Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 1 B 858/20
Tenor
Ziffer 1. des angefochtenen Beschlusses wird geändert. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.579,43 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg. Die gegen den angefochtenen Beschluss fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat bei der hier veranlassten Überprüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. Satz 1 und 3 VwGO), erschüttern die tragenden Gründe der angefochtenen Entscheidung. Da sich der erstinstanzliche Beschluss auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, ist das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung auf die Beschwerde hin zu korrigieren und der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage (VG Köln, 23 K 6663/19) gegen den Entlassungsbescheid der Antragsgegnerin vom 30. Juli 2019 in der Gestalt des Beschwerdebescheides vom 16. Oktober 2019 anzuordnen,
4abzulehnen.
5Das Verwaltungsgericht hat diesem Antrag im Kern mit der folgenden Begründung entsprochen: Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiege das öffentliche Vollzugsinteresse, weil sich der Entlassungsbescheid bei summarischer Prüfung als (offensichtlich) rechtswidrig erweise. Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG lägen nach vorläufiger Einschätzung nicht vor. Zwar sei der Antragsteller Soldat auf Zeit im vierten Dienstjahr gewesen und liege eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten vor. Der Antragsteller habe, ohne angegriffen oder provoziert worden zu sein, am (Abend des) 20. September 2018 im Zuge eines in der Kaserne veranstalteten Sport-/Oktoberfestes zum einen dem Stabsgefreiten (StGefr) I. mit der Taschenlampe seines Handys ins Gesicht geleuchtet und diesem sodann gewaltsam und gegen dessen Willen mit dem Handrücken ins Gesicht gelangt und zum anderen den Oberstabsgefreiten (Unteroffizieranwärter) (OStGefr (UA)) F. mit den Worten beleidigt, welchen Schwanz dieser eigentlich blase. Durch dieses Verhalten habe er (wie im angefochtenen Bescheid auf S. 4 ausgeführt) gegen die Pflicht zum treuen Dienen nach § 7 SG, die Pflicht zur Fürsorge gemäß § 10 Abs. 3 SG, die Kameradschaftspflicht nach § 12 SG und die "allgemeine Wohlverhaltenspflicht gemäß § 17 Abs. 1 SG" verstoßen. Es fehle aber an einer ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung. Diese sei zunächst regelmäßig bei Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich anzunehmen, die unmittelbar die (materielle oder – hier nur in Betracht kommend – personelle) Einsatzbereitschaft der Bundeswehr beeinträchtigten. Eine solche Dienstpflichtverletzung liege hier nicht vor. Für deren Annahme müsse das Verhalten des Soldaten geeignet sein, Spannungen in den inneren Dienstbetrieb der Bundeswehr hineinzutragen, die sich negativ auf den Zusammenhalt der Truppe, auf ein reibungsloses Zusammenspiel der Einsatzkräfte im Rahmen des Prinzips von Befehl und Gehorsam und damit letztlich auf die Einsatzfähigkeit im Ganzen und die militärische Ordnung auswirkten. Das Fehlverhalten des Antragstellers habe zwar bei einer dienstlich veranlassten Veranstaltung stattgefunden, aber nicht unmittelbar in Ausübung des Dienstes. Es sei nicht erkennbar, dass sein Verhalten dazu angetan gewesen sei, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Soldaten und ihre Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu zerstören. Ferner könne eine ernstliche Gefährdung i. S. v. § 55 Abs. 5 SG auch bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb des militärischen Kernbereichs vorliegen. Bei solchen Dienstpflichtverletzungen könne regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handele, wenn die begründete Gefahr bestehe, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr), oder wenn es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handele, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftrete oder um sich zu greifen drohe, so dass ohne die fristlose Entlassung ein Anreiz zu ähnlichem Verhalten für andere Soldaten gegeben wäre (Nachahmungsgefahr). Keiner der beiden Fälle liege hier voraussichtlich vor. Eine Straftat von erheblichem Gewicht sei nicht gegeben. Zwar lägen mehrere Pflichtverstöße zu Lasten zweier Kameraden vor; diese seien aber einem einheitlichen Gesamtgeschehen zuzuordnen. Außerdem sei das Strafverfahren nach § 153a Abs. 1 StPO gegen eine Geldauflage von 400,00 Euro eingestellt worden und führe der Vertrauensverlust gegenüber dem Antragsteller allenfalls zu einer mittelbaren Beeinträchtigung der personellen Einsatzbereitschaft der Truppe. Für eine Wiederholungsgefahr seien keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich. Auch die Annahme einer Nachahmungsgefahr habe die Antragsgegnerin nicht nachvollziehbar begründet. Mit der allgemeinen Erwägung, ohne Entlassung könne in der Truppe der Eindruck entstehen, der Dienstherr dulde die Misshandlung oder Beleidigung Untergebener, sei nicht dargelegt, weshalb das Fehlverhalten des Antragstellers Anreiz zur Nachahmung bieten sollte. Auch sei hiermit nicht erkennbar gemacht, dass es sich bei dem Fehlverhalten des Antragstellers um ein typisches Teilstück einer als allgemeine Erscheinung auftretenden Neigung zur Disziplinlosigkeit handele. Insgesamt spreche nichts dafür, dass dem befürchteten Schaden für die militärische Ordnung hier nicht durch eine disziplinarrechtliche Sanktion wirksam hätte begegnet werden können.
6Hiergegen macht die Antragsgegnerin im Kern geltend: Der Eilantrag sei unbegründet. Das Verwaltungsgericht habe unzutreffend und ohne hinreichende Begründung angenommen, dass das Fehlverhalten des Antragstellers den Kernbereich der militärischen Ordnung nicht berühre. Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sei vielmehr unmittelbar betroffen, und zwar insbesondere durch die schwerwiegenden Verstöße gegen die den Antragsteller treffenden Pflichten aus den §§ 7, 10 Abs. 3, 12 und 17 Abs. 2 SG. Mit diesen Verstößen sowie mit der Verletzung der Pflichten aus den §§ 10 Abs. 6 und 17 Abs. 1 SG habe er das in ihn als Soldat auf Zeit (SaZ) gesetzte Vertrauen grob missbraucht. Die zentrale Pflicht des § 7 SG, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, sei gewichtig verletzt, weil der Antragsteller im dienstlichen Zusammenhang eine Straftat (Misshandlung des StGefr I. ) begangen und sich damit gegen die Rechtsordnung gestellt habe. Der dienstliche Zusammenhang folge daraus, dass der Antragsteller – damals Stabsunteroffizier (Feldwebelanwärter) – die Pflichtverletzungen innerhalb einer militärischen Anlage und Untergebenen nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 (richtig: Nr. 3), Abs. 3 VorgV gegenüber begangen habe. Unerheblich sei insoweit die Einstellung nach § 153a StPO, da diese die Antragsgegnerin nicht binde. Ferner liege mit der Misshandlung und der Beleidigung ein schwerwiegender Verstoß gegen die Pflicht vor, die Würde, die Ehre und die Rechts des Kameraden zu achten (§ 12 Satz 2 SG). Diese Pflichtenregelung solle Handlungsweisen verhindern, die objektiv geeignet seien, den militärischen Zusammenhalt, mithin das gegenseitige Vertrauen und die Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu gefährden, damit den Dienstbetrieb zu stören und letztlich auch die Einsatzbereitschaft der Truppe zu beeinträchtigen. Eine Kameradschaftspflichtverletzung, wie sie hier vorliege, betreffe mithin immer den Kernbereich der militärischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund sei die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht nachvollziehbar, es sei nicht erkennbar, dass das Verhalten des Antragstellers das Zusammengehörigkeitsgefühl der Soldaten und ihre Bereitschaft, füreinander einzustehen, zerstören könne, zumal der Antragsteller und die Geschädigten in derselben Einheit eingesetzt gewesen seien. In der Beleidigung des OStGefr (UA) F. liege zusätzlich ein Verstoß gegen die Pflicht des Soldaten aus § 10 Abs. 6 SG, bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten. Durch die Provokation und den Schlag gegen den StGefr I. habe der Antragsteller ferner gegen seine elementare Fürsorgepflicht aus § 10 Abs. 3 SG verstoßen, nach der jeder Vorgesetzte seine Untergebenen nach Recht und Gesetz zu behandeln habe. Dass mit der Sportveranstaltung nicht unmittelbar die Ausübung des Dienstes verbunden gewesen sei, sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts unerheblich. Der Antragsteller sei nämlich als Vorgesetzter verpflichtet gewesen, in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel zu geben (§ 10 Abs. 1 SG), Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch außerhalb des Dienstes zu achten (§ 17 Abs. 1 SG), und sein Fehlverhalten außerhalb des Dienstes habe insbesondere angesichts des gegebenen Vertrauensverlustes in den Dienst hineingewirkt. Das Fehlverhalten seinen Kameraden gegenüber sei ohne weiteres objektiv geeignet, bei einem außenstehenden Dritten Zweifel an der persönlichen Integrität und charakterlichen Eignung des Antragstellers zu begründen und damit dessen Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit zu beeinträchtigen, weshalb es auch der Wohlverhaltenspflicht des § 17 Abs. 2 SG widerspreche. Die Einsatz- und Verwendungsbreite des Antragstellers sei beeinträchtigt, da der Antragsteller durch sein Fehlverhalten das in ihn gesetzte Vertrauen seiner Vorgesetzten zerstört habe; dies führe letztlich zu einer geringeren Einsatzfähigkeit der Einheit.
7Dieses Beschwerdevorbringen zeigt auf, dass das Verbleiben des Antragstellers, der sich bei seiner Entlassung unstreitig im vierten Dienstjahr befand und ebenso unstreitig die o. g. Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat, in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung ernstlich gefährden würde, und erschüttert damit die den angefochtenen Beschluss allein tragende gegenteilige Begründung. Dass sich der Beschluss aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweisen könnte, die Rechtmäßigkeit der auf § 55 Abs. 5 SG gestützten Entlassungsverfügung also unter anderen Gesichtspunkten Bedenken unterliegen könnte, ist nicht erkennbar.
8Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die fristlose Entlassung nach dieser Vorschrift ist keine disziplinarische Maßnahme, sondern soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten. Sie stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Bereits aus dem Wortlaut der Norm folgt, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss, was aufgrund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen ist.
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 8, und OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2012 – 1 A 846/12 –, juris, Rn. 44 f., jeweils m. w. N.
10Das hier allein in Rede stehende Tatbestandsmerkmal einer drohenden ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung meint mit dem Merkmal der militärischen Ordnung den Inbegriff der Elemente, die die Einsatzbereitschaft der Soldaten und damit die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nach den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen erhalten. Dabei genügt es nicht, wenn Randbereiche des Militärischen berührt werden, vielmehr muss es sich um Regeln und Einrichtungen handeln, die über diese Randbereiche hinausgehen.
11Vgl. das Senatsurteil vom 5. Dezember 2012–1 A 846/12 –, juris, Rn. 40 f., und ferner Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 55 Rn. 21, jeweils m. w. N.
12Eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung ist regelmäßig zu bejahen, wenn die Einsatzbereitschaft der Soldaten erheblich vermindert und infolge dessen die Verteidigungsbereitschaft der Truppe, d. h. der einzelnen betroffenen Einheit bzw. letztlich auch der Bundeswehr im Ganzen, in Frage gestellt wird.
13Vgl. den Senatsbeschluss vom 1. März 2006– 1 B 1843/05 –, juris, Rn. 23.
14Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung bei einem Verbleiben des Soldaten auf Zeit in seinem Dienstverhältnis ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann.
15Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 9, und OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2012 – 1 A 846/12 –, juris, Rn. 44 f., jeweils m. w. N.
16Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen. Hierunter fallen schon begrifflich nur (schwere) innerdienstliche Dienstpflichtverletzungen oder ein außerdienstliches Verhalten, das unmittelbar hierauf gerichtet ist.
17Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 10 und 12, m. w. N.
18Die Frage, ob der Kernbereich der militärischen Ordnung berührt wird, ist dabei anhand objektiver Kriterien und nicht etwa nach dem persönlichen Empfinden der zuständigen militärischen Vorgesetzten oder der personalbearbeitenden Dienststelle zu beantworten.
19Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 13.
20Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können.
21Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 10, m. w. N.
22Nach Maßgabe des Vorstehenden sind hier (hinreichend schwere) Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich gegeben, die die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen.
23Zunächst liegt, wie die Beschwerde zu Recht geltend macht, mit den zwar nicht in Ausübung des Dienstes, aber innerhalb einer militärischen Liegenschaft bei einem für die Soldaten ausgerichteten Fest und damit im dienstlichen Zusammenhang verwirklichten Straftaten zu Lasten des StGefr I. und des OStGefr (UA) F. jeweils ein schwerwiegender Verstoß gegen die in Bezug auf jeden anderen aktiven Soldaten der Bundeswehr geltenden
24– vgl. insoweit etwa Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 12 Rn. 5, m. w. N. –
25Pflicht zur Kameradschaft (§ 12 Satz 2 SG) vor, der objektiv geeignet ist, die Einsatzbereitschaft der Truppe zu beeinträchtigen. Der Zweck der hier verletzten Pflicht, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten (§ 12 Satz 2 SG), wird durch die Vorschrift des § 12 Satz 1 SG verdeutlicht, nach der der Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich auf Kameradschaft beruht. Hieraus ergibt sich, dass die Gebote des § 12 Satz 1 SG nicht um des einzelnen Soldaten willen normiert worden sind, sondern Handlungsweisen verhindern sollen, die objektiv geeignet sind, den militärischen Zusammenhalt, mithin das gegenseitige Vertrauen und die Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu gefährden, den Dienstbetrieb zu stören und dadurch letztlich auch die Einsatzbereitschaft der Truppe zu beeinträchtigen.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2016– 2 WD 21.15 –, juris, Rn. 30, m. w. N.; ferner etwa Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 12 Rn. 1, m. w. N.
27Eine Kameradschaftspflichtverletzung, wie sie hier nach dem Inhalt des § 12 SG unabhängig davon vorliegt, ob der Antragsteller und die Geschädigten der gleichen Einheit (Dienststelle SysZ 23 AbgFachGrp N. ) angehörten, was naheliegt, oder ob mit dem Antragsteller von einer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Einheiten ("Hörsälen" dieser Dienststelle) ausgegangen werden kann, betrifft dementsprechend grundsätzlich immer den Kernbereich der militärischen Ordnung.
28Vgl. Sohm, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 55 Rn. 74, wonach Dienstvergehen zum Nachteil von Kameraden grundsätzlich eine ernstliche Gefährdung befürchten lassen.
29Der Bewertung der Verstöße als schwerwiegend und ihrer Zuordnung zum Kernbereich der militärischen Ordnung steht das – zuletzt mit der Beschwerdeerwiderung vom 18. Juni 2020 erfolgte – Vorbringen des Antragstellers nicht entgegen.
30Zunächst greift insoweit nicht das Argument durch, es liege ein einheitlicher und nicht etwa ein mehraktiger Geschehensablauf vor. Es ist schon zweifelhaft, ob hinsichtlich der beiden Taten überhaupt – worauf der Vortrag wohl zielt – "dieselbe Handlung" i. S. v. § 52 Abs. 1 StGB vorliegen kann, weil die Angriffe sich gegen verschiedene höchstpersönliche Rechtsgüter unterschiedlicher Geschädigter richteten und weil die einzelnen Ausführungshandlungen nicht wenigstens teilidentisch waren: Dem (nach provozierendem Leuchten in das Gesicht des StGefr I. erfolgten) Schlag mit der Hand in dessen Gesicht, der dessen Brille verrutschen ließ, folgte erst nach dem der Beruhigung dienenden Dazwischentreten zunächst des StUffz T. und sodann des OStGefr (UA) F. die Beleidigung des Letztgenannten. Das mag aber offen bleiben. Der nicht provozierte, sondern eine selbst vorgenommene Provokation steigernde tätliche Angriff auf den StGefr I. und die nachfolgende Beleidigung eines Einschreitenden stellen nämlich auch bei Annahme eines einheitlichen Geschehensablaufs einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Kameradschaftspflicht dar. Das gilt umso mehr, als der Antragsteller, der damals Stabsunteroffizier (Feldwebelanwärter) war, seine Pflichtverletzungen gegenüber Untergebenen nach § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 SG i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 VorgV begangen hat.
31Das Gewicht der Pflichtverletzungen reduziert sich auch nicht deshalb, weil, wie der Antragsteller meint ("Indizwirkung"), die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 153a StPO eingestellt hat. Das gilt schon deshalb, weil eine solche Entscheidung die Antragsgegnerin nicht bindet. Unabhängig davon betrifft die Norm bereits den Bereich oberhalb der "kleinen Kriminalität", in dem § 153 StPO nicht mehr anwendbar ist, und erlaubt eine Einstellung des Verfahrens nur dann, wenn die Auflagenoder Weisungen, die dem Beschuldigten zur Ahndung erteilt und von diesem erfüllt werden, geeignet sind, das (also grundsätzlich zu bejahende) öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht.
32Vgl. etwa Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, StPO § 153a Rn. 1.
33Ferner ergibt sich eine für den Antragsteller günstigere Bewertung auch nicht aus dem von ihm geltend gemachten Umstand, er habe sich bei seinen Dienstvergehen in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden, weil bei ihm Stunden zuvor eine Untersuchung der Schilddrüse mit noch ungesicherten Befund stattgefunden und er eine Krebserkrankung befürchtet habe. Zwar hatte er am 20. September 2018 tatsächlich diese Sorge mit sich herumgetragen, wie sich aus den Bekundungen des Hauptmanns D. ergibt, dem der Antragsteller hiervon unter Tränen berichtet hatte (Niederschrift über dessen Vernehmung vom 19. Oktober 2018, Beiakte Heft 1, Blatt 11). Dass gerade die Sorge um die eigene Gesundheit wesentlich mitbestimmend für seinen sich in Aggressionen gegen die beiden Geschädigten äußernden Kontrollverlust gewesen sein soll, ist aber schon für sich genommen kaum nachvollziehbar. Jedenfalls aber kann dem Antragsteller dieses Vorbringen nicht abgenommen werden. Er hat nämlich erst mit anwaltlichem Schreiben vom 23. September 2019 geltend gemacht, die emotionale Ausnahmesituation habe (zusammen mit der "aufgewühlten Stimmung" zwischen den "Hörsälen") zu seinem Fehlverhalten geführt, nicht aber schon bei seiner Vernehmung am 22. Oktober 2018 oder in der anwaltlichen Stellungnahme vom 8. März 2019, die die Taten vielmehr allein auf eine aufgeheizte Stimmung zwischen den "Hörsälen" 23 und 25 zurückführt. Einen nachvollziehbaren Grund dafür, diesen als entlastend angesehenen Umstand nicht schon von Anfang an vorgebracht zu haben, hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Namentlich ergibt sich ein solcher Vortrag nicht aus dem Schriftsatz vom 25. Oktober 2019. Die darin aufgestellte Behauptung, er habe diesen Umstand für sich behalten und allein damit fertig werden wollen, steht nämlich in deutlichem, nicht aufgelösten Widerspruch dazu, dass der Antragsteller seine Sorge bereits am 20. August 2018 einem Vorgesetzten, Hauptmann D. , geschildert hat.
34Schließlich greift auch nicht der Einwand des Antragstellers durch, er habe am Folgetag (21. September 2018) bei allen Beteiligten um Entschuldigung gebeten und sich um ein weiteres gedeihliches Auskommen bemüht. Namentlich folgt aus ihm nicht, dass, wie der Antragsteller meint, keine "nachhaltige Störung des Zusammenhalts" mehr vorliege. Hierbei mag zwar unter Rückgriff auf den Inhalt der Stellungnahme der Vertrauensperson des "Hörsaals" 23 ("Hörsaal" des Antragstellers) davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller die Geschädigten um Entschuldigung gebeten hat, obwohl die Geschädigten in ihren Vernehmungen vom 9. bzw. 11. Oktober 2018 nur von Entschuldigungsversuchen anderer Personen als des Antragstellers berichtet haben. Für das Vorliegen eines Dienstvergehens nach § 12 Satz 2 SG reicht, weil die Norm den militärischen Zusammenhalt sichern und damit die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten will, aber das Vorliegen einer objektiven Pflichtverletzung aus, weshalb es unbeachtlich ist, ob der Betroffene dem Täter nachträglich verziehen hat.
35Vgl. Eichen, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 11, m. w. N.
36Dass in Bezug auf § 55 Abs. 5 SG, der die gleiche Zielrichtung wie § 12 Satz 2 SG hat, etwas anderes gelten könnte, ist nicht erkennbar.
37Anders OVG Saarl., Beschluss vom 10. Juni 2020– 1 A 353/18 –, juris, Rn. 15, das die Betroffenheit des militärischen Kernbereichs in einem ähnlichen, aber minder gewichtigen Fall (Schlag ins Gesicht eines Untergebenen bei einem "Zugabend" in der Kaserne bei Alkoholisierung beider Betroffenen) mit der Begründung verneinen will, der Täter und der Geschädigte hätten sich in nüchternem Zustand ausgesprochen und Letzterer erhebe keine Vorwürfe gegen den Täter.
38Die Antragsgegnerin hat ihre Einschätzung, nach der Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich vorliegen, die die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen, ferner auch darauf gestützt, dass der Antragsteller mit seinem Verfehlungen vom 20. September 2018 insbesondere auch gegen die ihn treffenden Pflichten aus den §§ 7, 10 Abs. 3 und 17 Abs. 2 SG sowie – ferner – aus den §§ 10 Abs. 6, 17 Abs. 1 SG verstoßen und insoweit namentlich auch das Vertrauen seiner Vorgesetzten in ihn verloren und damit seine uneingeschränkte Einsetzbarkeit eingebüßt habe. Auf die entsprechenden, oben im Kern wiedergegebenen zutreffenden Erwägungen aus der Beschwerdebegründung, denen das Gericht folgt, wird zur Meidung unnötiger Wiederholungen Bezug genommen.
39Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
40Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG sowie § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 (Dienstverhältnis auf Zeit), Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Einleitung der jeweiligen Instanz (hier: Beschwerdeerhebung am 29. Mai 2020) bekanntgemachten, für Soldatinnen und Soldaten des Bundes geltenden Besoldungsrechts unter Zugrundelegung der jeweiligen Erfahrungsstufe fiktiv für das innegehabte Amt im Kalenderjahr der Einleitung der Instanz zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind dabei die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist, da ein Dienstverhältnis auf Zeit in Rede steht, zunächst gemäß § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG um die Hälfte zu reduzieren und sodann, da nur eine vorläufige Regelung begehrt wird, die die Hauptsache nicht vorwegnimmt, noch einmal zu halbieren.
41Zu Letzterem vgl. den Senatsbeschluss vom 13. Januar 2020 – 1 B 1640/19 –, juris, Rn. 22 f., m. w. N.
42Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts des von dem Antragsteller zuletzt innegehabten Amtes nach A 6 BBesO bei Zugrundelegung der hier maßgeblichen Erfahrungsstufe 2 für das maßgebliche Jahr 2020 auf 30.317,72 Euro (für Januar und Februar 2020 jeweils noch 2.481,41 Euro + 22,95 Euro Erhöhungsbetrag = 2.504,36 Euro, multipliziert mit 2 = 5.008,72 Euro; für die übrigen Monate jeweils schon 2.507,71 Euro + 23,19 Euro Erhöhungsbetrag = 2.530,90 Euro, multipliziert mit 10 = 25.309,00 Euro). Ein Viertel dieses Betrages beläuft sich auf 7.579,43 Euro.
43Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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