Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (2. Senat) - 2 Bs 207/20

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 27. Oktober 2020 geändert. Die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 5. Oktober 2020 gegen Ziff. 1 der Aufforderung zur Kürzung des Zauns auf eine Höhe von 1,50 m im Bescheid vom 8. September 2020 wird wiederhergestellt.

Die Kosten des gesamten Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

I.

1

Die Antragsteller wenden sich im vorläufigen Rechtsschutz gegen eine von der Antragsgegnerin für sofort vollziehbar erklärte Anordnung zur Kürzung der Höhe ihres Zauns.

2

Das mit zwei Wohnhäusern bebaute Grundstück der Antragsteller, ... (Flurstück ... der Gemarkung ...), liegt an der Einmündung der Straße ... in den ... Im Jahre 2014 errichteten die Antragsteller zur Absperrung ihrer Grundstückszufahrt am ... ein Rolltor und linksseitig hiervon auf einer Länge von 10 m einen blickdichten Zaun mit einer Höhe von 1,83 m.

3

Nach einer Anhörung der Antragsteller erließ die Antragsgegnerin unter dem 8. September 2019 eine Aufforderung zur Anpassung des Zauns, wonach dieser (1.) auf eine Höhe von 1,5 m zu kürzen und (2.) seine Durchbrochenheit herzustellen sei. Sie stützte die Anordnung auf § 76 Abs. 1 HBauO und führte zu ihrer Begründung im Wesentlichen aus, dass der Zaun seiner Höhe und Geschlossenheit nach nicht mit § 11 HBauO vereinbar sei und die Erteilung einer Abweichung nicht in Betracht komme. Zugleich ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Anordnung an. Der Sofortvollzug rechtfertige sich aus dem Gesichtspunkt der Durchsetzung der Autorität der bauaufsichtlichen Vorschriften und der negativen Vorbildwirkung der Einfriedigung.

4

Die Antragsteller folgten der Ziff. 2 der Anordnung und erhoben gegen Ziff. 1 am 5. Oktober 2020 Widerspruch. Gleichzeitig beantragten sie beim Verwaltungsgericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs. Mit Beschluss vom 27. Oktober 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtmäßig sei. Die Antragsgegnerin habe ein besonderes öffentliches Interesse in genügender Weise begründet. Die Anordnung zur Kürzung des Zauns erweise sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig und es bestehe das erforderliche besondere öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Vollziehung. Sofern die Einfriedigung während der Dauer des Rechtsmittelverfahrens entgegen § 11 HBauO höher als 1,5 m errichtet bleibe, bestehe die Gefahr einer negativen Vorbildwirkung für andere Grundstückseigentümer in der Umgebung. Auch die Antragsteller hätten sich auf vergleichbare Anlagen berufen. Das Interesse an der sofortigen Vollziehung entfalle nicht dadurch, dass die Antragsgegnerin die Einfriedigung jahrelang passiv geduldet habe.

5

Die Antragsteller haben gegen den ihnen am 30. Oktober 2020 zugestellten Beschluss am 5. November 2020 eine zugleich mit einer Begründung versehene Beschwerde eingelegt.

II.

6

Die gemäß §§ 146 Abs. 4, 147 Abs. 1 VwGO zulässige Beschwerde ist begründet.

7

1. Die mit der Beschwerde gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO dargelegten Gründe erschüttern die entscheidungstragende Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung der Anordnung zur teilweise Beseitigung der Einfriedigung der Antragsteller bestehe. Das Verwaltungsgericht hat dieses Interesse mit der negativen Vorbildwirkung begründet, die diese Einfriedigung für andere Grundstückseigentümer habe.

8

Die Beschwerde hält dieser Begründung entgegen, dass bereits alle Grundstücke „in dieser Straße“ - angesichts der Belegenheit des Grundstücks der Antragsteller an zwei Straßen hier synonym verwendet für dessen Umgebung - eingezäunt seien. Der von der Beschwerde weiter gezogene Schluss, ein Nachahmungseffekt sei ausgeschlossen, weil die Grundeigentümer ihre Zäune nicht abreißen würden, nur um einen höheren Zaun zu errichten, ist überzeugend. Außerdem weist die Beschwerde plausibel darauf hin, dass das Vollzugsinteresse nicht hinreichend gewichtig sei.

9

2. Haben die Darlegungen der Antragsteller damit die die Begründung des angefochtenen Beschlusses tragende Feststellung erschüttert, dass ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung der Beseitigungsanordnung besteht, ist das Beschwerdegericht berechtigt und verpflichtet, ohne die Beschränkung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO über die Beschwerde zu entscheiden.

10

Der Antrag der Antragsteller, den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2020 zu ändern und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Ziff. 1 des Bescheids vom 5. Oktober 2020 wiederherzustellen, ist nach § 80 Abs. 5 VwGO begründet. Ihr Aussetzungsinteresse überwiegt das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Anordnung vom 8. September 2020 zur teilweise Beseitigung der Einfriedigung.

11

Die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Beseitigungsanordnung im Bescheid vom 8. September 2020 dürfte gemäß § 80 Abs. 3 VwGO formell rechtmäßig sein, wobei es - an dieser Stelle - unerheblich ist, ob das von der Antragsgegnerin dargelegte besondere Vollzugsinteresse inhaltlich tragfähig ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 20.2.2012, 2 Bs 14/12, BRS 79 Nr. 186 (2012), juris Rn. 10). Des Weiteren kann dahingestellt bleiben, ob die Beseitigungsanordnung nach § 76 Abs. 1 Satz 1 HBauO rechtmäßig ist, wobei die Beschwerdebegründung insoweit keinen Zweifel an der nach der derzeit erkennbaren Sachlage zutreffenden Begründung des Verwaltungsgerichts weckt.

12

Jedenfalls fehlt für die sofortige Vollziehung der Beseitigungsanordnung ein besonderes Vollzugsinteresse, das die Durchsetzung der damit gebotenen Handlung dringlich macht. Das allgemeine öffentliche Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände reicht regelmäßig nicht aus, ein derartiges öffentliches Interesse i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zu begründen, weil dieses allgemeine Interesse seinen Ausdruck bereits im Erlass der baurechtlichen Verfügung selbst findet. Dies gilt auch dann, wenn die Verfügung sich bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage als rechtmäßig erweist, weil auch in diesem Fall gemäß § 80 Abs. 1 VwGO das Aussetzungsinteresse Vorrang genießt. Es müssen daher weitere, darüberhinausgehende und besondere Umstände vorliegen, um ausnahmsweise das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen, schon vor dem bestands- oder rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache zulässigen Vollziehung zu bejahen. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten (siehe BVerfG, Beschl. v. 19.6.1973, 1 BvL 39/69 und 14/72, BVerfGE 35, 263, juris Rn. 36 f.; Kammerbeschl. v. 10.4.2001, 1 BvR 1577/00, NJW-RR 2001, 1268, juris Rn. 13).

13

Die für den Sofortvollzug einer Beseitigungsanordnung notwendige Dringlichkeit dürfte zwar regelmäßig fehlen, wenn die Bauaufsicht einen baurechtswidrigen Zustand über einen längeren Zeitraum hinweg hingenommen hat (vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 6.2. 2008, 3 M 9/08, BauR 2009, 482, juris Rn. 15); die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Beschwerdegerichts (Beschl. v. 22.5.2000, 2 Bs 55/00, juris Rn. 13) bezieht sich lediglich auf eine Nutzungsuntersagung nach § 76 Abs. 1 Satz 2 HBauO. Für eine derartige Duldung ergeben sich bei summarischer Prüfung der Sachlage jedoch keine Anhaltspunkte. Dafür reicht es nicht aus, dass die Antragsgegnerin im Zuge von Planungsarbeiten bezogen auf den ... Gelegenheit gehabt hatte, von der baurechtswidrigen Einfriedigung Kenntnis zu nehmen.

14

Die von der Antragsgegnerin angeführte Durchsetzung der „Autorität der bauaufsichtlichen Vorschriften“ stellt, da auf das materielle Baurecht bezogen, kein besonderes Interesse i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO dar. Vielmehr ist dies gleichzusetzen mit dem allgemeinen Interesse am Vollzug einer Beseitigungsanordnung nach § 76 Abs. 1 Satz 1 HBauO, weil es Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist, die Herstellung baurechtsgemäßer Zustände zu ermöglichen. Anderes gilt für das Interesse an der Autorität der das bauaufsichtliche Verfahren betreffenden Vorschriften, das insbesondere den Sofortvollzug einer Anordnung zur Beseitigung von Anlagen der Außenwerbung rechtfertigen kann (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 3.9.2001, 2 Bs 254/01, juris Rn. 5). Letztere sind im vorliegenden Fall schon deshalb nicht missachtet worden, weil nach § 60 Abs. 2 i.V.m. Nr. 6.1 der Anlage 2 zur HBauO Einfriedigungen bis zu einer Höhe von 2 m verfahrensfrei errichtet werden dürfen.

15

Hingegen ist die Bekämpfung einer negativen Vorbildwirkung, wenn auch nur unter weiteren qualifizierenden Anforderungen, dem Grunde nach geeignet, ein besonderes Interesse am Vollzug einer Beseitigungsanordnung zu begründen (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 11.3.2013, 8 S 159/13, juris Rn. 5; VGH München, Beschl. v. 30.1.2019, 9 CS 18.2533, juris Rn. 27; OVG Berlin, Beschl. v. 17.7.2015, OVG 10 S 14.15, NuR 2015, 858, juris Rn. 19; VGH Kassel, Beschl. v. 29.5.1985, 3 TH 815/85, NVwZ 1985, 664, juris Rn. 32; OVG Greifswald, Beschl. v. 6.2.2008, 3 M 9/08, BauR 2009, 482, juris Rn. 12; OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.5.1994, 1 M 1046/94, BauR 1994, 611, juris Rn. 9; OVG Münster, Beschl. v. 7.10.2005, 10 B 1394/05, BauR 2006, 369, juris Rn. 13; OVG Magdeburg, Beschl. v. 6.7.2004, 2 M 232/04, juris Rn. 5; OVG Weimar, Beschl. v. 24.10.2014, 1 EO 92/14, juris Rn. 24).

16

Die Gefahr der Nachahmung des mit einer Beseitigungsanordnung zu korrigierenden Verstoßes gegen baurechtliche Vorschriften rechtfertigt deren sofortige Vollziehung, wenn die Gefahr hinreichend konkret ist und die zu befürchtenden Verstöße ausreichend gewichtig sind. Die jedem Rechtsverstoß innewohnende abstrakte Gefahr einer Nachahmung konkretisiert sich in hinreichender Weise für die Rechtfertigung eines sofortigen Einschreitens, wenn die Umstände des Einzelfalles es erwarten lassen, dass der Verstoß für eine Vielzahl weiterer Rechtsverstöße in einem definierbaren Zeitraum als Vorbild dienen könnte. Davon dürfte z.B. auszugehen sein, wenn der Rechtsverstoß bereits zur Errichtung weiterer illegaler Anlagen in der näheren Umgebung geführt hat oder dies nachweislich droht (VGH Mannheim, Beschl. v. 11.3.2013, 8 S 159/13, juris Rn. 5; OVG Greifswald, Beschl. v. 6.2.2008, 3 M 9/08, BauR 2009, 482, juris Rn. 12), oder der Anreiz zur Nachahmung als hoch anzusehen ist, weil mit verhältnismäßig wenig Aufwand ein attraktiver Ertrag zu erreichen ist (vgl. OVG Weimar, Beschl. v. 24.10.2014, 1 EO 92/14, juris Rn. 26 - Altpapiercontainer; OVG Berlin, Beschl. v. 29.3.2012, OVG 10 S 17/11, juris Rn. 13 - Carport; OVG Münster, Beschl. v. 4.6.2007, 7 B 573/07, juris Rn. 19 - Warenautomat; VGH Kassel, Beschl. v. 29.5.1985, 3 TH 815/85, NVwZ 1985, 664, juris Rn. 32 - kleine Anlagen im Außenbereich), hingegen eher nicht, wenn ein Baugebiet bereits mit vergleichbaren Anlagen bebaut worden ist (VGH München, Beschl. v. 30.1.2019, 9 CS 18.2533, juris Rn. 27) oder der Verstoß eher unauffällig ist (OVG Magdeburg, Beschl. v. 6.7.2004, 2 M 232/04, juris Rn. 6).

17

Dabei ist der notwendige Grad an Konkretisierung der negativen Vorbildwirkung abhängig von Art und Ausmaß der zu erwartenden Verstöße gegen baurechtliche Vorschriften. Diese sind von einem ausreichenden Gewicht, wenn ihre Hinnahme über den Zeitraum vom Erlass einer Beseitigungsanordnung bis zum Eintritt ihrer Bestandskraft - u.U. nach rechtskräftigem Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens - mit dem Sinn und Zweck der verletzten Vorschrift nicht mehr zu vereinbaren ist. So z.B. bei der Errichtung von Anlagen im Außenbereich (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 17.7.2015, OVG 10 S 14.15, NuR 2015, 858, juris Rn. 19; OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.5.1994, 1 M 1046/94, BauR 1994, 611, juris Rn. 9; OVG Greifswald, Beschl. v. 2.11.1993, 3 M 89/93, NVwZ 1995, 608, juris Rn. 15; VGH Kassel, Beschl. v. 29.5.1985, 3 TH 815/85, NVwZ 1985, 664, juris Rn. 32).

18

Im Fall der Antragsteller ist das öffentliche Interesse an der Unterbindung jeglicher Nachahmung weder hinreichend konkret noch gewichtig genug, um die sofortige Vollziehung der Anordnung zur teilweisen Beseitigung des Zauns zu rechtfertigen. Für eine Konkretisierung der Nachahmungsgefahr fehlt es an Anhaltspunkten, insbesondere hat die Antragsgegnerin hierzu nichts vorgetragen. Soweit das Verwaltungsgericht bei der Prüfung des von der Antragsgegnerin ausgeübten Ermessens auf einen ihm bekannten Fall einer vergleichbaren Einfriedigung im ... Bezug genommen hat, ist schon nicht ersichtlich, dass diese Einfriedigung nach derjenigen der Antragsteller errichtet worden ist. Auch dass die Antragsteller auf vergleichbare Anlagen in der Umgebung verweisen belegt nicht, dass jene Anlagen zeitlich nach derjenigen der Antragsteller und somit diese nachahmend errichtet worden sind. Ohnehin spricht die auf öffentlich zugänglichen Luftbildern erkennbare Einhegung aller Grundstücke in der Umgebung gegen eine hinreichende Nachahmungsgefahr.

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Weiterhin handelt es sich bei der Überschreitung der in § 11 Satz 1 HBauO genannten Höhe einer Einfriedigung regelmäßig nicht um einen derart gewichtigen Verstoß, dass ein sofortiges Einschreiten geboten wäre. Dagegen spricht schon der Umstand, dass die Errichtung von Einfriedigungen bis zu einer Höhe von 2 m verfahrensfrei ist. Sieht der Gesetzgeber derartige Einfriedigungen als so wenig bedeutsam an, dass er auf eine vorgängige Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit durch die Bauaufsichtsbehörde verzichtet, haben Verstöße gegen die materiell-rechtlichen Anforderungen an diese genehmigungsfreien Vorhaben regelmäßig nicht das Gewicht, ein besonderes Vollzugsinteresse zu begründen. Zwar ist der Bauherr auch bei verfahrensfreien Vorhaben weiterhin verantwortlich für die Einhaltung des materiellen Baurechts und trägt er vor allem das wirtschaftliche Risiko, gegebenenfalls nachträglich dessen Anforderungen genügen zu müssen. Dennoch bürdet das Verfahrensrecht die Last, in der Zeit von der Vorhabendurchführung bis zur Durchsetzung einer Beseitigungsanordnung baurechtswidrige Zustände hinnehmen zu müssen, der Allgemeinheit auf. Diese gesetzliche Lastenverteilung darf die Bauaufsichtsbehörde grundsätzlich nicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung umkehren.

III.

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts bleibt einem gesonderten Beschluss vorbehalten.

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