Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (6. Senat) - 6 Bs 136/20
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 14. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
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Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Androhung der Abschiebung in die Türkei und zugleich Abschiebungsschutz im Rahmen einer einstweiligen Anordnung.
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Der ... geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste mit einem Visum zur Eheschließung mit der zum damaligen Zeitpunkt bereits deutschen Staatsangehörigen Frau ... in das Bundesgebiet ein. Die Eheschließung erfolgte am 15. Oktober 2002. Seiner zuvor türkischen Ehefrau ist nach Aktenlage am 1. März 1999 die Einbürgerungsurkunde durch die Behörde für Inneres der Antragsgegnerin ausgehändigt worden (Bl. 55 Beiakte A). Dem Antragsteller wurde in der Folgezeit zunächst eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug und sodann am 21. Mai 2007 eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG erteilt (Bl. 127 Beiakte A). Im Dezember 2009 ist der Antragsteller in eine eigene Wohnung gezogen; die Ehe wurde nach Aktenlage am 22. Januar 2011 geschieden (Bl. 186, 189 Beiakte A). Mit Schreiben vom 11. Mai 2015 sowie vom 11. April 2019 bat der Antragsteller jeweils um die Erlaubnis, aus familiären Gründen länger als 6 Monate in der Türkei bleiben zu dürfen, ohne dass dies zum Erlöschen seiner Niederlassungserlaubnis führe (Bl. 136, 145 Beiakte A). Eine entsprechende Zusage der Antragsgegnerin erfolgte nicht. Bei Vorsprache des Antragstellers am 10. Februar 2020 behielt die Antragsgegnerin die Aufenthaltskarte des Antragstellers ein. Die Antragsgegnerin macht geltend, dass sich der Antragsteller in der Zeit vom 8. Dezember 2013 bis zum 1. Dezember 2015 überwiegend in der Türkei aufgehalten habe und lediglich insgesamt drei Mal für jeweils 7 bis 10 Tage nach Deutschland gekommen sei; er habe seinen Lebensmittelpunkt in dieser Zeit in die Türkei verlagert. Dem ist der Antragsteller unter Hinweis darauf entgegengetreten, dass er sich lediglich in einer Aneinanderreihung verschiedener familiärer Gründe, aber jeweils nur zu einem vorübergehenden Zweck in der Türkei aufgehalten habe (vgl. Stellungnahme des Antragstellers Bl. 251 ff. Beiakte A).
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Mit Verfügung vom 26. Mai 2020 (Bl. 292 Beiakte A) stellte die Antragsgegnerin fest, dass ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 nicht festgestellt worden und die Niederlassungserlaubnis des Antragstellers erloschen sei. Zugleich drohte sie dem Antragsteller unter Setzung einer Ausreisefrist bis zum 30. Juni 2020 die Abschiebung in die Türkei an. Hiergegen erhob der Antragsteller am 8. Juni 2020 Widerspruch „gegen die Verfügung vom 26. Mai 2020, mit der Herr ... zur Ausreise bis zum 30. Juni 2020 aufgefordert wurde“ und beantragte unter Aufhebung der Verfügung die Fortgeltung der Niederlassungserlaubnis festzustellen und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG zu veranlassen. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch „gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung“ mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 2020 (Bl. 404 Beiakte A) zurück. Zur Begründung führte sie u.a. aus, dass dem Antragsteller mit Schreiben vom 6. Mai 2020 mitgeteilt worden sei, dass seine Niederlassungserlaubnis bereits kraft Gesetzes erloschen sei. Rechtsmittel gegen diese Feststellung seien bislang nicht erhoben worden. Der Antragsteller habe zu keinem Zeitpunkt Rechte aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 innegehabt. Seine Niederlassungserlaubnis sei durch die Verlagerung seines Lebensmittelpunkts in die Türkei gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG kraft Gesetzes erloschen. Hiergegen hat der Antragsteller am 7. Juli 2020 Klage (13 K 2909/20) erhoben und begehrt, die Verfügung vom 26. Mai 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2020 aufzuheben und ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG auszustellen. Zur Begründung führt er u.a. aus, dass die Antragsgegnerin zu Unrecht das Recht auf Aufenthalt aus dem Assoziationsratsbeschluss EWG-Türkei 1/80 (nachfolgend: ARB 1/80) verneint und die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG abgelehnt habe. Mit der Klage werde die inzidente Feststellung begehrt, dass die Niederlassungserlaubnis des Klägers nicht erloschen sei.
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Bereits zuvor hatte der Antragsteller am 11. Juni 2020 beim Verwaltungsgericht Hamburg die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs beantragt. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 14. Juli 2020, der dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 16. Juli 2020 zugestellt wurde, ab. Der Antragsteller hat am 29. Juli 2020 die vorliegende Beschwerde erhoben und zugleich begründet; die Begründung hat er mit Schriftsatz vom 7. August 2020 ergänzt.
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Nach Ablauf der Ausreisefrist wird der Antragsteller seit dem 1. Juli 2020 geduldet.
II.
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Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig, insbesondere fristgerecht (vgl. § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO) erhoben und begründet (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) worden. Aus den von dem Antragsteller innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht vorliegend gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ist der angefochtene Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hamburg nicht zu ändern.
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1. Der Antragsteller macht geltend, das Verwaltungsgericht habe den rechtlichen Rahmen des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG partiell verkannt, indem es die Rechtsprechung, wie z.B. das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Januar 2012 (1 C 1.11), nicht erwähne, nach denen eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes ins Ausland festzustellen sei, wenn entsprechend dem Regelungszweck das Verhalten des Ausländers typischerweise den Schluss rechtfertige, dass er von seinem Aufenthaltsrecht keinen Gebrauch mehr machen wolle. Durch seine mehrfache Rückkehr kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG habe der Antragsteller gerade verdeutlicht, dass er sein Aufenthaltsrecht nicht verlieren wolle. Unzutreffend bewerte das Verwaltungsgericht die Auslandsaufenthalte des Antragstellers in den Jahren 2014 und 2015 in einer rückschauenden Gesamtbetrachtung als zusammenhängenden Zeitraum, obgleich der Antragsteller mit seiner persönlichen Erklärung verdeutlicht habe, dass er unterschiedlichen Situationen mit jeweils neuen Entscheidungen Rechnung getragen habe. Der notwendigen Differenzierung verweigere sich das Verwaltungsgericht durch den Hinweis, der Vortrag erscheine „konstruiert und lebensfremd“. Der Hinweis des Verwaltungsgerichts, die Rückkehr sei jeweils nur von kurzer Dauer gewesen, lasse außer Acht, dass es jeweils einen konkreten Zweck für die Rückkehr gegeben habe und sich dann neue Umstände ergeben hätten, die dann zu einer Rückkehr in die Türkei geführt hätten. Ein anderes Ergebnis folge auch nicht aus der damaligen, von einer Zäsur geprägten Lebenssituation des Antragsstellers, die das Verwaltungsgericht zum Anlass nehme, das Fehlen tragfähiger Verbindungen in Deutschland als Indiz für die Verlegung des Lebensmittelpunktes in die Türkei heranzuziehen. Die Aufgabe der Wohnung vor dem Hintergrund der schwerwiegenden Konflikte mit einem Nachbarn und seine Erholungsbedürftigkeit nach einer Phase psychischer Beeinträchtigung hätten dem Antragsteller erst ermöglicht, sich Zeit für die Regelung der Angelegenheiten seiner Eltern zu nehmen. Es bleibe daher bei dem Ergebnis, dass der Antragsteller entsprechend seiner unwiderlegten Darstellung in der jeweiligen Situation einen sachlich und damit konkretisierbar zeitlich begrenzten, vorübergehenden Grund für die Anwesenheit in der Türkei hatte. Die Tatsache, dass sich diese Gründe letztlich zu einem Zeitraum von fast zwei Jahren summierten, nähmen den einzelnen Gründen nicht die Eigenschaft der vorübergehenden Natur i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG.
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Das Vorbringen greift nicht durch.
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a) Das Vorbringen des Antragstellers, dass eine Ausreise aus einem nicht nur vorübergehenden Grund bzw. eine Verlagerung des Lebensmittelpunkts (nur) festzustellen sei, wenn entsprechend dem Regelungszweck des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG das Verhalten des Ausländers typischerweise den Schluss rechtfertige, dass er von seinem Aufenthaltsrecht keinen Gebrauch mehr machen wolle, verkennt den rechtlichen Maßstab. Ob der Ausländer aus dem Bundesgebiet i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG „aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausreist“, bestimmt sich nach allen objektiven Umständen des Einzelfalls, während es auf den inneren Willen des Ausländers nicht allein ankommen kann. Dabei erlischt der Aufenthaltstitel jedenfalls, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Betreffende seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat (BVerwG, Urt. v. 11.12.2012, 1 C 15.11, NVwZ-RR 2013, 338, juris Rn. 16). Durch diese Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht den zuvor erkannten Auslegungsmaßstab (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.2012, 1 C 1.11, BVerwGE 141, 325, juris Rn. 9), auf den sich der Antragsteller beruft, dass es der Regelungszweck des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG sei, die Aufenthaltstitel in den Fällen zum Erlöschen zu bringen, in denen das Verhalten des Ausländers typischerweise den Schluss rechtfertige, dass er von seinem Aufenthaltsrecht keinen Gebrauch mehr machen wolle, jedenfalls dahingehend konkretisiert, dass es nicht allein hinreichend ist, dass der Ausländer subjektiv an dem Aufenthaltstitel festhalten will. In diesem Sinne dürfte auch der vom Antragsteller zitierte Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (v. 16.12.2019, 4 Bs 30/18) zu verstehen sein, der zu diesem Punkt auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Januar 2012 Bezug nimmt. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es für den Erhalt des Aufenthaltstitels nicht hinreichend ist, wenn der Ausländer diesen quasi in „Reserve“ behalten möchte; liegt eine Ausreise aus einem nicht nur vorübergehenden Grund i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG vor, so kann der Ausländer das Erlöschen des Aufenthaltstitels daher auch nicht dadurch vermeiden, dass er jeweils kurz vor Ablauf von sechs Monaten nach der Ausreise mehr oder weniger kurzfristig in das Bundesgebiet zurückkehrt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.12.1988, 1 B 135.88, InfAuslR 1989, 114, juris Rn. 7; OVG Münster, Beschl. v. 24.4.2007, 18 B 2764/06, juris Rn. 14; OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.1.2020, 13 ME 348/19, InfAuslR 2020, 160, juris Rn. 12). Allein eine derartige wiederholte Rückkehr für wenige Tage ist daher grundsätzlich nicht geeignet, die nur vorübergehende Natur der Ausreise zu belegen.
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Zutreffend geht daher das Verwaltungsgericht davon aus, dass im Hinblick auf ein Erlöschen des Aufenthaltstitels lediglich Auslandsaufenthalte unschädlich sind, die nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen; fehlt es - unter Würdigung der objektiven Umständen des Einzelfalles, zu denen auch der innere Willen des Ausländers zählt, auf den es aber nicht allein ankommt, - an einem dieser Umstände, liegt ein seiner Natur nach nicht vorübergehender Grund vor. Der Aufenthaltstitel erlischt jedenfalls dann, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Ausländer seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat; in diesem Fall ist die Ausreise - unabhängig vom inneren Willen des Ausländers - nicht nur aus einem vorübergehenden Grund erfolgt.
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b) Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis ferner zutreffend davon ausgegangen, dass bei Würdigung der gesamten Umstände des Geschehens vorliegend davon auszugehen ist, dass der Antragsteller nicht nur aus einem seiner Natur nach vorübergehenden Grund ausgereist ist und sein Lebensmittelpunkt im Zeitraum vom 8. Dezember 2013 bis zum 1. Dezember 2015 nicht durchgehend im Bundesgebiet war. In der Gesamtwürdigung der Umstände ist Folgendes zu berücksichtigen:
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aa) Nach den vorstehenden Ausführungen ist allein der Wille des Antragstellers, seinen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet zu behalten und zu einem späteren Zeitpunkt in das Bundesgebiet zurückzukehren, nicht hinreichend, um ein Erlöschen des Aufenthaltstitels gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG zu vermeiden. Allerdings ist dieser Wille im Rahmen der Gesamtbetrachtung zu würdigen. Gewisse Anhaltspunkte für einen Verbleib des Lebensmittelpunktes des Antragstellers im Bundesgebiet ergeben sich neben dem von ihm erklärten Willen, den der Senat zugunsten des Antragstellers im vorliegenden Beschwerdeverfahren als wahr unterstellt, und seinen im Zeitraum von 8. Dezember 2013 bis 1. Dezember 2015 drei neun- bis elftägigen Aufenthalten auch daraus, dass der Antragsteller seine Möbel und Haushaltssachen bei seiner geschiedenen Ehefrau im Keller eingelagert hatte und telefonisch zu dieser Kontakt gehalten hat. Auch hat er dargelegt, dass er sein Bankkonto weitergeführt, seine Handynummer behalten und sich über deutsche Nachrichten informiert habe. Insoweit hat der Antragsteller nicht alle Verbindungen nach Hamburg bzw. in das Bundesgebiet abgebrochen.
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bb) Bei Gesamtbetrachtung aller Umstände ist der Senat jedoch der Auffassung, dass der Antragsteller aus dem Bundesgebiet aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist ist. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist diese Voraussetzung für ein Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nicht nur erfüllt, wenn der seiner Natur nach nicht vorübergehende Grund bereits im Zeitpunkt der Ausreise vorliegt, sondern auch dann, wenn er erst während des Aufenthalts des Ausländers im Ausland eintritt (BVerwG, Beschl. v. 28.4.1982, 1 B 148.81, NVwZ 1982, 683, juris Rn. 3; OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.1.2020, 13 ME 348/19, InfAuslR 2020, 160, juris Rn. 11).
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(1) Ein gewichtiger Anhaltspunkt sind insoweit zunächst die langen Zeiten der Abwesenheit. Je weiter sich die Aufenthaltsdauer im Ausland über die Zeiten hinaus ausdehnt, die mit einem typischerweise nur vorübergehenden Auslandsaufenthalt - z.B. einem Urlaub, der Erledigung von Geschäften, der Durchführung einer Heilbehandlung – verbunden sind, desto eher liegt die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Grundes im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG nahe (BVerwG, Urt. v. 11.12.2012, 1 C 15.11, NVwZ-RR 2013, 338, juris Rn. 16). Zutreffend führt das Verwaltungsgericht daher aus, dass zunächst die jeweils langen Abwesenheitszeiten von aufeinanderfolgend mehr als 5 Monaten, in zwei Fällen annähernd 6 Monaten, insbesondere in Verbindung mit den jeweils nur kurzen Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet von einmal 9 Tagen und zwei Mal 11 Tagen nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits gewichtig dafür sprechen, dass die Ausreise nicht nur aus einem vorübergehenden Grund erfolgt ist, sondern der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland hatte; bei Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 2015 und am 1. Dezember 2015 unterschreitet der Antragsteller die 6-Monatsfrist des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, bei der aufgrund der Dauer der Abwesenheit unwiderleglich vermutet wird, dass die Ausreise nicht nur zu einem vorübergehenden Zweck erfolgt ist, jeweils nur um einen Tag.
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Dass der Antragsteller in dem Zeitraum vom 8. Dezember 2013 bis zum 1. Dezember 2015 drei Mal für kurze Zeit (13.5. – 21.5.2014; 14.11. – 24.11.2014; 23.5. – 2.6.2015; Bl. 214 f. Beiakte A) in das Bundesgebiet eingereist ist, damit u.a. sein Aufenthaltstitel nicht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erlöscht, verdeutlicht zwar, dass er seinen Aufenthaltstitel nicht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG verlieren wollte. Ausschließlich dies versichert der Antragsteller auch in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 19. Mai 2020 (Bl. 254 Beiakte A). Dieses Verhalten indiziert aber nicht, dass er in diesem Zeitraum von annähernd zwei Jahren seinen Lebensmittelpunkt weiterhin in Hamburg hatte. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, ist nicht erforderlich, dass sich der Ausländer aus einem Leben in der Bundesrepublik Deutschland vollständig „verabschiedet“. Dem entspricht, dass es - wie ausgeführt - für den Erhalt des Aufenthaltstitels allerdings auch nicht hinreichend ist, dass der Ausländer den Aufenthaltstitel quasi in „Reserve“ behalten möchte und zu diesem Zweck (hier: mehrfach) kurz vor Ablauf von sechs Monaten nach der Ausreise mehr oder weniger kurzfristig in das Bundesgebiet zurückkehrt.
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(2) Hinzu kommt, dass der Antragsteller Ende 2013 seine eigene Wohnung im Bundesgebiet aufgegeben hatte und dem äußeren Anschein nach eher provisorisch bei seiner Ehefrau ein Zimmer bezogen und im dortigen Haus seine Möbel und Haushaltssachen im Keller untergestellt hat (Bl. 255 Beiakte A). Gewichtig erscheint dem Senat zudem, dass der Antragsteller in der Zeit vom 8. Dezember 2013 bis zum 30. November 2015 ausweislich des Rentenversicherungsverlaufs vom 25. Februar 2020 (Bl. 212 f., 230 f. Beiakte A) – im Gegensatz zu den Zeiträumen unmittelbar davor und danach – durchgehend kein Arbeitslosengeld II bezogen hat. Er hat auch keine Bemühungen unternommen, sich während dieser Zeit in den bundesdeutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, was ihm jedenfalls nach Genesung im Frühjahr 2014 wieder möglich gewesen wäre. Vom 1. Januar 2014 bis zum 30. November 2015 war der Antragsteller im Bundesgebiet auch durchgehend nicht im Bundesgebiet krankenversichert (vgl. Schreiben der DAK v. 26.3.2020, Bl. 228 Beiakte A). Seiner vormaligen Ehefrau hatte er vorsorglich eine Vollmacht erteilt. Soweit der Antragsteller hiergegen erstinstanzlich vorgebracht hat, die fehlenden Beiträge zur Rentenversicherung beruhten darauf, dass er im Bundesgebiet nicht gearbeitet und dass er aus Kostengründen über keinen Krankenversicherungsschutz verfügt habe, steht dies der Schlussfolgerung eines fehlenden Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet nicht entgegen. Denn es belegt gerade eine vollständig fehlende wirtschaftliche Aktivität des Antragstellers im Bundesgebiet für einen Zeitraum von zwei Jahren. Entsprechendes gilt für den Krankenversicherungsschutz.
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Bereits diese Rahmenbedingungen bieten nach Ansicht des beschließenden Senats keine Grundlage mehr für die Annahme, der Lebensmittelpunkt des Antragstellers habe sich während der gesamten Zeit noch in der Bundesrepublik befunden. Auf die Frage, ob er stets dennoch eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland geplant hat, kann es angesichts des Gewichts der geschilderten objektiven Umstände nicht ankommen (vgl. ähnlich: BVerwG, Urt. v. 11.12.2012, 1 C 15.11, NVwZ-RR 2013, 338, juris Rn. 17).
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(3) Schließlich verstärken die Ausführungen des Antragstellers zu den Motiven seiner Aufenthalte in der Türkei sowie im Bundesgebiet die Bewertung, dass er seinen Lebensmittelpunkt nicht während der gesamten Zeit in der Bundesrepublik hatte. Nach seinen Schilderungen ist der Antragsteller im Dezember 2013 zu seinen Eltern in die Türkei geflogen, da er sich in einer schlechten psychischen Verfassung befunden, in einer schwierigen Wohnsituation gelebt habe und bei seinen Eltern am Meer wieder auf die Füße kommen wollte. Dies lässt noch auf einen nur vorübergehenden Aufenthalt in der Türkei im Sinne eines Urlaubs bzw. zum Zwecke einer Genesung schließen. Anfang 2014 sei es ihm langsam bessergegangen, sodass dieser begrenzte Aufenthaltszweck abgeschlossen gewesen sein dürfte.
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Im Weiteren schildert der Antragsteller, dass sein Vater „gleichzeitig“ ihn gebeten habe, ihn im Sommer bei der Vermietung der Tretboote am Strand zu unterstützen; sein Vater sei alt geworden und dieser Arbeit körperlich nicht mehr richtig gewachsen gewesen. In das Bundesgebiet sei er im Mai zurückgekommen, um sich mit seiner vormaligen Ehefrau zu beraten und seinen Aufenthaltstitel nicht zu verlieren. Da er in Hamburg keine Arbeit hatte, wollte er der Bitte seines Vaters nachkommen, wenn ihm hieraus keine Nachteile entstehen würden, was er aufgrund des eingeholten juristischen Rates angenommen habe. Nach der Urlaubssaison sei er im November 2014 nach Hamburg zurückgekehrt. Da es seiner geschiedenen Ehefrau nicht gelungen sei, eine Wohnung für ihn zu finden und sich die gesundheitliche Situation seines Vaters verschlechtert habe, sei er in die Türkei zurückgeflogen, um die Bootsvermietung zu verkaufen. Es habe sich aber gezeigt, dass dies über die Wintermonate nicht gelingen werde. Die gesundheitliche Situation seiner Eltern sei nicht gut gewesen und es sei gut gewesen, dass er sich um sie gekümmert habe. Die ganze Zeit sei er hin- und hergerissen gewesen, ob er seine Eltern im Stich lassen und sein eigenes Leben fortsetzen solle. Im Mai 2015 sei er nach Hamburg gekommen, um mit seiner geschiedenen Ehefrau über die Situation zu sprechen. Seine endgültige Rückkehr nach Hamburg sei für September 2015 geplant gewesen, was sich jedoch verzögert habe, weil es seinem Vater wieder schlechter gegangen sei. Er sei am 1. Dezember 2015 dennoch endgültig nach Hamburg zurückgekehrt. Noch im Dezember sei sein Vater jedoch verstorben. Ab Januar 2016 habe er sich fortgebildet, an Maßnahmen des Job-Centers teilgenommen und später in der Gastronomie gearbeitet.
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Dem Vorbringen lässt sich nicht entnehmen, dass der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt während des Zeitraums von Dezember 2013 bis Dezember 2015 durchgehend im Bundesgebiet hatte. Er ist jeweils nur für kurze Zeit nach Hamburg zurückgekehrt, um sich mit seiner geschiedenen Ehefrau zu beratschlagen und hat in der Annahme, dass er seinen Aufenthaltstitel nicht verliere, sich dafür entschieden, wieder in die Türkei zurückzukehren. Zudem waren seine Aufenthalte in der Türkei nach seiner Genesung Anfang 2014 nicht mehr von konkreten, sondern von zunehmend indifferenten, sich nicht auf einen überschaubaren Zeitraum beziehende Aufenthaltszwecke geprägt. Bei einer Genesung Anfang 2014 wäre zu erwarten gewesen, dass der Antragsteller sodann in das Bundesgebiet zurückkehrt. Es schloss sich jedoch eine Zeit der Überlegung im Hinblick auf die Zeit „im Sommer“ an. Die gesundheitliche Situation des Vaters sei „gegen Ende der Zeit“ immer schlechter geworden und der Antragsteller sei im November 2014 in die Türkei geflogen „um das weitere Leben dort zu organisieren“. Auch nachdem der Verkauf der Bootsvermietung im Winter nicht zu bewerkstelligen gewesen sei, sei er dort geblieben, weil sein Vater gesundheitlich immer mehr abgebaut habe, seine Mutter wegen ihrer Knieprobleme nicht mehr so mobil gewesen sei und seine Eltern immer wieder an ihn appelliert hätten, länger dort zu bleiben; auch seine Mutter habe gewollt, dass er „wenigstens“ den Winter dort verbringe. Er sei „hin- und hergerissen“ gewesen dazwischen, seine Eltern nicht im Stich zu lassen und sein eigenes Leben fortzusetzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt vermag der Senat keinen mehr nur vorübergehenden Zweck der Ausreise mehr zu erkennen. Denn letztlich wusste der Antragsteller selbst nicht mehr, ob und wann es ihm die Situation seiner Eltern und seine eigene Zerrissenheit erlauben würden, in das Bundesgebiet zurückzukehren bzw. wann er das weitere Leben seiner kranken Eltern dort würde organisiert haben und wo danach sein eigener Lebensmittelpunkt sein würde. Ein fester Rückkehrzeitpunkt nach Hamburg war jedenfalls erst im Mai 2015 für den September 2015 geplant. Damit hatte sich während des Aufenthalts im Ausland ein neuer Grund ergeben, der zu einem zeitlich nicht mehr hinreichend bestimmten Aufenthalt „auf unabsehbare Zeit“ führte (BVerwG, Beschl. v. 28.4.1982, 1 B 148/81, NVwZ 1982, 683, juris Rn. 3).
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2. Der Antragsteller macht weiter geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Gründe, die für ein Erlöschen seiner Niederlassungserlaubnis sprächen, auf das Erlöschen des im zustehenden Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 bezogen. Daher hätte das Verwaltungsgericht nicht offenlassen dürfen, ob er trotz fehlender direkter Anwendbarkeit des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 im Wege der erweiternden Auslegung diese Rechtsposition erworben habe. Wegen der Einzelheiten des Vortrags wird auf den Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 7. August 2020 Bezug genommen.
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Das Vorbringen greift im Ergebnis nicht durch, denn der Antragsteller kann aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 kein Aufenthaltsrecht herleiten; Art 7 Abs. 1 ARB 1/80 ist auch nicht entsprechend anzuwenden. Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob das Verwaltungsgericht diese Frage offenlassen konnte.
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a) Der Antragsteller hat als Ehemann von Frau ... zu keinem Zeitpunkt gemäß Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers erworben. Nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ist Voraussetzung für die Ableitung eines Arbeits- und in der Folge auch Aufenthaltsrechts von einem stammberechtigten Familienangehörigen, dass dieser Stammberechtigte - im Zeitpunkt des Erwerbs der abgeleiteten Rechte des Familienangehörigen - ein dem regulären Arbeitsmarkt angehörender türkischer Arbeitnehmer ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
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Denn Frau ... hatte während der Ehezeit - nur in dieser Zeit hatte der Antragsteller in Bezug auf Frau ... die Rechtsstellung eines Familienangehörigen inne - nicht die türkische Staatsangehörigkeit inne, da sie bei Heirat im Oktober 2002 bereits seit mehreren Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingebürgert war; Anhaltspunkte für eine fortbestehende türkische Staatsangehörigkeit von Frau ... sind weder vorgetragen noch nach Aktenlage für den Senat ersichtlich. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antragsteller auch nicht nachgewiesen hat, dass Frau ... die behaupteten Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 inne hatte, da die Anlagen 7 bis 11 der Beschwerde entgegen der Ankündigung im Schriftsatz vom 7. August 2020 nicht beigefügt waren.
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b) Soweit der Antragsteller geltend macht, dass der Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erweiternd auszulegen sei, wenn die Integration des türkischen Arbeitnehmers (hier: Frau ...) durch Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland maximal fortgeschritten sei, folgt der Senat dem nicht.
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aa) Dabei dürfte der Antragsteller zutreffend davon ausgehen, dass Frau ... - sofern sie Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 vor ihrer Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland erworben hatte - diese Rechte auch nach ihrer Einbürgerung beibehalten hat; ein Fortbestand erworbener Rechte ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes unabhängig vom Fortbestand der Voraussetzungen für deren Erwerb (vgl. zu Art. 7 ARB 1/80: EuGH, Urt. v. 21.10.2020, C-720/19, GR./. Duisburg, juris Rn. 24 unter Verweis auf das Urt. v. 22.12.2010, Bozkurt, C-303/08, InfAuslR 2011, 89, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
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bb) Aus der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ergibt sich jedoch weder, dass entgegen dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 hinreichend ist, dass der Stammberechtigte die Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 zustehen, noch dass Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 - erweiternd - auf eine Fallkonstellation wie die vorliegende entsprechend anwendbar wäre (vgl. OVG Koblenz, Beschl. v. 29.6.2009, 7 B 10454/09, NVwZ-RR 2009, 978, juris Rn. 15; VGH Kassel, Beschl. v. 23.7.2007, 11 UZ 601/07, InfAuslR 2008, 7, juris Rn. 4; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, zu Art. 7 ARB 1/80 Rn. 39; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, Art. 7 EWG-Türkei, Rn. 7 f.; vgl. zum Kooperationsabkommen mit Marokko: EuGH, Urt. v. 11.11.1999, C-179/89, Mesbah, InfAuslR 2000, 56). Die vom Antragsteller angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu der nach seiner Auffassung in Bezug auf die Unionsbürgerrichtlinie vergleichbaren Rechtslage (vgl. Urt. v. 14.11.2017, C-165/16, ... bzw. ..., NVwZ 2018, 137, juris; nachfolgende Zitate geben jeweils die Randnummer dieser Entscheidung an) spricht nach Auffassung des Senats gegen die von ihm geltend gemachte erweiternde Auslegung von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80. Denn der Europäische Gerichtshof legt in dem zitierten Verfahren nicht primär die streitgegenständliche Unionsbürgerrichtlinie zur Gewährleistung der Effektivität der Freizügigkeit erweiternd aus, sondern misst den Sachverhalt in Bezug auf die nachziehenden Familienangehörigen zunächst maßgeblich an Art. 21 Abs. 1 AEUV. Im Einzelnen:
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(1) Der Europäische Gerichtshof führt insoweit aus, dass die spanische Ehefrau (Frau ...) ihrem drittstaatsangehörigen Ehepartner (Herrn ...) nach dem Erwerb einer weiteren Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union (dort: Vereinigtes Königreich) ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich nicht mehr aus der Richtlinie 2004/38/EG vermitteln könne, weil die Voraussetzungen der Richtlinie nicht mehr erfüllt seien; sie sei weder „Berechtigte“ im Sinne der Richtlinie noch bestehe ein Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bzw. Aufnahmemitgliedstaat (Rn. 35). Die Richtlinie 2004/38/EG sei nicht dazu bestimmt, das Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu regeln. Die Richtlinie sei daher auch nicht dazu bestimmt, drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers ein Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat zu verleihen (Rn. 37). Der Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit durch Frau ... habe daher zu einer Veränderung der Rechtslage hinsichtlich sowohl des nationalen Rechts als auch der Richtlinie geführt. Die Richtlinie sei daher auf die Situation von Frau ... nicht mehr anwendbar, seitdem sie im Vereinigten Königreich eingebürgert worden sei (Rn. 41). Dieses Ergebnis werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass Frau ... zuvor von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe (Rn. 43).
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Ein Aufenthaltsrecht zugunsten von Herrn ... könne sich jedoch aus Art. 21 Abs. 1 AEUV herleiten. Wie die Richtlinie 2004/38/EG gewähre diese Bestimmung einem solchen Drittstaatsangehörigen allerdings kein eigenständiges Aufenthaltsrecht, sondern nur eines, das von den Rechten des betreffenden Unionsbürgers abgeleitet sei (Rn. 47). Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht bestehe danach zugunsten eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers grundsätzlich nur dann, wenn es erforderlich sei, damit dieser Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit wirksam ausüben könne. Der Zweck und die Rechtfertigung eines solchen abgeleiteten Rechts beruhten demnach auf der Feststellung, dass seine Nichtanerkennung insbesondere die Freizügigkeit sowie die Ausübung und die praktische Wirksamkeit der Rechte, die dem Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zuständen, beeinträchtigen könnte (Rn. 48). Zu den Rechten, die den Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung gewährt werde, gehöre ihr Recht, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen, indem sie mit ihren Familienangehörigen zusammenlebten (Rn. 52). Zudem hätten die Rechte eines Unionsbürgers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV einschließlich der abgeleiteten Rechte, die seine Familienangehörigen genießen, auch den Zweck, die schrittweise Integration des betreffenden Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu fördern (Rn. 56). Dabei dürften die Voraussetzungen für die Gewährung dieses abgeleiteten Aufenthaltsrechts nicht strenger sein als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38/EG für einen Drittstaatsangehörigen vorsehe, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers sei, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt habe, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen habe, als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitze. Auch wenn diese Richtlinie eine Situation wie die beschriebene nicht regele, sei sie jedoch auf eine solche entsprechend anzuwenden (Rn. 61).
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(2) Diese zur Unionsbürgerrichtlinie entwickelte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist bereits nicht übertragbar auf das Recht zur Arbeitsaufnahme und Aufenthaltsgewährung nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80. Denn sie gründet sich auf der Forderung der Wirksamkeit des der Unionsbürgerrichtlinie übergeordneten Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV, welches eines der grundlegenden Gewährleistungen bzw. Freiheiten der europäischen Union ist. Eine derartige Verwurzelung in einem übergeordneten Rechtsrahmen besteht für das Arbeitsaufnahme- und Aufenthaltsrecht türkischer Arbeitnehmer aus dem Assoziationsratsbeschluss nicht. Zudem weist das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.3.2015, 1 C 19.14, BVerwGE 151, 377, juris Rn. 20 unter Hinweis auf die Entscheidung des EuGH, Urt. v. 8.12.2011, C-371/08, Ziebell, Rn. 75 ff.) in anderem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Rechte türkischer Arbeitnehmer aus dem Assoziationsratsbeschluss primär auf die wirtschaftliche Integration türkischer Arbeitnehmer in den Mitgliedstaat der Europäischen Union angelegt sind; dieser Rechtsprechung folgt der Senat.
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Selbst wenn man die Grundsätze aus der ...-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf die vorliegende Fallkonstellation übertragen wollte, so stünde dem Antragsteller kein Recht auf Aufenthalt aus Art. 21 Abs. 1 AEUV zu. Die Gewährung eines solchen Rechts ist bereits nach der Heirat zu keinem Zeitpunkt erforderlich gewesen, damit Frau ... ihr Recht, als (ehemalige) türkische Arbeitnehmerin im Bundesgebiet leben zu dürfen, wirksam ausüben konnte. Denn auch die nationalen Rechtsvorschriften haben eine Einreise des Antragstellers zur Eheschließung und seinen Aufenthalt als Ehegatte erlaubt. Zudem stand dem Antragsteller nach seiner Scheidung von Frau ... schon deswegen kein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet aus Art. 21 Abs. 1 AEUV mehr zu, weil sein Verbleib im Bundesgebiet nicht mehr erforderlich war, damit Frau ... ihr Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet wirksam ausüben kann.
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(3) Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass für eine entsprechende Anwendung von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 auf die vorliegende Fallkonstellation keine rechtliche Grundlage ersichtlich ist. Denn zum einen fehlt es an einem übergeordneten, Art. 21 Abs. 1 AEUV entsprechenden Rechtsrahmen, aus dem sich die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer und das Gebot der praktischen Wirksamkeit eines solchen Freizügigkeitsrechts türkischer Arbeitnehmer ableiten ließe. Zum anderen fehlt es an der Notwendigkeit eines Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen, damit das nationale Aufenthaltsrecht, das infolge der Inanspruchnahme von Freizügigkeit entstanden ist, wirksam ausgeübt werden kann.
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.
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Referenzen
- §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 28 Abs. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 2 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG 8x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 146 3x
- VwGO § 147 1x
- § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG 4x (nicht zugeordnet)
- § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- 7 ARB 1/80 4x (nicht zugeordnet)
- 13 K 2909/20 1x (nicht zugeordnet)
- 4 Bs 30/18 1x (nicht zugeordnet)
- 18 B 2764/06 1x (nicht zugeordnet)
- 13 ME 348/19 2x (nicht zugeordnet)
- 1 B 148/81 1x (nicht zugeordnet)
- 1 ARB 1/80 11x (nicht zugeordnet)
- 6 ARB 1/80 3x (nicht zugeordnet)
- 7 B 10454/09 1x (nicht zugeordnet)
- 11 UZ 601/07 1x (nicht zugeordnet)