Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 2 Verg 4/04

Tenor

Der Antrag der Beschwerdeführerin, die aufschiebende Wirkung ihrer sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss der Vergabekammer des Landes Baden-Württemberg vom 04.05.2004 - 1 VK 16/04 - bis zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde zu verlängern, wird zurückgewiesen.

Gründe

 
I. Zwar vermag der Senat der Entscheidung der Vergabekammer nicht zu folgen, dass das Nachprüfungsverfahren vorliegend unzulässig sei. Gleichwohl verspricht der Nachprüfungsantrag und damit die sofortige Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Dies steht dem Gesuch auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung entgegen.
1. a) Der Senat vermag allerdings auch nicht dem Ansatz der Antragstellerin zuzustimmen, § 100 GWB sei die allein maßgebliche Norm für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des 4. Teils des GWB (so aber grundsätzlich Stickler in Reidt/Stickler/Glahs, VergabeR, 2. Aufl. [2003], § 100, 1; vgl. allgemein Marx in Motzke/Pietzcker/Prieß, VOB/A, § 99 GWB, 29; Boesen, VergabeR, § 99, 154). Auch gilt in Bezug auf Abs. 2 des § 100 GWB, der alle Aufträge beschreibt, die nach den Richtlinien nicht von den Vergabevorschriften erfasst sind, dass der dortige Katalog grundsätzlich abschließend ist (Stickler a.a.O. 3; ebenso Bechtold, GWB, 3. Aufl. [2002], § 100, 7; Dreher in Immenga/Mestmäcker, GWB, 3. Aufl., § 100, 5; Marx a.a.O. § 100, 3; Müller-Wrede in Ingenstau/Korbion, 15. Aufl., § 100 GWB, 5; vgl. auch Boesen a.a.O. § 100, 39).
b) Allerdings gibt § 100 Abs. 1 GWB Regeln und abschließende Ausnahme-vorschriften für „Aufträge“ vor. Den Begriff der öffentlichen Aufträge definiert § 99 GWB. § 100 Abs. 1 GWB bestimmt deshalb erst in Verbindung mit § 99 GWB den sachlichen Anwendungsbereich des Kartellvergaberechtes (Dreher a.a.O. § 100, 4; Bechtold a.a.O. § 100, 7; Marx a.a.O. § 100, 1; Boesen a.a.O. § 100, 1; Müller-Wrede a.a.O. § 99, 1). Aus § 99 GWB i.V.m. § 100 Abs. 1 GWB ergibt sich der sachliche Anwendungsbereich des 4. Teils des GWB über die Vergabe öffentlicher Aufträge, sofern ihre Auftragswerte die Schwellenwerte erreichen oder überschreiten. Die Legaldefinitionen für u.a. Dienstleistungsaufträge in den Abs. 2 bis 4 der Vorschrift beruhen auf den in den EG-Vergaberichtlinien enthaltenen Definitionen (Begründung zu § 108 RegE VgRÄG, BT-Drucks. 13/9340, S. 15, nach Kullack in Heiermann/Riedl/Rusam, VOB, 10. Aufl. [2003], § 99 GWB, 2). Deshalb verbietet sich die von der Beschwerdeführerin gewählte isolierte Betrachtung des § 100 GWB und insbesondere dessen Abs. 2.
c) Danach fallen in den Anwendungsbereich des Vergaberegimes Dienstleistungsaufträge im Sinne des § 99 Abs. 4 GWB. Dieser Auffangtatbestand ist grundsätzlich weit zu bestimmen (Bechtold a.a.O. § 99, 8; Marx a.a.O. § 99, 29; Kullack a.a.O. § 99, 51; Dreher a.a.O. § 99, 41; Boesen a.a.O. § 99, 153; Noch BauR 1998, 941, 945; vgl. auch Stickler a.a.O. § 99, 30 bis 32).
2. Allerdings werden innerhalb der erfassten Dienstleistungsaufträge wesentliche Unterschiede in der vergaberechtlichen Behandlung gemacht.
a) Schon die Dienstleistungsrichtlinie unterscheidet zwischen vorrangigen und nachrangigen Dienstleistungsaufträgen, die sie jeweils in einem Anhang auflistet. Sie unterwirft die beiden Kategorien von Leistungen jeweils äußerst unterschiedlichen Regeln (Marx a.a.O. § 99, 29), die rechtlich wie wirtschaftlich bedeutende Branchen aus dem Reglement des Vergaberechtes herausnehmen (Noch a.a.O. 945; Bechtold a.a.O. § 99, 8). So unterscheidet die Richtlinie 92/50/EWG zwischen Aufträgen, die Dienstleistungen ihres Anhangs I A zum Gegenstand haben und die nach den Bestimmungen der Abschnitte III bis VI vergeben werden, und Aufträgen, die Dienstleistungen im Sinne des Anhangs I B zum Gegenstand haben, für die gemäß Art. 9 die Art. 14 und 16 gelten (so auch EuGH NZBau 2003, 52, 54 [Tz. 47, 48]). Erst nach Zuordnung eines Auftrags in eine der dort benannten Kategorien kann das bei der Auftragsvergabe anzuwendende Verfahren bestimmt werden (OLG Brandenburg NZBau 2003, 688, 692). Dienstleistungen des Anhangs I B müssen danach einzig unter Beachtung der genannten Art. 14 und 16 der Richtlinie beauftragt werden, also unter Einhaltung der Bestimmungen technischer Spezifikationen und unter Bekanntgabe der Ergebnisse des Auftragsverfahrens (OLG Brandenburg a.a.O. 692, 693).
b) Dabei stellen aber Dienstleistungsaufträge, sowohl vor- wie auch nachrangiger Kategorie, Dienstleistungsaufträge im Sinne der §§ 99, 100 Abs. 1 GWB dar. Damit ist, ist der Schwellenwert überschritten, auch hinsichtlich nachrangiger Dienstleistungsaufträge ein Nachprüfungsverfahren eröffnet; es ist mithin entgegen der Wertung der Vergabekammer zulässig. So wird denn auch als ganz herrschende Meinung bezeichnet, dass auch bei sog. Dienstleistungen im Sinne des Anhangs I B eine Nachprüfung vor der Vergabekammer eröffnet ist (Noch, VergabeR kompakt, 2. Aufl. [2002], S. 216/217 m.N.).
3. Danach unterliegen Verfahren, welche Dienstleistungen nach dem Anhang I B darstellen, einem nur beschränkten Vergaberegime. Der vergaberechtliche Anforderungskatalog ist deutlich verschmächtigt. Dies führt in der Konsequenz im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren auch nur zu einem verringerten Überprüfungskatalog. Daran haben entgegen der Wertung der Beschwerdeführerin auch deutsche Regelwerke nichts geändert.
a) Wie ausgeführt ist die volle Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie für Aufträge im Sinne des Anhangs I B suspendiert (EuGH a.a.O. 54 [Tz. 47, 48]; OLG Brandenburg a.a.O. 692). Die Anhänge sind abschließend (Dreher a.a.O. § 99, 46). Die Zuordnung steht nicht in der Disposition der Vertragsparteien (Müller-Wrede in Ingenstau/Korbion a.a.O. § 99 GWB, 1).
10 
b) Die VOL/A - im Übrigen auch die VOF - nehmen auf diese Anhänge Bezug und setzen dieses System um (Dreher a.a.O. 46). So unterteilt auch § 1 a Nr. 2 Abs. 2 VOL/A in sog. vorrangige und nachrangige Dienstleistungen entsprechend der in der Richtlinie vorgenommenen Unterteilung. Die in Anhang I B genannten Leistungen unterliegen nur den §§ 8 a und 28 a VOL/A (Müller-Wrede/Noch in Müller-Wrede, VOL/A [2001], § 1 a, 61; Müller in Daub/Eberstein, VOL/A, 5. Aufl. [2003], § 1 a, 103; Schaller, VOL, 2. Aufl. [2002], § 1 a VOL/A, 12).
11 
c) Deshalb beschränken sich hinsichtlich der nachrangigen, in Anhang I B bezeichneten Dienstleistungen auch nach deutschem Recht die Verpflichtungen des öffentlichen Auftraggebers im Wesentlichen auf die Bekanntmachung über die Auftragserteilung (Stickler a.a.O. § 99, 32; Dreher a.a.O. § 99, 46; Kullack a.a.O. § 99, 52; vgl. auch Roth in Müller-Wrede a.a.O. § 2, 2).
12 
d) Dabei entspricht verbreiteter Ansicht, dass die Vergabe über nachrangige Dienstleistungen praktisch keinen Regelungen unterliegen, dass aber gleichwohl vergaberechtliche Grundregeln wie das Diskriminierungsverbot und das Transparenzgebot gelten (Marx a.a.O. 29; Boesen a.a.O. § 99, 181, 184 bis 186; Noch, VergabeR kompakt a.a.O. S. 217; vgl. auch Müller a.a.O. § 1 a VOL/A, 104).
13 
e) Dieser deutsche vergaberechtliche Anforderungskatalog wurde auch nicht durch das VgRÄG oder die VgV geändert im Sinne einer von der Beschwerdeführerin beanspruchten Ausweitung des Bieterrechtsschutzes.
14 
aa) Dies hat bereits das OLG Brandenburg (a.a.O. 692) mit sehr vertiefter Begründung dargestellt. Dem schließt sich der Senat an. Denn Aufgabe dieser Regelwerke war nur, die Richtlinie, und zwar diese nur nachzeichnend, umzusetzen. Dies ergibt sich insbesondere aus dem vom OLG Brandenburg aufgezeigten Gesetzgebungsgang.
15 
bb) Dies kann aber auch ergänzend hergeleitet werden aus der Umgestaltung von § 1 a VOL/A. Denn gegenüber der vorangegangenen Fassung wurde A § 1 a erheblich verändert. Die Bestimmung enthält - im Gegensatz zur vorherigen Vorschrift - keine Regelungen mehr betreffend die Schwellenwerte, die Schätzung des Auftragswertes, den Begriff des Liefer- und Dienstleistungsauftrages und den Ausnahmebereich. Hierdurch sollten Doppelregelungen vermieden werden. Die in A § 1 a entfallenen Regelungsgegenstände wurden nunmehr im GWB (§§ 99 und 100 GWB) und in der VgV (insbesondere §§ 2, 3, 4) geregelt (Müller a.a.O. § 1 a, 1 und 60). Danach hat der Normengeber bei der Änderung von § 1 a und der gleichzeitigen Neuschaffung der VgV eine Umschichtung der Regelungsgegenstände vorgenommen, beide bewusst nebeneinander gestellt und dabei § 1 a Nr. 2 Abs. 2 VOL/A erhalten, der ausdrücklich einen beschränkten vergaberechtlichen Anforderungskatalog vorgibt. Auch dies macht deutlich, dass die VgV nicht ein eigenständiges und weitergehendes deutsches Vergaberegime schaffen sollte, sondern dass insbesondere nach der Art des Dienstleistungsauftrages vergaberechtliche Sonderregelungen gelten und fortgelten sollten. Dies macht nicht zuletzt auch § 4 Abs. 1 VgV selbst deutlich, weil dort auf die Bestimmung des 2. Abschnittes der VOL/A verwiesen und damit deren fortgeltende Maßgeblichkeit bekräftigt wird.
16 
cc) Auch aus der Entscheidung OLG Düsseldorf NZBau 2002, 634, 635 ergibt sich im Sinne der Antragstellerin nichts anderes. Dort stand es im Falle der Anwendbarkeit des § 15 Abs. 2 AEG im Ermessen der Vergabestelle, ob die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Leistungen durch Eisenbahnunternehmen ausgeschrieben wird oder nicht. Schrieb sie aber so aus, so hatte sie ihr Ermessen entsprechend ausgeübt und sich damit zugleich auch den Anforderungen eines umfassenderen vergaberechtlichen Überprüfungskataloges unterworfen. So liegt der Fall hier nicht.
17 
4. Gemessen an diesen Grundsätzen ist das Nachprüfungsgesuch zwar zulässig, es führt aber nur zu einer eingeschränkten Überprüfung. Diese hat im Ergebnis jedenfalls keinen Erfolg.
18 
a) Dass der vorliegende Dienstleistungsauftrag einen solchen nach dem Anhang I B darstellt, hat die Vergabekammer sorgfältig hergeleitet, begegnet keinen Bedenken und hat auch keinen Angriff in der sofortigen Beschwerde erfahren.
19 
b) Dass der Schwellenwert vorliegend überschritten ist, haben die Beteiligten ausgewiesen. Dem folgt der Senat.
20 
c) Danach kann allenfalls überprüft und demzufolge auch nur gerügt werden, dass die Bestimmungen der technischen Spezifikationen nicht eingehalten seien, die gebotene Bekanntgabe nicht erfolgt sei oder ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot oder das Transparenzgebot vorliege. Dabei können aber die letztgenannten vergaberechtlichen Grundregeln nicht als Einfallstor dafür dienen, das ungeschmälerte Vergaberegime wieder herzustellen. Allenfalls ein vergaberechtlicher Kernbereich kann Beachtung finden und damit auch nur gerügt werden.
21 
d) Dabei spricht manches dafür, dass eine Handhabung gemäß § 13 VgV eine solche vergaberechtliche Grundregel darstellt. Dies trifft sich im Übrigen auch mit der Selbsteinschätzung der Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren, dass insoweit ein Fehlverhalten von ihr vorliege (Schriftsatz vom 26.3.2004 - S. 4).
22 
e) Doch kann auch auf dieser Bewertungsgrundlage der sofortigen Beschwerde kein Erfolg beschieden sein. Die Beschwerdeführerin ist zwar unstreitig die Bieterin mit dem niedrigsten Angebot. Auch mag ihr Skontoangebot Berücksichtigung finden müssen, zumal die Bewerbungsbedingungen in Ziff. 12 Rabatte und Skonti zulassen. Damit wird aber eine nennenswerte Besserstellung der Beschwerdeführerin  nicht herbeigeführt, da dies nichts an ihrer bislang schon eingenommenen Stellung als billigste Bieterin ändert. Zwar mag die Ausschreibung mit einer Alternativlaufzeit des Vertrages unklar und möglicherweise vergaberechtlich beanstandungswürdig sein. Zu Recht hatte aber die Antragsgegnerin insoweit aber  bereits schon auf § 107 Abs. 3 S. 2 GWB hingewiesen. Eine rechtzeitige Rüge ist insoweit nicht ersichtlich. Dass im Angebotsvermerk der Antragstellerin, wonach die 4:00-Uhr-Vorgabe (Ziff. 2.2 der Besonderen Vergabebedingungen) nicht in jedem Falle eingehalten werden könne, eine eigenmächtige Abweichung vom Leistungsprogramm liegt, mag zu Gunsten der Antragstellerin einmal verneint werden. Auch sei die Streitfrage hinsichtlich der Preisgestaltung in Bezug auf EU-Erstattungskosten je Testkit als im Sinne der Antragstellerin entschieden gedacht. Auf jeden Fall aber ist nach den Ausschreibungsunterlagen (Ziff. 6 des Dienstvertrages) der Nachweis einer Haftpflichtversicherung mit einer Deckungssumme von mindestens 1 Mio. EUR gefordert. Das Vorbringen der Antragsgegnerin im Erwiderungsschriftsatz vom 26.03.2003, wonach in dem von der Antragstellerin vorgelegten Versicherungsschein für Vermögensschäden nur eine Deckung bis zu 51.130,00 EUR je Verstoß vorgesehen sei und damit nicht die geforderte Summe von 1 Mio. EUR, hatte die Antragstellerin in weiteren Schriftsätzen zwar aufgegriffen mit einem pauschalen Verweis auf eine Gesamtdeckungssumme von gar 5 Mio. EUR (Schriftsatz vom 28.04.2004). Ein Bestreiten des spezifizierten Antragsgegnervorbringens ist aber nicht erfolgt. Danach ist das  Angebot der Antragstellerin, ungeachtet der Frage, ob die Bewertung in den anderen erwähnten Punkten nicht auch zu ihren Lasten ausschlagen müsste, jedenfalls wegen dieses Umstandes auf den Einwand der Vergabestelle auszuscheiden. Schon dies gibt das Ergebnis des Rechtsbehelfs der Beschwerdeführerin vor und bestimmt auch zugleich, dass ihrem Antrag gemäß § 118 Abs. 1 S. 3 GWB, der vorrangig auf die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs abstellt, nicht entsprochen werden kann.
23 
II. Eine Kostenentscheidung ist nicht gefordert.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen