Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 18 A 1020/19
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. L. T. , E. , wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1
Gründe:
2Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren wird abgelehnt, weil die Rechtverfolgung aus den nachstehenden Gründen nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
3Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der ausdrücklich allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
4Zur Darlegung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bedarf es einer auf schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll.
5Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. April 2013- 18 A 886/12 -, m. w. N.
6Ernstliche Zweifel im Sinne der Vorschrift liegen dann vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.
7Vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 -, juris, Rn. 21.
8Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, soweit dem Kläger in der Ordnungsverfügung der Beklagten vom 11. Dezember 2017 die Abschiebung in die Türkei angedroht worden sei, sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig geworden. Die Beklagte habe die Abschiebungsandrohung durch Änderungsverfügung vom 4. Juli 2018 aufgehoben und eine neue Abschiebungsandrohung mit einer geänderten Zielstaatsbestimmung (statt Türkei, Türkei oder Bulgarien) erlassen. Diese Änderungsverfügung sei bestandskräftig geworden. Im Übrigen sei die Ordnungsverfügung rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 3 AufenthG bestehe nicht. Insoweit werde auf den Inhalt der angegriffenen Ordnungsverfügung und die Gründe des Beschlusses vom 21. März 2018 im Verfahren 7 L 97/18 Bezug genommen. Die Frist zur freiwilligen Ausreise sowie das sinngemäß angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot seien ebenfalls rechtmäßig.
9Die Richtigkeit der vorstehenden Ausführungen stellt der Kläger nicht mit hinreichenden Darlegungen in Frage. Er meint, im Urteil des Verwaltungsgerichts fehlten notwendige Feststellungen dazu, ob der Kernbestand des Unionsbürgerstatus seiner Tochter, der Klägerin im Verfahren 18 A 1021/19, die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, dadurch verletzt werde, dass ihm als allein sorgeberechtigten Vater die Abschiebung nach Bulgarien oder in die Türkei angedroht werde. Er sei aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage, für den Lebensunterhalt seiner Tochter zu sorgen, sodass Krankenversicherung und Lebensunterhalt aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten seien. In seiner Person lägen daher die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG nicht vor, sodass die Beklagte nicht gehindert (gewesen) sei, ein Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV zu verweigern. Das Verwaltungsgericht habe jedoch aufgrund der Rechtsprechung des EuGH feststellen müssen, ob seine Tochter de facto gezwungen sei, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Es fehlten Feststellungen dazu, ob Bulgarien ihm ein Aufenthaltsrecht gewähre, da über ein „sogenanntes ‚soziales Netz‘“ in Bulgarien nichts bekannt sei. Die Abschiebungsandrohung habe daher nur dann ergehen dürfen, wenn sichergestellt sei, dass er ein „Aufenthaltsrecht in Bulgarien auch bei Krankheit und Unfähigkeit, sich krankenzuversichern und seinen Lebensunterhalt zu finanzieren“, erhalten könne. Andernfalls komme seine Tochter nicht in den Genuss des Kernbestands der Unionsbürgerschaft. Weil eine entsprechende Feststellung fehle, sei die Berufung zuzulassen. Damit werden ernstliche Zweifel an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht aufgezeigt.
10Der Zulassungsantrag verhält sich schon nicht zur Ansicht des Verwaltungsgerichts, der Klage fehle das Rechtsschutzbedürfnis, soweit dem Kläger in der Ordnungsverfügung vom 11. Dezember 2017 die Abschiebung in die Türkei angedroht worden sei, da die Beklagte diese Abschiebungsandrohung mit zwischenzeitlich bestandskräftig gewordener Änderungsverfügung vom 4. Juli 2018 aufgehoben und eine neue Abschiebungsandrohung mit geänderter Zielstaatsbestimmung (nunmehr Türkei oder Bulgarien) erlassen habe.
11Ungeachtet dessen macht der Kläger mit seinem Vortrag konkludent (allein) einen Verfahrensmangel in Form der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO geltend. Auch dies führt aber nicht zur Zulassung der Berufung.
12Vgl. zur Frage, ob und inwieweit die Richtigkeit und Vollständigkeit des Sachverhalts eine Frage des Verfahrensrechts oder des sachlichen Rechts ist Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 189 ff.
13Zwar kann das Gericht je nach Lage des Falles auch ohne einen förmlich in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag, insbesondere - wie hier - bei einem anwaltlich nicht vertretenen Kläger, im Rahmen seiner Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) zu weiteren Ermittlungen verpflichtet sein.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 2019- 10 A 2222/18 -, juris, Rn. 18, m. w. N.
15Eine Verletzung dieser Aufklärungspflicht legt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen jedoch nicht dar. Das erfordert die substantiierte Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung hätten führen können; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen. Eine weitere Sachaufklärung ist nicht geboten, wenn die in Rede stehenden Umstände nach der materiell-rechtlichen Ansicht des Verwaltungsgerichts, selbst wenn sie rechtlich fehlerhaft sein sollte, für dieses nicht entscheidungserheblich waren. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liegt nicht bereits deshalb vor, weil das Gericht die Auffassung des Klägers aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht teilt, also schlichtweg anderer Auffassung ist und deshalb weitere Sachaufklärung nicht für erforderlich hält.
16Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. September 2011- 9 B 48.11 -, juris, Rn. 18 f., m. w. N.
17Die vom Kläger begehrte Aufklärung - samt entsprechender Feststellungen - musste sich dem Verwaltungsgericht nicht aufdrängen. Sie war vielmehr nicht erforderlich.
18Nach der Rechtsprechung des EuGH kann einem Drittstaatsangehörigen - wie hier dem Kläger - ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, das aus Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Dieses setzt voraus, dass ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird.
19Vgl. hierzu und zu den näheren Voraussetzungen eines solchen unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis: EuGH, Urteile vom 8. Mai 2018- C-82/16, K.A -, juris, Rn. 47 ff., vom 10. Mai 2017- C-133/15, Chavez-Vilchez -, juris, Rn. 59 ff., vom 10. Oktober 2013 - C-86/12, Alopka -, juris, Rn. 32 ff., vom 8. November 2012 - C-40/11, Iida -, juris, Rn. 71 ff., und vom 19. Oktober 2004- C-200/02, Zhu und Chen -, juris, Rn. 25 ff.; aus der nationalen Rechtsprechung: BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 -, juris, Rn. 34 ff., und vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 -, juris, Rn. 33 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 13. August 2013- 18 A 2430/12 -, juris, Rn. 6 ff.
20Gemessen daran musste das Verwaltungsgericht nicht aufklären, ob durch eine Abschiebung des Klägers - der türkischer Staatsangehöriger ist - und seiner Tochter - die neben der bulgarischen auch die türkische Staatsangehörigkeit besitzt - nach Bulgarien letztere faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen. Einem etwaigen aus Art. 20 AEUV folgenden Aufenthaltserlaubnisanspruch des Klägers hat nämlich Bulgarien als Mitgliedstaat der Europäischen Union in gleicher Weise Rechnung zu tragen wie die Bundesrepublik Deutschland.
21Wenn die bulgarischen Behörden dem Kläger in Bulgarien keinen - auf sekundärrechtliche oder mitgliedstaatliche Grundlagen gestützten - Aufenthaltstitel erteilen sollten, könnte sich der Kläger deshalb dort auf ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht sui generis berufen, wenn seine Tochter andernfalls faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet gemeinsam mit ihm in Richtung Türkei zu verlassen. Der Kläger ist gehalten, einen derartigen Rechtsanspruch in Bulgarien geltend zu machen und - falls erforderlich - auch gerichtlich durchzusetzen. Dass es ihm auch auf diesem Wege unmöglich wäre, ein Aufenthaltsrecht in Bulgarien zu erlangen, hat der Kläger weder substantiiert dargelegt,
22vgl. in diesem Zusammenhang Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. September 2020- 10 CS 20.2031 -, juris, Rn. 6,
23noch ist dies vor dem Hintergrund des in den Art. 2 und 3 EUV sowie Art. 67 Abs. 1 und 82 Abs. 1 AEUV normierten Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, wonach jeder Mitgliedstaat, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgehen kann, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten,
24vgl. EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019- C-625/19, PPU -, juris, Rn. 33, m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 2 C 59.16 -, juris, Rn. 25, m. w. N.,
25sonst ersichtlich.
26Von der in seinem Ermessen stehenden Möglichkeit, das Verfahren des Klägers und seiner Tochter - wie von beiden beantragt - zu verbinden (§ 93 Satz 1 VwGO), macht der Senat keinen Gebrauch.
27Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
28Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Referenzen
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- VwGO § 124 1x
- 7 L 97/18 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 93 1x
- 18 A 886/12 1x (nicht zugeordnet)
- 18 A 2430/12 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 166 1x
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