Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 4 A 715/15.A
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 4. Februar 2015 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt erfolglos.
2Der geltend gemachte Zulassungsgrund einer Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
3Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Ein Gericht ist nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Geht das Gericht auf den wesentlichen Teil eines Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von wesentlicher Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war.
4Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.12.2014 – 4 C 35.13 –, NVwZ 2015, 656 = juris, Rn. 42.
5Der Kläger beanstandet, das Verwaltungsgericht habe seinen Vortrag nicht zur Kenntnis genommen und gewürdigt, dass eine Gruppenverfolgung der „gläubigen Ahmadis“, die ihren Glauben praktizierten, vorliege. In der älteren Rechtsprechung sei damit argumentiert worden, dass die sogenannten „Verfolgungsschläge“ in Form „klassischer“ Verfolgungsmaßnahmen wie diverser Anfeindungen, Körperverletzungen und Übergriffe verschiedenster Art nicht dicht genug gesät seien, um auf eine Gruppenverfolgung zu schließen. Es sei aber noch keine Entscheidung zu der Frage getroffen worden, ob nach dem gewandelten und erweiterten Verfolgungsbegriff, der sich aus Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts,
6EuGH, Urteil vom 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 –, NVwZ 2012, 1612 = juris; BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris,
7ergebe, eine andere Folgerung zu ziehen sei. Man dürfe davon ausgehen, dass der weitaus größte Teil der Ahmadis in Pakistan seinem Glauben sehr verbunden sei und die Erzwingung der Unterlassung wesentlicher Elemente seiner Glaubensausübung, zumindest das Verbergenmüssen, als Verfolgungssituation empfinde. Zu dieser Frage habe bislang weder ein Oberverwaltungsgericht Stellung bezogen noch gebe es hierzu neuere höchstrichterliche Rechtsprechung. Die Frage einer vorliegenden Gruppenverfolgung religiöser und ihrem Glauben verbundener Ahmadis in Pakistan müsse neu „vorgenommen“ werden.
8Mit diesen Darlegungen ist eine Versagung des rechtlichen Gehörs nicht aufgezeigt.
9Den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils liegt die entscheidungstragende Annahme zugrunde, dass die objektive Einschränkung der Religionsausübung durch den pakistanischen Staat und auch durch nichtstaatliche Akteure nur dann die flüchtlingsschutzrechtlich erforderliche subjektive Schwere aufweist, wenn die Befolgung der verbotenen religiösen Praxis für den Einzelnen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig und daher unverzichtbar ist (vgl. Urteilsabdruck, Seite 12, dritter Absatz). Von diesem Rechtsstandpunkt ausgehend, hat das Verwaltungsgericht den Vortrag einer Gruppenverfolgung der „gläubigen Ahmadis“, die ihren Glauben praktizierten, genügend gewürdigt. Denn es hat die höchstrichterlich bereits in Abweichung von diesem Vortrag geklärten Voraussetzungen, unter denen eine Verfolgungsgefahr wegen eines hinreichend schweren Eingriffs in die Religionsfreiheit für Ahmadis aus Pakistan nicht gegeben ist, zur Grundlage seiner Prüfung gemacht und hierunter subsumiert. Es hat angenommen, nach der ausführlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehe nicht zu seiner richterlichen Überzeugung fest, dass für den Kläger die – eine Verfolgungsgefahr begründende – öffentliche Ausübung seiner Religion zentraler Bestandteil seiner Identität und daher für ihn unverzichtbar sei. Damit hat das Verwaltungsgericht Umstände verneint, die für die Annahme einer individuellen Betroffenheit gerade des Klägers von einer Gruppenverfolgung hinzutreten müssten. Die abweichende Rechtsauffassung des Klägers zu den Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung war dagegen höchstrichterlich bereits verworfen worden.
10Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 22.12 –, Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 17 = juris, Rn. 20 ff. und 24 ff.
11Sie war danach rechtlich unerheblich und musste nach dem Gebot rechtlichen Gehörs nicht mehr ausdrücklich gesondert gewürdigt werden.
12Ohne Erfolg wendet der Kläger ein, es liege keine ernsthafte Würdigung des Sachvortrags vor, sondern eine erkennbar von Misstrauensbereitschaft, schon fest vorgegebenem Nichtglauben und Voreingenommenheit gekennzeichnete, negativ eingefärbte Teil- und Fehlwürdigung. Dass das Verwaltungsgericht tatsächliches Vorbringen des Klägers übersehen, übergangen oder willkürlich gewürdigt hätte, ist nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat unter Berücksichtigung des Eindrucks der eingehenden Befragung in der mündlichen Verhandlung willkürfrei die vom Kläger vorgetragenen Einzelheiten zu seiner religiösen Betätigung gewürdigt (vgl. Urteilsabdruck, Seite 4, vierter Absatz, Seite 13, dritter Absatz, bis Seite 14, zweiter Absatz). Dabei hat das Verwaltungsgericht nicht bezweifelt, dass der Kläger in Deutschland erhebliche Zeit mit Aktionen in seiner Gemeinde aufwendet. Es hat die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung erforderliche Unverzichtbarkeit der öffentlichen Religionsausübung gleichwohl deshalb verneint, weil die öffentliche Religionsausübung für den Kläger in Pakistan noch nicht entscheidend gewesen sei und er in der mündlichen Verhandlung vergleichsweise distanziert über seine Religion gesprochen habe. Eine Änderung der Religiosität in dem Sinne, dass die Art und Weise der hiesigen Religionsausübung für ihn verbindlich sei, sei nicht deutlich geworden.
13Der Kläger zeigt auch keine einen Gehörsverstoß begründende willkürliche Sachverhaltswürdigung durch das Verwaltungsgericht auf, indem er beanstandet, der in seiner Heimatstadt S. von ihm geleistete Wachdienst für die B. -Moschee werde zu Unrecht lediglich als äußere formelle Beschäftigung mit und für die Gemeinde anerkannt, aus der ein innerer Bezug zum Glauben nicht erkennbar sei. Dass der Kläger, wie er vorgetragen hat, im Rahmen dieser Tätigkeit notfalls sein Leben eingesetzt habe, lässt nicht zwingend auf die erforderliche subjektive Unverzichtbarkeit öffentlicher Religionsausübung schließen. Dies ist für einen Wachdienst generell nicht untypisch. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht willkürfrei auch deshalb für seine Zeit in S. keine besondere innere Bindung des Klägers zum Glauben erkennen können, weil seine Angaben zum Umfang, in dem er dort in der Gemeinde tätig gewesen sei, nicht zu der von ihm hierzu vorgelegten Bescheinigung passten. Das Verwaltungsgericht hat den Kläger im Übrigen eingehend befragt und seine Würdigung nachvollziehbar im Urteil dargelegt. Eine einen Gehörsverstoß begründende willkürliche Sachbehandlung infolge Voreingenommenheit des Gerichts zu Lasten von Ahmadis lässt sich nicht schon dadurch belegen, dass der Kläger ohne hinreichende Beachtung höchstrichterlicher Maßstäbe sein Vorbringen zum Nachweis einer flüchtlingsschutzrechtlich relevanten Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen für ausreichend hält und deshalb eine abweichende gerichtliche Handhabung in zahlreichen Fällen beanstandet. Insoweit erschöpfen sich seine Einwände in Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, die dem sachlichen Recht zuzurechnen ist und von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG rechtfertigt.
14Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 1.2.2010 – 10 B 21.09 u. a. –, juris, Rn. 13, und vom 2.11.1995 – 9 B 710.94 –, NVwZ-RR 1996, 359 = juris, Rn. 5.
15Ein Gehörsverstoß liegt auch nicht darin, dass das Bundesamt die Anhörung durchgeführt hat, ohne die Prüfungs- und Aufklärungsvorgaben des Bundesverwaltungsgerichts zu beachten. Zum einen hat sich das Verwaltungsgericht, auf das es in diesem Zusammenhang ankommt, von den höchstrichterlichen Hinweisen hierzu leiten lassen.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 22.12 –, Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 17 = juris, Rn. 25 ff.
17Zum anderen begründete selbst ein Aufklärungsmangel – für den hier im Übrigen nichts ersichtlich ist – grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehört er zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinne der §§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, 138 VwGO.
18Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.11.2015 – 4 A 1439/15.A –, juris, Rn. 7 f., m. w. N.
19In rechtlicher Hinsicht bestand für die Vorinstanz im Hinblick auf den gewandelten und erweiterten Verfolgungsbegriff, der sich aus den zitierten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts ergibt, keine Notwendigkeit, sich im Falle des Klägers die Frage einer Gruppenverfolgung religiöser und ihrem Glauben verbundener Ahmadis in Pakistan „neu vorzunehmen“. Denn der Kläger gehört nach den erstinstanzlichen Feststellungen bereits nicht zu den für eine Gruppenverfolgung in Betracht kommenden Ahmadis, für welche die öffentliche Ausübung ihrer Religion als zentraler Bestandteil ihrer religiösen Identität unverzichtbar ist.
20Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
21Die als grundsätzlich bedeutsam erachteten Fragen,
22welche Bedingungen im Einzelnen anzulegen sind, um zu bejahen, dass eine Person eine besondere innere Bindung an den Glauben hat,
23sowie
24ob und inwieweit eine Fähigkeit des Klägers zu extrovertierter Darstellung zu fordern ist, weiterhin auch ein Mindestmaß an charismatische Ausstrahlung,
25rechtfertigen nicht die Zulassung der Berufung. Soweit diese Fragen einer generellen und über den Einzelfall hinausgehenden Klärung zugänglich sind, sind sie bereits höchstrichterlich geklärt. Ob die Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit für einen Schutzsuchenden zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, hängt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht davon ab, dass der Betroffene ohne eine entsprechende Praktizierung innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde. Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Dabei reicht es nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis des Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Neben Feststellungen zur Zugehörigkeit zur B. -Glaubensgemeinschaft erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen der mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Wird festgestellt, dass der Betroffene seinen Glauben in Deutschland öffentlichkeitswirksam praktiziert, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 22.12 –, Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 17 = juris, Rn. 24 ff.
27Danach ist weder eine Fähigkeit des Klägers zu extrovertierter Darstellung zu fordern noch ein Mindestmaß an charismatischer Ausstrahlung. Welche Bedingungen im Einzelnen anzulegen sind, um zu bejahen, dass eine Person eine besondere innere Bindung an den Glauben hat, ist nach diesen Vorgaben vielmehr eine Frage des jeweiligen Einzelfalls, die einer weiteren generellen Klärung nicht zugänglich ist.
28Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO und 83b AsylG.
29Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Referenzen
- § 80 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 138 1x
- 4 A 1439/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 AsylVfG 3x (nicht zugeordnet)
- § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 154 Abs. 2 VwGO und 83b AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- §§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, 138 VwGO 1x (nicht zugeordnet)