Beschluss vom Oberlandesgericht Koblenz (1. Strafsenat) - 1 Ws 9/09

Tenor

Auf die Beschwerde der Angeklagten J. wird der Haftbefehl der 3. Strafkammer des Landgerichts Mainz vom 22. Oktober 2008 aufgehoben.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Angeklagten.

Gründe

I.

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1. Mit Anklageschrift vom 3. November 2006 legt die Staatsanwaltschaft der heute 31 Jahre alten Angeklagten zu Last

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- am 18. November 1993 ihren 14 Monate alten Sohn A. mit einem Kissen erstickt zu haben;

3

- am 14. November 1996 ihren 8 Monate alten Sohn L. durch Einführen ihres Fingers in den Rachen des Kindes erstickt zu haben;

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- am 10. März 1999 ihrem 2 Monate alten Sohn J. den Finger in den Rachen gesteckt zu haben, wodurch es zu einer lebensbedrohlichen Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr und heftigem Erbrechen des Säuglings gekommen sei.

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In den beiden ersten Fällen soll sich die Angeklagte des Mordes aus niedrigen Beweggründen, im letzten Fall, in dem sie von einem versuchten Tötungsdelikt durch Alarmierung eines Notarztes zurückgetreten sei, einer gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht haben.

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Die Ermittlungen gegen die Angeklagte begannen zwar im April 1999, nachdem in einem Sorgerechtsverfahren, dessen Anlass die für die behandelnden Ärzte medizinisch nicht zu erklärende Atemnot des Säuglings J. gewesen war, bekannt wurde, dass bereits 2 Kinder auf ungeklärte Weise zu Tode gekommen und die Tochter E. mit ähnlichen Symptomen wie J. zweimal (not-)ärztlich behandelt worden war. Ernsthafte Ermittlungstätigkeit wurde aber erst ab Mitte des Jahres 2005 entfaltet. Bei Ärzten und Krankenhäuser wurden die Krankenunterlagen sichergestellt und dem Institut für Rechtsmedizin der Universität B. zur Auswertung übergeben. Außerdem wurden zahlreiche Personen aus dem Umfeld der Angeklagten vernommen.

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Die Vernehmung der Angeklagten erfolgte am 2. August 2006.

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Bereits Anfang 2002 hatte das Amtsgericht Sinzig in einem Verfahren um das Sorgerecht für J. ein Gutachten zur möglichen Ursache des Todes der Kinder A. und L. in Auftrag gegeben. Prof. Dr. J., Leiter der Kinderklinik an der Universität M., hielt in seinen gutachterlichen Stellungnahmen vom 3. April 2002 und 14. März 2003 einen plötzlichen Kindestod oder eine andere natürliche Todesursache für unwahrscheinlich und äußerte den Verdacht eines „Münchhausen-by-proxy-Syndroms“. Ein Mensch, der unter dieser Variante einer artifiziellen Störung leidet, ruft bei anderen Menschen – häufig den eigenen Kindern – auch lebensgefährliche Erkrankungen oder Verletzungen hervor, um anschließend deren medizinische Behandlung zu verlangen. Dabei kann es auch zu unbeabsichtigten Tötungen kommen.

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Nach Auswertung der Krankenunterlagen teilten die Sachverständigen vom Institut für Rechtsmedizin der Universität B. den Verdacht des Prof. Dr. J., wiesen allerdings zugleich darauf hin, dass es keine konkreten medizinischen Befunde wie etwa charakteristische Verletzungen gebe, die einen unnatürlichen Tod der Kinder A. und L. belegten. Bei keinem Kind könne eine „ hinreichend zuverlässig konkretisierbare und auf tatsächliche Befunde gestützte Angabe zu einer speziellen Form der Gewaltanwendung“ gemacht werden (Gutachten v. 06.02.2006 - Sonderband).

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Der Anklagevorwurf stützt sich im Wesentlichen auf folgende Indizien:

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- Es gibt keine plausiblen medizinischen Hinweise auf eine natürliche Ursache für den Tod der Kinder A. und L. sowie für das Auftreten der lebensbedrohlichen Erstickungssymptome bei den Kindern E. und J..

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- Die Angeklagte war mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert.

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- Der Zeuge P., einer der zahlreichen Sexualpartner der Angeklagten, hatte bekundet, die Angeklagte habe ihm in der Nacht nach L.s Tod gesagt, sie habe A. ein Kissen auf das Gesicht gelegt gehabt.

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- Die Kinder J. und E. waren nach ihrer Unterbringung in Pflegefamilien gesundheitlich unauffällig. Gleiches gilt für zwei weitere Kinder der Angeklagten, die unmittelbar nach der Geburt Pflegeeltern übergeben wurden.

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Das Mordmerkmal „niedrige Beweggründe“ wird mit der Annahme begründet, die Kinder seien der Angeklagten eine Last gewesen und hätten ihrem „ ungehemmten Lebensgenuss “ entgegengestanden.

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2. Mit Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Koblenz vom 4. Oktober 2007 wurde die Angeklagte, die sich nach wie vor auf freiem Fuß befand, freigesprochen und ausgeführt:

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Bei A. könne schon nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben war. Der Sachverständige Prof. Dr. J. habe einen natürlichen Tod zwar für wenig wahrscheinlich, aber möglich gehalten. Die Angaben des Zeugen P. seien wegen Widersprüchen und Ungereimtheiten nicht glaubhaft. Gleiches gelte für den Zeugen B., der bei der Polizei ausgesagt hatte, die Angeklagte habe ihm 2006 die Tötung A.s unter Tränen gestanden, dies aber in der Hauptverhandlung abgestritten und ausgesagt hatte, nur mit dem Zeugen P. darüber gesprochen zu haben.

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Auch bei L. fehlten aus medizinischer Sicht konkrete Hinweise für eine Fremdeinwirkung als Todesursache. Der Anklagevorwurf, die Angeklagte habe einen Finger in den Rachen des Kindes eingeführt, sei mangels tatsächlicher Anhaltspunkte spekulativ. Nach den Angaben der Zeugin B.-G., deren Unrichtigkeit trotz Abweichungen zu den – in sich widersprüchlichen – Angaben der Angeklagten nicht feststellbar sei, müssten die Erstickungssymptome bei L. aufgetreten sein, als sich die Angeklagte schon 5-15 Minuten außer Haus befunden habe.

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Bei J. sei eine Fremdeinwirkung zwar plausibel, es sei aber nicht möglich, konkrete Feststellungen zu deren Art, Ablauf und Urheber zu treffen.

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Zwar sei die Häufung von lebensbedrohlichen und tödlichen Vorfällen bei Kindern in der Obhut der Angeklagten auffällig, dies genüge allerdings nicht, zumal bei A. ein natürlicher Tod möglich sei.

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Das von anderen Sachverständigen in den Raum gestellte „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“ sei von dem psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. verneint worden, weil sich weder aus der Biographie der Angeklagten noch aus der Exploration Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung ergeben hätten.

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Schließlich sei kein Motiv erkennbar. Die der Anklage zugrundeliegende Annahme habe sich in der Beweisaufnahme nicht bestätigt.

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3. Auf Revision der Staatsanwaltschaft hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 23. Juli 2008 das freisprechende Urteil aufgehoben und neben einer unzureichenden Gesamtwürdigung bemängelt,

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- es fehlten ausreichende Feststellungen zum Werdegang und zur Persönlichkeit der Angeklagten, die wegen des von mehreren Sachverständigen angesprochenen „Münchhausen-by-proxy-Syndroms“ unerlässlich gewesen wären;

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- die Würdigung der Aussage des Zeugen P. sei unvollständig, insbesondere sei nicht erkennbar, ob die Kammer berücksichtigt habe, dass die Aussage das Fehlen von Verletzungen erklären könne;

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- Widersprüche in den Angaben der Angeklagten zum Tod L.s seien mit dem von der Kammer angenommenen Verwechseln nicht ohne weiteres zu erklären;

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- es fehle eine Auseinandersetzung mit Parallelen im Fall des Kindes E.;

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- bei der Prüfung eines möglichen Tatmotivs sei unberücksichtig geblieben, dass es Hinweise für eine Vernachlässigung der Kindes E. und J. gegeben hatte.

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Die Sache wurde zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Mainz zurückverwiesen.

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4. Weil die Angeklagte unter der im Urteil des Landgerichts Koblenz angegebenen Anschrift in S. nicht zur Revisionshauptverhandlung geladen werden konnte und der Verteidiger mit Schriftsatz an den Bundesgerichtshof vom 13. Juni 2008 mitgeteilt hatte, der Kontakt zu seiner Mandantin sei abgebrochen, er wisse nicht, wo sie sich aufhalte, beantragte die Staatsanwaltschaft am 8. September 2008 den Erlass eines auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehls.

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Am 17. Oktober 2008 rief die Angeklagte bei der Polizei in K. an und teilte mit, sie habe derzeit keinen festen Aufenthaltsort und sei postalisch nicht zu erreichen. Als Rückrufkontakt notierte eine Polizeibeamtin die Handynummer …. Darunter meldete sich später eine Frau P. aus W., die erklärte, die Angeklagte nicht zu kennen.

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Am 22. Oktober 2008 erließ das Landgericht den beantragten Haftbefehl, dem die Anklagevorwürfe zugrunde liegen und in dem es weiter heißt:

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„Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den bisherigen polizeilichen Ermittlungen, insbesondere den Gutachten der Sachverständigen Dr. Dr. D., Prof. Dr. J. sowie Prof. Dr P., darüber hinaus aufgrund der Aussage des Zeugen M. P..

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Es besteht der Haftgrund des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO (Flucht). Es liegen keinerlei Erkenntnisse über den derzeitigen Aufenthaltsort bzw. die postalische Erreichbarkeit der Angeklagten vor. Die Angeklagte hält sich verborgen, da sie unangemeldet an einem unbekannten Ort lebt, um sich so dem Verfahren dauernd oder jedenfalls auf längere Zeit zu entziehen. Dieser Haftgrund steht fest aufgrund der Mitteilung des Verteidigers vom 13.6.2008 sowie aufgrund der polizeilichen Ermittlungen vom 17.10.2008.

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Es besteht darüber hinaus der Haftgrund des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO (Fluchtgefahr). Angesichts der Schwere der Tatvorwürfe muss die Angeklagte im Falle einer Verurteilung mit einer empfindlichen Haftstrafe rechnen. Der von der Straferwartung ausgehende Fluchtanreiz wird verstärkt durch die persönlichen Lebensverhältnisse der Angeklagten Sie ist geschieden und persönlich ungebunden. Sie hat sechs Kinder von sechs verschiedenen Vätern geboren. Ihre überlebenden Kinder sind nach Entzug der elterlichen Sorge bei Pflegefamilien untergebracht, auch zu ihrer (eigenen) Mutter besteht seit über einem Jahr kein Kontakt mehr, ihren derzeitigen Aufenthaltsort gibt sie auch ihr nicht bekannt. Tragfähige persönliche und soziale Bindungen sind nicht vorhanden. Nach ihrer eigenen telefonischen Mitteilung gegenüber der Polizeibeamtin B. am 17.10.2008 hat die Angeklagte keinen festen Aufenthaltsort und kann überdies keine postalische Erreichbarkeit nennen, unter der von ihr genannten Telefonnummer ist sie weder erreichbar noch überhaupt bekannt. Angesichts dieser Umstände besteht die konkrete Gefahr, dass sie sich dem weiteren Verfahren und der ihr drohenden Konsequenzen durch eine Flucht entziehen wird.

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Am 15. Dezember 2008 wurde die Angeklagte in K., wo sie als Prostituierte arbeitete (oder arbeiten wollte), festgenommen. Nach Ihren Angaben hatte sie Ende 2007 ihre Wohnung in S. aufgegeben, war seitdem ohne festen Wohnsitz und hatte sich längere Zeit in B. aufgehalten, ohne dort gemeldet gewesen zu sein.

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Ihrer Haftbeschwerde hat die Kammer nicht abgeholfen: Die Angeklagte habe sich seit Ende 2007 unangemeldet an verschiedenen Orten aufgehalten und sei für die Strafverfolgungsbehörden nicht greifbar gewesen. Am 17. Oktober 2008 habe sie ihren Aufenthaltsort verschleiert. Auch vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit als Prostituierte sei ohne Vollzug der Untersuchungshaft der Fortgang des Verfahrens nicht gewährleistet.

II.

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Das Rechtsmittel hat Erfolg.

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1. Der Haftbefehl genügt nicht den in § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO normierten Mindestanforderungen. Danach sind die Tatsachen anzugeben , aus denen sich der dringende Tatverdacht ergibt. Erforderlich ist eine gestraffte Darstellung der wesentlichen, die Verdachtsmomente enthaltenden Ermittlungsergebnisse, welche im Zeitpunkt der Haftentscheidung vorliegen. Der bloße Hinweis auf die „ bisherigen polizeilichen Ermittlungen“ , verbunden mit der namentlichen Benennung von 3 Sachverständigen und eines Zeugen, ist völlig unzureichend. Dies gilt hier umso mehr, als bereits ein Gericht nach Durchführung einer Hauptverhandlung dieses Beweisergebnis als für eine Verurteilung nicht ausreichend angesehen hatte. Dass der Bundesgerichtshof die Beweiswürdigung des Landgerichts Koblenz für mangelhaft hielt, macht eine neue Hauptverhandlung notwendig, besagt aber nicht ohne weiteres, dass eine Verurteilung der Angeklagten nunmehr wahrscheinlicher geworden ist.

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Zudem wäre eine umfassende Prüfung auch mit Blick auf die rechtliche Einordnung der vorgeworfenen Taten und die daraus zu ziehenden Konsequenzen unerlässlich gewesen. Nach wie vor steht als möglicher Hintergrund und Erklärung für eine Handlungsserie, die sich nach Aktenlage nicht auf die angeklagten Tathandlungen beschränkt, ein „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“ im Raum, das mit dem von der Staatsanwaltschaft angenommenen Tatmotiv überhaupt nicht und nur schwer mit einem bedingten Tötungsvorsatz zu vereinbaren wäre. Gleiches gilt für die Tatsache, dass die Angeklagte um das Sorgerecht für die Kinder E. und J. kämpfte, obwohl ihr der Staat eine legale Möglichkeit geboten hatte, sich der Verantwortung für Kinder zu entledigen, die – folgt man der Argumentation der Staatsanwaltschaft – ihr im Wege standen.

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Die bei Verneinung eines vorsätzlichen Tötungsdelikts in Frage kommenden Delikte wären aber teilweise verjährt, weil die ersten in den Akten dokumentierten Handlungen im Sinne des § 78 c Abs. 1 StGB die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse des Amtsgerichts Koblenz vom 19. Juli 2005 sind. Außerdem müsste, da der Haftgrund der Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO) entfiele, mit Blick auf §§ 18, 105 JGG die Strafandrohung und damit auch der von ihr ausgehende Fluchtanreiz einer Neubewertung unterzogen werden.

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2. Nach Prüfung des in den Akten dokumentierten Ermittlungsergebnisses hält der Senat zwar den Verdacht für gerechtfertigt, die Angeklagte habe auf irgendeine Weise die tödlichen bzw. lebensbedrohlichen Gesundheitsstörungen ihrer Kinder A., L., E. und J. verursacht. Es gibt aber in den Akten keine Beweisergebnisse, die es zuließen, den Verdacht der Begehung eines vorsätzlichen Tötungsdelikts als dringend zu qualifizieren. Die Aussage des Zeugen P., die sich ohnehin nur auf das Kind A. bezieht, enthält zu wenig Substanz. Außerdem steht, wie bereits erwähnt, als Erklärung für eine Serie von Gesundheitsstörungen bei den Kindern der Angeklagten ein „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“ im Raum. Bei dem Kind L. darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Junge vor seinem Tod am 14. November 1996 schon dreimal, nämlich am 29. Juli, 18. August und 8. Oktober 1996 nach vorangegangenen schweren Atemstörungen auf Veranlassung der Mutter (not)ärztlich behandelt worden war. Dies ist nicht ohne weiteres – jedenfalls nicht ohne umfassende Prüfung in einer Hauptverhandlung – mit der Annahme zu vereinbaren, die Angeklagte habe bei dem Jungen Atemstörungen hervorgerufen, um ihn zu töten. Hinzu kommt, dass auch den Tod des Kindes, das am 14. November 1996 gegen 21:30 Uhr im Krankenhaus starb, ein Notarzteinsatz vorausgegangen war. J. wiederum überlebte 2 ½ Jahre später wahrscheinlich nur deshalb, weil die Angeklagte einen Notarzt gerufen hatte.

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Das alles schließt zwar nicht zwingend die Richtigkeit des Anklagevorwurfs aus. Diese Feststellung genügt aber nicht, um im Umkehrschluss einen dringenden Tatverdacht für Tötungsdelikte zu bejahen. Ob es zu einer entsprechenden Verurteilung kommen wird, ist derzeit offen.

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3. Soweit Delikte wie gefährliche Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge und fahrlässige Tötung im Raum stehen, bedarf es keiner weiteren Erörterung des Verdachtsgrads, weil ohnehin ein Haftgrund fehlt.

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a) Der Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) entfällt, wenn der Beschuldige, der geflüchtet war oder sich verborgen gehalten hatte, wie hier aufgrund eines deshalb erlassenen Haftbefehls ergriffen wird.

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b) Der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Hierbei darf die Fluchtgefahr nur aus bestimmten Tatsachen hergeleitet werden. Bloße Mutmaßungen und Befürchtungen wie etwa die, eine als Prostituierte tätige Angeklagte werde sich als unzuverlässig erweisen, genügen nicht. Bei der Beurteilung des Grades der Fluchtgefahr ist auch auf die subjektive Einstellung des Beschuldigten und seine Erwartung von dem möglichen Verfahrensausgang abzustellen.

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Die gebotene und von der Kammer unterlassene Abwägung aller relevanten Umstände ergibt vorliegend, dass keine höhere Wahrscheinlichkeit (KK-Graf, StPO, 6. Auflage, § 112 Rn. 16 m.w.N.) für die Annahme spricht, die Angeklagte werde sich dem Verfahren entziehen, als für die Erwartung, sie werde sich dem Verfahren stellen.

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Stünde man heute am Anfang des Verfahren, wäre die von der Kammer niedergelegte Begründung im Ergebnis möglicherweise tragfähig (obwohl man nur raten kann, was unter einer „empfindlichen Freiheitsstrafe“ zu verstehen ist“).

49

Allerdings ist die Situation jetzt eine völlig andere. Die Angeklagte wusste spätestens seit ihrer Vernehmung vom 2. August 2006, dass und weshalb gegen sie ermittelt wird. Weder dies noch die Anklageerhebung wegen zweifachen Mordes noch die Zulassung dieser Anklage noch die Bestimmung eines Hauptverhandlungtermins hatten sie zur Flucht veranlasst. Vielmehr hatte sich die Angeklagte dem Verfahren gestellt, obwohl die im Haftbefehl aufgeführten Umstände wie die mit einem lockeren Lebenswandel einhergehende Ungebundenheit schon damals vorlagen. Es ist nicht ersichtlich, dass und warum sich die Angeklagte heute anders als in der Vergangenheit verhalten sollte.

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Auch ihr Verhalten nach Abschluss der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Koblenz kann nicht ohne weitere Erkenntnisse, die derzeit fehlen, als Flucht bezeichnet werden. Als sie aus bisher unbekannten Gründen Ende 2007 ihre damalige Wohnung in S. aufgab, war sie gerade nach einer längeren Hauptverhandlung, an der sie immer teilgenommen hatte, freigesprochen worden. Damals gab es aus ihrer Sicht überhaupt keinen Grund mehr, sich dem Verfahren, dem sie sich bis dahin gestellt hatte, zu entziehen. Dass der Bundesgerichtshof Monate später den Freispruch aufheben würde, konnte sie damals nicht wissen. Zu jener Zeit kann es noch nicht einmal eine vorläufige Einschätzung der Erfolgsaussichten der Revision der Staatsanwaltschaft durch den Verteidiger gegeben haben, weil das schriftliche Urteil noch nicht zugestellt war.

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Zu dem Telefonat mit der Polizei vom 17.Oktober 2008 ist anzumerken, dass bisher völlig offen ist, ob die Angeklagte eine Handynummer erfunden hatte, die zufällig mit einer tatsächlich existierenden übereinstimmt oder ob ihre Gesprächspartnerin, etwa wegen eines Hörfehlers, eine falsche Nummer notiert hatte.

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Der Senat hält es nicht für völlig ausgeschlossen, dass die wahrscheinlich labile Angeklagte, verschreckt durch die jetzige Hafterfahrung, eine Haftentlassung nunmehr tatsächlich zum Anlass nehmen könnte, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Für die Annahme von Fluchtgefahr reicht eine solche Vermutung aber nicht aus.

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