Beschluss vom Oberlandesgericht München - 13 U 3614/22

Tenor

I. Der Senat beabsichtigt, das Berufungsverfahren im Hinblick auf den am 16.03.2022 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/ 22 KapMuG, gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Kap-MuG auszusetzen.

II. Es ist ferner beabsichtigt, die Höhe des Anspruchs, soweit er von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist (§ 8 Abs. 4 KapMuG), auf 14.912,85 € festzusetzen.

III. Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme bis 30.09.2022. Die Stellungnahmen des Beklagtenvertreters in den Schriftsätzen vom 29.04. und 29.06.2022 wurde bei diesem Hinweis bereits berücksichtigt.

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen des Kaufs einer auf die Aktie der W. AG bezogenen Anleihe in Anspruch.

Sie behauptet, am 28.01.2020 Aktienanleihen „LB.H.-T. GZ … WDI“ (ISIN: …Q3) zum Preis von 15.000,00 € erworben und diese am 22.01.2021 zum Preis von 87,15 € wieder verkauft zu haben. Hieraus errechne sich ein Schaden in Höhe von 14.912,85 €. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Ausführungen auf S. 3 der Klageschrift vom „02.02.2020“ (= Bl. 3 d.A.) und auf das Anlagenkonvolut K 1 Bezug genommen.

Die Beklagte hat als Abschlussprüferin die Jahresabschlüsse der W. AG für die Geschäftsjahre 2015 bis 2018 uneingeschränkt testiert. Ihr oblag auch die Prüfung der Konzernabschlüsse. Am 27.04.2020 wurde die für den 29.04.2020 geplante Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 verschoben. Am 28.04.2020 wurde der KPMG-Sonderbericht veröffentlicht. Mit Ad-hoc-Mitteilung vom 18.06.2020 gab die W. AG bekannt, dass die Beklagte sie informiert habe, dass für Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden € noch keine ausreichenden Prüfnachweise vorhanden sind und die Abschlussprüfung daher nicht, wie geplant, bis 18.06.2020 abgeschlossen werden kann. Die W. AG teilte am 22.06.2020 ad-hoc mit, dass die genannten Bankguthaben auf Treuhandkonten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen, und am 25.06.2020, dass sie entschieden habe, Insolvenzantrag zu stellen. Die Beklagte versagte den Bestätigungsvermerk für den Jahresabschluss 2019. In der Zeit nach dem 18.06.2020 fiel der Kurs der W.-Aktie stark.

Die Klagepartei wirft der Beklagten unter Auswertung des KPMG-Sonderprüfungsberichts vom 27.04.2020 (Anlagen K3 und K3a), des 1. Sachstandsberichts des Insolvenzverwalters der W. AG vom 19.05.2021 (Anlage K 25) und des W.-Berichts vom 16.04.2021 (Anlage K 29) vor, schuldhaft die Konzernabschlüsse der W. AG für die Jahre 2016 bis 2018 testiert zu haben, obwohl das Unternehmen seinen Cash-Bestand jeweils um mehr als 1 Milliarde € überhöht ausgewiesen habe. Der Klägerin zufolge hätte die Beklagte unabhängig davon in den Bestätigungsvermerken auch darauf hinweisen müssen, dass die von der W.AG gewählte Bilanzierungsart für 1 Milliarde € (angebliche) Zahlungsmitteläquivalente nicht zulässig sei. Die Beklagte habe derart nachlässig geprüft, dass sie den Anlegern unter anderem aus § 826 BGB hafte; sie habe insbesondere bewusst eine einfache Prüfungshandlung, nämlich die Einholung von Saldenbestätigungen für zwei Treuhandkonten bei zwei Kreditinstituten, nicht durchgeführt, sondern sich mit Bestätigungen des Treuhänders begnügt. Den Eintritt eines Vermögensschadens bei den Anlegern habe die Beklagte zumindest billigend in Kauf genommen. Ohne die zu beanstandenden Bestätigungsvermerke der Beklagten hätte die W. AG nach Behauptung der Klägerin ihre Geschäfte nicht fortsetzen können; durch die Testatsverweigerung wäre es bereits vor der Investitionsentscheidung der Klägerin zu einem Zusammenbruch des Konzerns gekommen, der offensichtlich seit Jahren nur Verluste erwirtschaftet habe und nur aufgrund der Bilanzmanipulationen habe fortbestehen können. Dann hätte sich die Klägerin überhaupt nicht mehr an dem Unternehmen beteiligen können (S. 42 f. der Klageschrift = Bl. 42 f. d.A.). Des Weiteren berief sich die Klagepartei für die Frage der Kausalität auf die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens und auf eine positive Anlagestimmung (S. 11 ff. des Schriftsatzes vom 29.04.2022 = Bl. 603 ff. d.A.).

Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Urteil des Landgerichts München I vom 17.05.2022 Bezug genommen.

In der Berufungsinstanz vertiefte die Klägerin ihren Vortrag unter Heranziehung des 2. Sachstandsberichts des Insolvenzverwalters vom 26.11.2021 (Anlage K 35).

Am 14.03.2022 erließ das Landgericht München I im Verfahren 3 OH 2767/22 KapMuG einen Vorlagebeschluss gemäß § 6 Abs. 1 KapMuG. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf diesen Beschluss, veröffentlicht im Bundesanzeiger am 16.03.2022, Bezug genommen. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt (Az. 101 Kap 1/22).

III. Der Senat beabsichtigt, das vorliegende Verfahren im Hinblick auf den vorgenannten Vorlagebeschluss gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 KapMuG auszusetzen.

1. Das Berufungsgericht ist Prozessgericht im Sinne des § 8 KapMuG (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG, § 8 Rn. 6 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 16.06.2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 14, juris).

2. Ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG für die streitgegenständlichen Klageansprüche vorliegen, ist im Aussetzungsverfahren gemäß § 8 KapMuG nicht zu prüfen; im Übrigen ist dies auch der Fall. Insofern wird auf die Ausführungen im Hinweisbeschluss des Senats vom 20.05.2022 in dem Parallelverfahren 13 U 9056/21 (veröffentlicht in juris, dort Rn. 12 ff.) Bezug genommen.

3. Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab.

Der vorliegende Rechtsstreit ist nicht unabhängig von diesen Zielen entscheidungsreif und eine etwa erforderliche weitere Beweisaufnahme setzt jedenfalls eine Entscheidung über die Feststellungsziele voraus.

a) Die Klage ist schlüssig.

aa) Der geltend gemachte Anspruch aus § 826 BGB setzt voraus, dass der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe qualifiziert nachlässig erledigt, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein, und dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 20.01.2022 - III ZR 194/19 -, Rn. 18, juris m.w.N.).

Dies hat die Klagepartei wie oben ausgeführt substantiiert vorgetragen.

bb) Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist auch von einem Vorsatz der für die Beklagte handelnden Organe auszugehen.

Der Vorsatz muss die gesamten Schadensfolgen sowie Richtung und Art des Schadens umfassen, braucht sich aber nicht auf den genauen Kausalverlauf und den Umfang des Schadens zu erstrecken (BGH, Urteil vom 11.11.2003 - VI ZR 371/02 -, Rn. 26, juris). Ausreichend ist daher das Wissen, dass zu den Geschädigten auch Derivateanleger gehören, die auf steigende Kurse setzen. Eine genaue Kenntnis der Anzahl und Konstruktion der Derivate ist dagegen nicht erforderlich.

Dass Drittemittenten Derivate auflegen, welche sich auf die Aktien von im DAX notierten Unternehmen wie der W. AG als Basiswert beziehen, ist gängig und auf dem Kapitalmarkt allgemein bekannt. Dass die Organe der beklagten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft dies nicht gewusst hätten, ist weder vorgetragen noch anzunehmen. Es kommt auch nicht darauf an, dass andere Anleger, die auf sinkende Kurse gesetzt haben, Gewinne realisieren konnten. Entscheidend ist nicht ein Gewinn oder Verlust des gesamten Derivatemarktes, sondern die Situation des einzelnen Anlegers. Soweit ein Anleger sowohl auf steigende als auch auf sinkende Kurse gesetzt hat, betrifft dies die Berechnung des Schadens.

cc) Der streitgegenständliche Erwerb einer Anleihe auf die Aktie der W. AG ist vom Schutzzweck des § 826 BGB umfasst.

Auch im Rahmen dieser Vorschrift gilt, dass die Ersatzpflicht auf solche Schäden beschränkt ist, die in den Schutzbereich des verletzten Ge- oder Verbots fallen. Auf eine derartige Eingrenzung der Haftung kann, um das Haftungsrisiko in angemessenen und zumutbaren Grenzen zu halten, auch im Rahmen des § 826 BGB nicht verzichtet werden. Ein Verhalten kann hinsichtlich der Herbeiführung bestimmter Schäden, insbesondere auch hinsichtlich der Schädigung bestimmter Personen, als sittlich anstößig zu werten sein, während ihm diese Qualifikation hinsichtlich anderer, wenn auch ebenfalls adäquat verursachter Schadensfolgen nicht zukommt. Die Ersatzpflicht beschränkt sich in einem solchen Fall auf diejenigen Schäden, die dem in sittlich anstößiger Weise geschaffenen Gefahrenbereich entstammen (BGH, Urteil vom 11.11.1985 - II ZR 109/84, NJW 1986, 837, beck-online).

Ein qualifiziert nachlässiges unrichtiges Testat eines Wirtschaftsprüfers ist auch im Verhältnis zu Derivateanlegern als sittenwidrig einzustufen; der streitgegenständliche Erwerb einer Aktienanleihe durch die Klagepartei ist nicht nur reflexartig von der behaupteten schädigenden Handlung erfasst.

Der Handel mit sogenannten Derivaten macht einen nicht unerheblichen, vom Gesetzgeber anerkannten Teil des Kapitalmarktes aus. Der Gesetzgeber hat das Geschäft mit derartigen Finanzinstrumenten reguliert und diese zum Beispiel in § 2 Abs. 3 WpHG und § 1 Abs. 11 KWG legal definiert. Auch wenn eine Investition auf dem sehr vielgestaltigen Derivatemarkt spekulativen Charakter hat, handelt es sich um ein erlaubtes, in bestimmten Situationen wirtschaftlich sinnvolles Instrument. Es gibt keinen Grund, den Erwerber eines derartigen Derivates von vornherein als weniger schutzbedürftig oder -würdig anzusehen als den unmittelbaren - im Übrigen möglicherweise auch spekulativ tätigen - Aktienerwerber.

Beide benötigen zur Beurteilung der Erfolgsaussichten ihres Investments Informationen über das Zielunternehmen. Eine wichtige Informationsquelle stellen die von einem Wirtschaftsprüfer bestätigten Jahresabschlüsse des betreffenden Unternehmens dar. Wie der Senat bereits im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität ausgeführt hat (OLG München, Hinweisbeschluss vom 20.05.2022 - 13 U 9056/21 -, Rn. 37, juris), wird der Wirtschaftsprüfer auch im öffentlichen Interesse tätig. Er beglaubigt gegenüber der Allgemeinheit, dass der Abschluss mit den Rechnungslegungsvorschriften und den gesellschaftsvertraglichen Vorschriften übereinstimmt (siehe BeckOGK/Bormann, 15.11.2020, HGB § 316 Rn. 5; BGH, Urteil vom 10.12.2009 - VII ZR 42/08, BGHZ 183, 323-340, Rn. 29; Röhl/Hidding WM 2021, 1729, 1730). Mit der Erteilung eines vorsätzlich sittenwidrigen Bestätigungsvermerkes verletzt der Abschlussprüfer daher auch ihm der Allgemeinheit gegenüber obliegende Pflichten.

Damit hat auch der Derivaterwerber ein berechtigtes Interesse daran, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens vermittelt, was der Wirtschaftsprüfer durch seinen Bestätigungsvermerk testiert.

Ob etwas anderes für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen des Vorstands einer Aktiengesellschaft gilt - diese sind an Aktionäre und potentielle Aktienerwerber gerichtet, sollen auf deren Entscheidung unmittelbar Einfluss nehmen und erfolgen nicht im allgemeinen öffentlichen Interesse - (so W. H., R.M. K., Schadensersatz wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation für Investoren in Aktienderiv…, BB 2013, 2186 ff.), kann offenbleiben.

dd) Die Klagepartei hat zur haftungsbegründenden Kausalität schlüssig vorgetragen, dass es zu der streitgegenständlichen Investition nicht gekommen wäre, wenn die Beklagte die Bestätigung der Jahresabschlüsse bereits zu einem früheren Zeitpunkt verweigert hätte.

Die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens gilt - entgegen OLG München, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21 -, Rn. 16, juris - für Derivateanleger in gleichem Umfang wie für Erwerber von Aktien. Sie setzt voraus, dass es nur eine bestimmte Möglichkeit „aufklärungsrichtigen“ Verhaltens gibt und ist daher nicht begründet, wenn eine gehörige Aufklärung beim Vertragspartner einen Entscheidungskonflikt ausgelöst hätte, weil es vernünftigerweise nicht nur eine, sondern mehrere Möglichkeiten aufklärungsrichtigen Verhaltens gab. Dies hat der Bundesgerichtshof in einem Fall fehlender Aufklärung über den spekulativen Charakter des Erwerbs von Aktien des „Neuen Marktes“ verneint, da diese Anlagen zwar mit hohen Risiken behaftet waren, aber auch entsprechende Gewinnchancen boten (BGH, Urteil vom 13.07.2004 - XI ZR 178/03, BGHZ 160, 58-67, Rn. 28-29). Vorliegend hätte es bei Kenntnis der von der Klagepartei behaupteten Umstände, dass erhebliche in den Bilanzen ausgewiesene Summen - zuletzt 1,9 Milliarden € - fehlen und der Vorstand an der unzutreffenden Darstellung beteiligt ist, um die seit Jahren ausschließlich eingefahrene Verluste zu verschleiern, keinen Entscheidungskonflikt gegeben.

Es kommt auch nicht darauf an, ob die Klagepartei vor ihrer Investitionsentscheidung die Bestätigungsvermerke der Beklagten tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, denn eine „individuelle“ Kausalität ist nicht erforderlich. Die vom Bundesgerichtshof zur Informationsdeliktshaftung entwickelte Rechtsprechung ist entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Urteil vom 29.09.2009 - 12 U 147/05 -, Rn. 64, juris) auf fehlerhaft erteilte Bestätigungsvermerke eines Abschlussprüfers nicht übertragbar (vgl. hierzu die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 20.05.2022 - 13 U 9056/21 -, Rn. 30 ff., juris).

ee) Schließlich hat die Klägerin die Höhe des Schadens nachvollziehbar und schlüssig dargetan.

b) Die Begründetheit der Klage hängt ausschließlich von den Feststellungszielen des Musterverfahrens ab. Insofern gelten die Ausführungen im vorgenannten Senatsbeschluss vom 20.05.2022, Rn. 38 ff., juris, entsprechend.

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