Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 2 Ws 502/15

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Untergebrachten wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 2. Oktober 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht Freiburg zurückverwiesen.

Gründe

 
K. J. befindet sich seit 7.8.2000 im Vollzug der Sicherungsverwahrung, die durch Urteil des Landgerichts M. vom 12.11.1992 angeordnet wurde. Wegen zwischenzeitlicher Unterbrechung der Vollstreckung zur Verbüßung einer dreijährigen Freiheitsstrafe waren zehn Jahre der Sicherungsverwahrung am 6.8.2013 vollzogen. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht Freiburg es abgelehnt, die Maßregel für erledigt zu erklären oder zur Bewährung auszusetzen.
Der dagegen vom Untergebrachten fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde kann ein vorläufiger Erfolg nicht versagt werden.
1. Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden darf (Art. 2 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG). Neben einer gesetzlichen Grundlage fordert die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung (BVerfGE 57, 250, 275). Diese Voraussetzungen sind nicht nur im strafprozessualen Hauptverfahren, sondern auch für die im Vollstreckungsverfahren zu treffenden Entscheidungen zu beachten. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (BVerfGE 58, 208, 222) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfGE 70, 297, 307; BVerfG, Kammerbeschluss vom 28.9.2010 - 2 BvR 1081/10 -, juris). Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen richten sich insbesondere an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungswegen das Gebot effektiver Sachaufklärung (BVerfGE 70, 297, 309). Es verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft (BVerfGE 70, 297, 310 f.; BVerfG NJW 2009, 1941, 1942; BVerfGK 19, 137).
2. Für den Bereich des Maßregelvollzugs werden die vorstehenden Grundsätze durch § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO dahin konkretisiert, dass bei zehn Jahren übersteigendem Vollzug der Maßregel - erst recht, wenn es sich wie vorliegend um einen sog. Altfall handelt, bei dem der weitere Vollzug der Sicherungsverwahrung nach Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB an besonders hohe Voraussetzungen geknüpft ist - zwingend ein Sachverständigengutachten zu erheben ist, das anerkannten wissenschaftlichen Standards genügen muss und das dem Gericht die tatsächlichen Grundlagen vermittelt, die es ihm ermöglichen, eigenständig die geforderte Gefährlichkeitsprognose anzustellen. Die Auswahl des Sachverständigen steht dabei - wie sonst auch - grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (§ 73 Abs. 1 StPO). Die Strafvollstreckungskammer ist grundsätzlich nicht verpflichtet, einen Sachverständigen auszuwählen, der dem Wunsch des Untergebrachten entspricht. Sie wird im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens je nach den Umständen des Einzelfalls gegebenenfalls auch berücksichtigen können und müssen, innerhalb welcher Frist ein Gutachten erstellt werden kann (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 125, 126). In erster Linie wird die Auswahl des Sachverständigen allerdings unter Berücksichtigung des Erfordernisses, eine möglichst umfassende Aufklärung zu gewährleisten, zu erfolgen haben. Erklärt der Untergebrachte, er werde sich von dem von der Strafvollstreckungskammer ausgewählten Sachverständigen nicht explorieren lassen und erklärt er zugleich seine Bereitschaft, sich von einem anderen - anerkannten - Sachverständigen explorieren zu lassen, so wird die Aufklärungspflicht es in der Regel gebieten, der Anregung des Untergebrachten zu folgen und den von ihm vorgeschlagenen Sachverständigen zu wählen, weil das auf der Grundlage einer ausführlichen Exploration gewonnene Sachverständigengutachten einen ungleich größeren Aufklärungsgewinn als das nach Aktenlage erstellte Gutachten verspricht (Senat, Die Justiz 2011, 10, 11; Beschluss vom 19.1.2012 - 2 Ws 13/12).
3. Bei Anwendung dieser Maßstäbe verstößt es gegen den Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung, dass die Strafvollstreckungskammer sich damit begnügt hat, die angefochtene Entscheidung auf der Grundlage eines lediglich nach Aktenlage erstellten Gutachtens des Sachverständigen Dr. D. zu treffen. Der Untergebrachte hat die Begutachtung durch Prof. Dr. Dr. Bo., dem damaligen Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität M., beantragt und dazu erklärt, sich von diesem - anders als durch Dr. D. - auch explorieren zu lassen. Die mit der fehlenden Ausbildung als Facharzt für Psychiatrie begründete Ablehnung der Strafvollstreckungskammer, Prof. Dr. Dr. Bo. mit einer Begutachtung des Untergebrachten zu beauftragen, greift dabei zu kurz.
Auch wenn es bei Probanden mit Persönlichkeitsstörungen regelmäßig naheliegen wird, einen Arzt mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung zur Gutachtenerstattung heranzuziehen (Senat NStZ-RR 2006, 93), ist es letztlich eine Frage des Einzelfalls, ob ein Sachverständiger über die für eine qualifizierte Beurteilung notwendige Ausbildung und hinreichende Erfahrung verfügt (BVerfG StV 2006, 426; LG Marburg StraFo 2015, 429). Die Strafvollstreckungskammer wäre daher gehalten gewesen, die Eignung des vom Untergebrachten benannten Sachverständigen näher zu beleuchten. Wie sich aus der vom Senat eingeholten Erklärung von Prof. Dr. Br., dem Nachfolger von Prof. Dr. Dr. Bo. als Lehrstuhlinhaber, ergibt, sind sowohl er als auch Prof. Dr. Dr. Bo. seit vielen Jahren mit der Erstattung (kriminologischer) Prognosegutachten befasst, bei denen sie einen interdisziplinären Ansatz verfolgen. Soweit eine Begutachtung fachpsychiatrische Kenntnisse erfordere, würden von ihnen forensische Psychiater als Mitarbeiter herangezogen. Bei dieser Sachlage reicht der Umstand, dass Prof. Dr. Dr. Bo. (oder der inzwischen vom Untergebrachten ebenfalls als Gutachter akzeptierte Prof. Dr. Br.) selbst nicht über die von der Strafvollstreckungskammer für erforderlich gehaltene Qualifikation als forensische Psychiater verfügen, nicht aus, eine Beauftragung abzulehnen.
4. Wegen dieses Verfahrensfehlers war der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache im Hinblick auf die nach Einholung eines ergänzenden Gutachtens zwingend durchzuführende mündliche Anhörung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen (Senat, Beschluss vom 20.10.2015 - 2 Ws 285/15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 205, § 309 Rn. 8 m.w.N.).
Es bleibt der Strafvollstreckungskammer nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Berücksichtigung des jeweils erforderlichen Zeitaufwands überlassen, ob sie im Hinblick auf das bereits vorliegende Gutachten Prof. Dr. Dr. Bo. oder Prof. Dr. Br. umfassend mit einer Begutachtung des Untergebrachten beauftragt oder - ggf. nach Rücksprache mit den Sachverständigen - eine koordinierte Begutachtung in der Weise in die Wege leitet, dass nach einer Exploration durch Prof. Dr. Dr. Bo. oder Prof. Dr. Br. Dr. D. über das Ergebnis unterrichtet wird, Dr. D. auf dieser Grundlage seine diagnostische Beurteilung überprüft und Prof. Dr. Dr. Bo. oder Prof. Dr. Br. danach unter Berücksichtigung der diagnostischen Beurteilung durch Dr. D. eine eigene prognostische Beurteilung vornehmen.

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