Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (1. Senat) - 1 M 263/19 OVG

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts B-Stadt vom 20. März 2019 – 4 B 2308/18 SN – unter Ziffer 1. des Tenors wie folgt geändert:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin gegen den Straßenbaubeitragsbescheid vom 16. August 2012 wird ab dem 3. September 2018 angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Antragsgegner trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht auf 7.519,78 Euro festgesetzt.

Gründe

1

Die nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses am 22. März 2019 mit am 26. März 2019 eingegangenem Schriftsatz fristgemäß eingelegte (§ 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und mit am 23. April 2019 beim Oberverwaltungsgericht eingegangenem Schriftsatz gleichermaßen fristgemäß begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO) Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts B-Stadt vom 20. März 2019 hat Erfolg.

2

Die Beschwerde ist zulässig. Der Vortrag des Antragsgegners im Hinblick auf ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis geht offensichtlich fehl. Soweit auf die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 29. Juli 2008 (Az. 9 Cs 08.1347) Bezug genommen wird, ist der der Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Zum einen liegt kein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO vor. Zum anderen ist nicht erkennbar, dass die Rechtsverfolgung in der Hauptsache aufgrund von Umständen, die im Verantwortungsbereich der Antragstellerin liegen, jahrelang nicht betrieben worden ist. Die Antragstellerin hat mit Widerspruchseinlegung am 29. August 2012 um Akteneinsicht gebeten. Der Antragsgegner hat daraufhin mitgeteilt, dass eine Terminabstimmung zur Akteneinsicht derzeit kurzfristig nicht möglich sei. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2016 hat die Antragstellerin nochmal um Gewährung von Akteneinsicht gebeten, ohne dass seitens des Antragsgegners eine Reaktion erfolgte.

3

Die Beschwerde ist begründet. Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist im vorliegenden Fall die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin anzuordnen. Es bestehen nach der entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes. Es überwiegt daher das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin.

4

Die Heranziehung der Antragstellerin zu dem Straßenbaubeitrag dürfte sich als rechtswidrig erweisen, da der angefochtene Bescheid nicht auf die Satzung der A-Stadt über die Erhebung von Beiträgen für den Ausbau von Straßen, Wegen und Plätzen (Straßenbaubeitragssatzung – SBS) vom 1. Dezember 2006 gestützt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit der Satzung. Es spricht derzeit alles dafür, dass die in § 5 Abs. 2 Nr. 3 SBS geregelte qualifizierte Tiefenbegrenzung von 50 Meter für Grundstücke, die teilweise im unbeplanten Innenbereich und im Übrigen mit ihrer Restfläche im Außenbereich liegen, nicht den Maßgaben des Vorteilsprinzips genügt Grundsätzlich muss die gewählte Tiefenbegrenzung die typischen örtlichen Verhältnisse tatsächlich widerspiegeln und sich an der ortsüblichen Nutzung orientieren. Für die Festsetzung der an diesen Verhältnissen zu orientierenden Tiefenbegrenzung steht dem Ortsgesetzgeber ein normgeberisches Ermessen zu. Um dieses Ermessen ordnungsgemäß ausüben zu können, muss er vor Beschlussfassung über die Satzung und Festlegung der Tiefenbegrenzung die örtlichen Verhältnisse sorgfältig und willkürfrei ermitteln, wobei die Ergebnisse der Ermittlung dokumentiert werden sollen (grundlegend dazu OVG Greifswald, Urt. v. 14.09.2010 – 4 K 12/07 –, juris Rn. 77). Unterbliebt eine solche Ermittlung der ortsüblichen Bebauungstiefe, führt dies zur Unwirksamkeit der Tiefenbegrenzungsregelung.

5

Dies dürfte hier der Fall gewesen sein. Vorliegend hat der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 27. August 2019 eingeräumt, dass Unterlagen oder Aufzeichnungen, aus denen sich ergeben könnte, wie die ortsübliche Bebauungstiefe zur Festsetzung der Tiefenbegrenzung zum damaligen Zeitpunkt ermittelt wurde, nicht vorliegen. Eine ordnungsgemäße Ermittlung der ortsüblichen Bebauungstiefe ist damit jedenfalls nicht belegt und daher zweifelhaft.

6

Der Fehler führte auch zur Unwirksamkeit der Straßenbaubeitragssatzung. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch im Straßenbaubeitragsrecht eine fehlerhafte Verteilungsregelung der Beitragssatzung nur dann zur Rechtswidrigkeit des Heranziehungsbescheides führt, wenn sie im Abrechnungsgebiet auch tatsächlich zur Anwendung kommen muss (Grundsatz der regionalen Teilbarkeit, vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 26.02.2004 – 1 M 242/03 –, juris Rn. 46). Dies ist hier allerdings der Fall. Ausweislich der von dem Antragsgegner vorgelegten Unterlagen gibt es im maßgeblichen Abrechnungsgebiet übertiefe Randlagengrundstücke im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 SBS.

7

Der Beitragsbescheid kann auch nicht auf die Satzung der Gemeinde A-Stadt über die Erhebung von Beiträgen für den Bau von Straßen, Wegen und Plätzen vom 28. Dezember 2015 gestützt werden, da diese erst am Tag nach ihrer Bekanntmachung in Kraft getreten ist und damit zum Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht im November 2011 nicht galt (vgl. Holz in: Aussprung/Siemers/Holz, KAG M-V, Stand Dezember 2017, § 8 Anm. 1.7 Seite 330).

8

Die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs war erst ab Eingang des Antrages der Antragstellerin auf Aussetzung der Vollziehung bei dem Antragsgegner am 3. September 2018 anzuordnen. Zwar wirkt grundsätzlich die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses zurück und lässt damit auch die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge entfallen (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 20.01.2016 – 9 C 1/15 –, juris Rn. 14, 15 m.w.N.). Denn die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO soll generell die Rechtslage in Kraft setzen, die bestände, wenn die in § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehene aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs nicht ausnahmsweise entfiele. Das Gericht kann jedoch im Rahmen seiner Ermessensausübung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die Rückwirkung zeitlich einschränken oder ausschließen, insbesondere die Wirkungen der Entscheidung etwa nur für die Zukunft (ex nunc) eintreten lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.01.2016, a.a.O., Rn. 14; OVG Lüneburg, Urt. v. 14.03.1989 – 9 A 57/88 –, juris Rn. 21). Dies kommt etwa dann in Betracht, wenn der Abgabenschuldner den nicht fristgebundenen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erst längere Zeit nach Rechtsbehelfseinlegung ohne nachvollziehbare Gründe gestellt und dadurch dazu beigetragen hat, dass es zu belastenden Folgen für den Betroffenen, beispielsweise zu Säumniszuschlägen, gekommen ist, die er nunmehr aufgehoben wissen will (vgl. OVG Greifswald, Urt. v. 20.05.2003 – 1 L 137/02 –, juris Rn. 37; Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 80 Rn. 169).

9

Im vorliegenden Einzelfall erscheint es dem Senat unter Beachtung dieser Maßgaben als sachgerecht, die aufschiebende Wirkung erst mit Stellung des Antrages auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde (§ 80 Abs. 6 VwGO) anzuordnen. Die Antragstellerin hat gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 16. August 2012 fristgerecht Widerspruch eingelegt. Erst mit Schreiben vom 29. August 2018, bei dem Antragsgegner am 3. September 2018 eingegangen, hat sie die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides beantragt. Dabei wird in dem Bescheid in der Rechtsbehelfsbelehrung unter anderem ausdrücklich auf die sofortige Vollziehung des Bescheides trotz Einlegung eines Rechtsmittels, die Einziehung nicht rechtzeitig geleisteter Beiträge im Verwaltungszwangsverfahren und die Erhebung von Säumniszuschlägen und Verwaltungskosten hingewiesen. Die Antragstellerin hat es daher aus nicht nachvollziehbaren Gründen über einen längeren Zeitraum versäumt, einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu stellen und damit (einstweilen) die Fälligkeit der Forderung zu beseitigen, um so etwa die Verwirkung von Säumniszuschlägen zu verhindern (so auch in einem vergleichbaren Fall VGH München, Beschl. v. 02.04.1985 – 23 C S 85 A. 361 –, NVwZ 1987, S. 63). Dabei hat der Senat auch berücksichtigt, dass der Antragsgegner der Antragstellerin zunächst keine Akteneinsicht ermöglicht hat. Diesem Umstand kommt für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren keine Bedeutung zu. Aufgrund dessen erscheint es im Ergebnis nicht vertretbar, der Antragstellerin auch für den Zeitraum bis zur Antragstellung bei der Behörde die Rechtswohltat der Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu gewähren und dem Antragsgegner die schon angefallenen Säumniszuschläge wieder zu entziehen.

10

Die Kostenentscheidungen folgen aus § 154 Abs. 1 VwGO.

11

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 GKG, § 52 Abs. 3 GKG und § 53 Abs. 2 GKG, wobei der streitige Abgabenbetrag für das Eilverfahren zu vierteln war.

12

Hinweis:
Der Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO und § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.

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