, bei entsprechender eigener Vorsicht mit zumindest nur begrenzten Gefahren ihr Grundstück zu Fuß zu erreichen. Nach den in der Rechtsprechung zum Umfang der Streupflicht entwickelten Grundsätzen kommt es hierbei nicht darauf an, ob die betreffende Straße für den Fahrzeugverkehr „verkehrswichtig“ oder gefährlich ist. Die Begrenzung der Streupflicht auf verkehrswichtige und gefährliche Stellen spielt nach den Grundsätzen der Rechtsprechung eine Rolle bei Streupflichten zu Gunsten des Fahrzeugverkehrs, nicht jedoch bei den weitergehenden Streupflichten zum Schutz von Anwohnern, die als Fußgänger unterwegs sind (vgl. zum Umfang von Streupflichten im Winter zum Schutz von Fußgängern BGH, NJW 1960, 41; OLG Jena a. a. O; OLG Dresden, LKV 2003, 535; BGH, NZV 1995, 144).
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2. Es ist anerkannt, dass eine Verkehrssicherungspflicht jeweils nur im Rahmen des Zumutbaren besteht. Es kommt dabei zum einen auf die berechtigten Erwartungen des Fußgängerverkehrs an und zum anderem darauf, welche Sicherungsmaßnahmen dem Streupflichtigen möglich und zumutbar sind (vgl. Rinne, NJW 1996, 3303, 3304; BGH, NJW 1960, 41). Für Gehwege, die entlang einer Straße verlaufen, bedeutet dies, dass das Vorhandensein eines begehbaren Bürgersteigs auf einer Straßenseite grundsätzlich ausreicht. Die Streupflicht des Verkehrssicherungspflichtigen erstreckt sich - wenn nur ein Gehweg vorhanden ist - nur auf diesen Gehweg. Es ist nicht erforderlich, auf der anderen Straßenseite, auf der sich kein Bürgersteig befindet, einen Streifen auf der Fahrbahn zum Begehen von Fußgängern frei zu halten. Dabei spielt es keine Rolle, ob Wohnhäuser auf beiden Seiten der Straße vorhanden sind. Ist ein Bürgersteig nur an einer Seite der Straße vorhanden, ist es Anwohnern auf der anderen Straßenseite grundsätzlich zuzumuten, die Straße zu überqueren, um sodann entlang der Straße den gegenüberliegenden Bürgersteig zu benutzen. (Vgl. BGH, NJW 1960, 41; OLG Dresden, LKV 2003, 535; OLG Dresden, MDR 2011, 540; von dieser Rechtslage - das Bestreuen eines Gehwegs entlang der Straße ist ausreichend, wenn auf der anderen Seite kein Gehweg vorhanden ist - geht zutreffend auch die Satzung der Gemeinde A. in § 2 Abs. 3 und § 3 Abs. 2 aus.)
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Für den Umfang der Verkehrssicherungspflicht zum Schutz von Fußgängern auf innerörtlichen Straßen gilt Entsprechendes, wenn an keiner der beiden Seiten der Straße ein Bürgersteig oder anderweitiger Fußweg vorhanden ist. Dann erstreckt sich die Verkehrssicherungspflicht zum Schutz des Fußgängerverkehrs auf einen Streifen von mindestens einem Meter am Rand der Straße auf einer der beiden Straßenseiten. Hingegen ist es bei einer innerörtlichen Straße ohne Bürgersteige jedenfalls in der Regel nicht geboten, auf beiden Straßenseiten bei Glätte im Winter einen Streifen für Fußgänger zu bestreuen. Es ist genauso wie beim Vorhandensein eines Bürgersteigs den Fußgängern zuzumuten, dass sie im Winter diejenige Straßenseite wählen, auf der ein Streifen abgestreut ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Fußgänger innerorts nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung grundsätzlich frei wählen können, ob sie auf der linken Seite oder auf der rechten Seite entlang des Fahrbahnrandes gehen (§ 25 Abs. 1 Satz 1, 2 StVO; vgl. zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht im Winter, wenn an beiden Seiten einer innerörtlichen Straße keine Bürgersteige vorhanden sind BGH, NJW 1960, 41; OLG Dresden, LKV 2003, 535; OLG Jena, NVwZ-RR 2006, 60).
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Bei dieser Begrenzung der Verkehrssicherungspflicht auf einen Streifen entlang lediglich einer Seite der Straße ist es - ebenso wie bei einseitigen Bürgersteigen - hinzunehmen, dass Anlieger auf der anderen Straßenseite im Winter keinen frei gestreuten Weg entlang der Fahrbahn auf ihrer Fahrbahnseite benutzen können. Vielmehr ist es zumutbar, dass Anlieger im Winter eine eventuell glatte Fahrbahn überqueren müssen, um auf der anderen Seite der Straße einen gestreuten Fußgängerweg oder abgestreuten Streifen am Rand der Fahrbahn zu erreichen (vgl. OLG Dresden, LKV 2003, 535; OLG Jena, NVwZ-RR 2006, 60; vgl. zur Zumutbarkeit des Überquerens der Fahrbahn bei Glätte für Fußgänger auch Rinne, NJW 1966, 3303, 3305). Draus folgt unmittelbar, dass es bei einer innerörtlichen Straße ohne Bürgersteige jedenfalls im Regelfall keine zwingende Konsequenz gibt, auf welcher der beiden Seiten der Straße ein Streifen für Fußgänger abgestreut werden muss. Vielmehr kann der Verkehrssicherungspflichtige in der Regel wählen, welche der beiden Seiten er für zweckmäßiger erachtet. Für diese Wahl kommt es ebenso wie beim Bau von Bürgersteigen auch nicht zwingend darauf an, auf welcher der beiden Straßenseiten bebaute Grundstücke liegen, bzw. auf welcher der beiden Seiten eine größere Anzahl von Anliegern wohnt.
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3. Wenn man den Sachvortrag des Klägers als richtig unterstellt, spricht vieles dafür, dass eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für den Sturz seiner Ehefrau ursächlich war. Dass die Ehefrau zu der angegebenen Zeit an dem angegebenen Ort gestürzt ist, hat das Landgericht festgestellt. Nach dem Vortrag des Klägers war nahezu die gesamte Fahrbahn des O. Wegs eisglatt, ohne dass an irgendeiner Stelle abstumpfendes Material zum Abstreuen verwendet worden wäre. Da der O. Weg in A. der Erschließung von Wohngrundstücken dient, hätte an einer Seite des Fahrwegs am Rand ein für Fußgänger ausreichender Bereich abgestreut werden müssen. Es war jedoch nach dem Vorbringen des Klägers weder auf der rechten noch auf der linken Seite ein für Fußgänger gestreuter Streifen vorhanden. Damit liegt eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nahe. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da die Beklagten nicht passiv legitimiert sind.
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4. Verkehrssicherungspflichtig für den Fußgängerverkehr auf dem O. Weg war die Gemeinde A.. Denn diese war als Grundeigentümerin des Fahrwegs verkehrssicherungspflichtig. Außerdem ergibt sich die Streupflicht der Gemeinde für den O. Weg aus § 41 Abs. 1 Straßengesetz Baden-Württemberg.
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5. Eine Verkehrssicherungspflicht der Beklagten käme nur dann in Betracht, wenn die Gemeinde A. die Streupflicht gemäß § 41 Abs. 2 Straßengesetz wirksam auf die Beklagten übertragen hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Satzung der Gemeinde A. vom 11.12.1989 (Anlage K 3) enthält keine wirksame Übertragung der Streupflicht auf die Anlieger des O. Wegs.
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a) Eine Übertragung der Verkehrssicherungspflichten durch die primär verantwortliche Gemeinde auf die Straßenanlieger ist gemäß § 41 Abs. 2 Straßengesetz Baden-Württemberg grundsätzlich möglich. Die in § 41 Abs. 1 geregelte Verpflichtung der Gemeinden aus polizeilichen Gründen ist inhaltlich identisch mit der Verkehrssicherungspflicht (vgl. Rinne, NJW 1996, 3303). Eine Übertragung der Streupflicht auf einen Straßenanlieger setzt eine wirksame Gemeindesatzung voraus. Eine unwirksame Satzung kann hingegen keine Verpflichtung des Anliegers begründen.
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b) Die Satzung der Gemeinde A. vom 11.12.1989 (Anlage K 3) enthält für den O. Weg keine wirksame Übertragung auf die Anlieger.
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aa) Eine Gemeinde kann gemäß § 41 Abs. 2 Straßengesetz Baden-Württemberg nur solche Pflichten auf die Straßenanlieger übertragen, die sie selbst nach allgemeinen Grundsätzen treffen. Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht ergibt sich aus den in der Rechtsprechung hierzu entwickelten Grundsätzen, wobei insbesondere der „Rahmen des Zumutbaren“ zu berücksichtigen ist (vgl. § 41 Abs. 1 Straßengesetz Baden-Württemberg). Die Gemeinde kann hingegen durch Satzung keine Pflichten begründen, die über den „Rahmen des Zumutbaren“ hinausgehen, und die nicht mehr den Grundsätzen der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht entsprechen. Wenn sich eine Satzung bei der Auferlegung von Streupflichten für Straßenanlieger nicht mehr im Bereich der Ermächtigungsnorm (§ 41 Abs. 2 Straßengesetz) hält, ist eine solche Satzungsbestimmung unwirksam (vgl. Bergmann/Schumacher, die Kommunalhaftung, 4. Auflage 2007, RdNr. 382; OLG Dresden, LKV 2003, 535, 536; OLG Bamberg, NJW 1975, 1787; OLG Dresden, NVwZ-RR 2001, 196).
27 
bb) Die Übertragung der Räum- und Streupflicht in der Satzung der Gemeinde A. ist für den O. Weg unwirksam, da die Regelung in der Satzung für diese Straße Pflichten der Anlieger begründet, die über den Bereich der Verkehrssicherungspflicht hinausgehen. Die in § 6 der Satzung für die Straßenanlieger angegebene Pflicht zur „Beseitigung von Schnee- und Eisglätte“ wird in § 3 der Satzung gegenständlich wie folgt definiert:
28 
„§ 3 Gegenstand der Reinigungs-, Räum- und Streupflicht
29 
(1) Gehwege im Sinne dieser Satzung sind die dem öffentlichen Fußgängerverkehr gewidmeten Flächen, die Bestandteil einer öffentlichen Straße sind.
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(2) Entsprechende Flächen am Rande der Fahrbahn sind, falls Gehwege auf keiner Straßenseite vorhanden sind, Flächen in einer Breite von 1,0 Metern.“
31 
Da am O. Weg auf beiden Seiten der Fahrbahn keine Fußgängerwege vorhanden sind, ergibt sich nach dem Wortlaut dieser Regelung eine Räum- und Streupflicht für „entsprechende Flächen“ an beiden Fahrbahnrändern des O. Weges. Dies ist unwirksam, da unter den gegebenen örtlichen Bedingungen nur ein Fußgängerstreifen (rechts oder links am Rand der Fahrbahn) bei Glätte abgestreut werden muss (siehe oben).
32 
c) Es kann dahinstehen, ob man eine einschränkende Auslegung der Satzung - Beschränkung der Streupflicht auf das zumutbare Maß - im vorliegenden Fall für zulässig erachtet (vgl. zu einer solchen einschränkenden Auslegung bei der Überwälzung der Streupflicht auf die Anlieger OLG Bamberg, NJW 1975, 1787). Denn es gibt jedenfalls keine Möglichkeit, die Satzung für den Bereich des O. Wegs auf eine Art und Weise einschränkend auszulegen, dass für jeden Anlieger erkennbar wird, ob und inwieweit ihn eine Streupflicht treffen soll. Einer wirksamen Übertragung der Verkehrssicherungspflicht auf die Anlieger steht - wenn man eine einschränkende Auslegung für zulässig erachten würde - jedenfalls der Grundsatz der Bestimmtheit entgegen.
33 
Sind die Räum- und Streupflichten für die Anlieger unklar und unbestimmt, kann eine wirksame Übernahme der Verkehrssicherungspflicht nicht entstehen (vgl. Rotermund/Krafft, Die Haftung der Kommunen für die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht, 5. Auflage 2008, RdNr. 109; OLG Hamm, NZV 2001, 381; OLG Köln, VersR 1988, 827; OLG Düsseldorf, VersR 1993, 577). Eine zulässige Übertragung der Räum- und Streupflicht auf die Anlieger könnte im Bereich des O. Wegs nur dadurch in Betracht kommen, dass den Anliegern bei Glätte das Bestreuen eines Streifens am Rand der Fahrbahn an einer der beiden Seiten auferlegt wird, da begehbare Streifen an beiden Seiten des Fahrwegs nicht erforderlich sind (siehe oben). Das bedeutet, dass die Satzung regeln müsste, an welcher der beiden Seiten des O. Wegs im Winter das Streuen für Fußgänger stattfinden soll. Eine solche Regelung lässt sich der Satzung jedoch in keinem Fall, auch nicht im Wege einer ergänzenden Auslegung, entnehmen. Wenn man die Räum- und Streupflicht auf eine Seite der Fahrbahn beschränken würde, wäre auf der Grundlage der Satzung für keinen Anlieger klar, ob es sich um die Seite handeln soll, an welcher sich sein Grundstück befindet, oder um die andere Seite. Dabei kommt es auch nicht auf nicht darauf an, an welcher Seite des Fahrwegs sich mehr oder weniger Wohngrundstücke befinden. Denn grundsätzlich sind beide Seiten des Fahrwegs unabhängig von der Bebauung für das Abstreuen eines Streifens für Fußgänger geeignet (siehe oben).
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Schließlich lässt sich ein bestimmbarer Inhalt der Satzung der Gemeinde A. für die Streupflichten von Anliegern im O. Weg auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass eventuell Anlieger auf beiden Seiten des Fahrwegs gemeinsam dafür verantwortlich sein sollen, dass auf einer (beliebigen) Seite am Rand ein Streifen für Fußgänger abgestreut wird. Denn auch eine solche gemeinsame Verantwortlichkeit der gegenüberliegenden Anlieger lässt sich der Satzung nicht entnehmen. Vielmehr entspricht es der Systematik der Satzung, dass jeweils nur diejenigen Anlieger verpflichtet sein sollen, deren Grundstück auf der Seite einer Straße liegt, an welcher sich der betreffende Fußgängerweg befindet (vgl. dazu die Regelung der Streupflicht bei einseitigen Gehwegen in § 2 Abs. 3 der Satzung). Mithin konnten die Beklagten - wegen der erforderlichen Begrenzung der Räum- und Streupflicht auf einen einseitigen Streifen für Fußgänger – der Satzung in keinem Fall entnehmen, dass eine solche Verpflichtung sie und nicht etwa die gegenüberliegenden Anlieger treffen sollte.

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