Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 2 E 214/21
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Klageverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe:
1Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Unrecht abgelehnt.
2Gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
3Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere bietet auch die beabsichtigte Rechtsverfolgung durch den Kläger hinreichende Aussicht auf Erfolg.
4Der für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche Grad der Erfolgsaussichten darf mit Blick auf Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in einer Weise überspannt werden, dass der Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt wird, Unbemittelten und Bemittelten weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen. Prozesskostenhilfe ist daher immer schon dann zu bewilligen, wenn die Risikoabschätzung zur Erfolgsaussicht einer ausreichend bemittelten Person in einer vergleichbaren Situation zugunsten der Rechtsverfolgung ausfallen würde. Dazu reicht es aus, dass ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen. Verweigert werden darf Prozesskostenhilfe aber dann, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte oder bloß theoretische ist.
5Vgl. dazu etwa BVerfG, Beschlüsse vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02 -, NJW 2003, 3190 = juris Rn. 10, und vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 -, NJW 2000, 1936 = juris Rn. 16; Neumann, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 166 Rn. 64, jeweils m. w. N.
6Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll aber nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können.
7Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 57/13 -, juris Rn. 10, m. w. N.
8Gemessen an diesen Maßstäben sind die hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht (auch) für die Zeit vom 1. Juni 2015 bis zum 31. Dezember 2016, die der Kläger im Juni 2018 beantragt hat, zu bejahen.
9Zwar dürfte sich der Kläger, der die Befreiungsvoraussetzungen nach § 4 Abs. 1 RBStV nicht erfüllt, zur Begründung des geltend gemachten Befreiungsanspruchs nicht mit der bloßen Behauptung auf die Härtefall-Regelung in § 4 Abs. 6 RBStV stützen können, er gehöre zu dem einkommensschwachen Personenkreis, der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII habe, ihn aber freiwillig nicht geltend mache. Indes ergibt sich hier ein weitergehender Überprüfungsbedarf im Klageverfahren mit Blick auf die vorgelegten Berechnungen der Stadt E. – Sozialbüro M. - als zuständiger Bewilligungsbehörde vom 29. Mai 2018, aus denen sich ergibt, dass für das Jahr 2015 ein Anspruch auf Grundsicherungsleistung in Höhe von 13,83 Euro und für das Jahr 2016 in Höhe von 14,65 Euro bestanden hätte, die der Kläger indes aus persönlichen Gründen nicht beantragen wollte.
10Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 30. Oktober 2019 – 6 C 10.18 – (juris Rn. 25 ff.) ausgeführt hat, kann auch aus Gründen der durch die Beitragspflicht herbeigeführten wirtschaftlichen Belastung die Anwendung des in § 4 Abs. 1 RBStV verankerten Systems der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit zu groben Unbilligkeiten führen, die in bestimmten Fallgruppen die Annahme eines besonderen Härtefalls rechtfertigen. Eine solche Fallgestaltung liegt etwa bei Beitragsschuldnern vor, die ein den Regelleistungen entsprechendes oder geringeres Einkommen haben und nicht auf verwertbares Vermögen zurückgreifen können, aber von der Gewährung der in § 4 Abs. 1 RBStV genannten Sozialleistungen mangels Vorliegens der (sonstigen) Voraussetzungen ausgeschlossen sind.
11Die Härtefallregelung erlaubt also, vom Katalog des § 4 Abs. 1 RBStV nicht erfasste Beitragsschuldner zu befreien, wenn sich deren Schlechterstellung gegenüber befreiten Personen schlicht nicht rechtfertigen lässt. Sie dürfte indes grundsätzlich nicht schon dann greifen, wenn einkommensschwache Personen, die von der Grundsicherung nicht ausgeschlossen sind, diese ohne besonderen Grund nicht in Anspruch nehmen. Denn für diese Personengruppe entstehen durch das in § 4 Abs. 1 RBStV verankerte Regelungssystem der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit im Grundsatz keine groben Ungerechtigkeiten und Unbilligkeiten, denen durch eine Härtefallregelung begegnet werden müsste. Vielmehr hat es diese Personengruppe grundsätzlich selbst in der Hand, in den Genuss einer Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 RBStV zu gelangen. Dies unterscheidet sie von derjenigen, deren Bedürftigkeit von dem Katalog des § 4 Abs. 1 RBStV nicht erfasst wird. Entsprechende Bemühungen, staatliche Sozialleistungen zu erlangen, sind dem Betroffenen regelmäßig auch zuzumuten.
12Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.01.2020 - 4 LA 286/19 -, juris Rn. 5; Bay.VGH, Beschluss vom 20. Januar 2020 - 7 ZB 19.1474 -, juris Rn. 5; VG Würzburg, Urteil vom 3. Februar 2020 - W.K17.767 -, juris Rn. 70 ff.; VG Köln, Urteil vom 16. März 2020 - 17 K 3856/18 -, juris Rn. 26; Dau, juris PR-SozR 14/2020 Anm. 5 C a. E.; Bronner, juris PR-ITR 6/2020 Anm. 5 D.
13Im vorliegenden Klageverfahren erscheint allerdings im Besonderen überprüfungsbedürftig, ob hier nicht anderes gelten muss, weil der Kläger mit der Antragstellung „Negativbescheinigungen“ der Stadt E. vom 29. Mai 2018 vorgelegt hat, die bestätigen, dass er aufgrund seiner Einkommenssituation einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII gehabt hätte. Dies gilt gerade auch mit Blick auf die Regelung des § 4 Abs. 6 Satz 2 RBStV. Schließlich ist der in der Bescheinigung getroffenen Feststellung eine Prüfung der Hilfsbedürftigkeit des Klägers vorausgegangen; warum die Sozialbehörde als zuständige Bewilligungsbehörde hier eine fehlerhafte oder nur oberflächliche Beurteilung abgegeben haben könnte, erschließt sich nicht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die bescheidgebundene Befreiungsmöglichkeit deshalb geschaffen wurde, um dem Beklagten durch Einschaltung der für die Feststellung der Bedürftigkeit fachkundigen Behörden eigene aufwändige Prüfungen zu entlasten. Eine solche Feststellung liegt hier indes für den fraglichen Zeitraum vor. Hinzu kommt, dass der Beklagte die von derselben Behörde ausgestellten Berechnungen für die Jahre 2017 und 2018, die (erstmals) ein das Grundsicherungsniveau geringfügig übersteigendes Einkommen des Klägers auswiesen, ohne Einschränkung akzeptiert hat. Angesichts dessen erscheint es mindestens schwer zu rechtfertigen, den Kläger bei nachgewiesenem noch geringeren Einkommen in den Vorjahren allein mit dem formalen Argument, er habe Grundsicherung beantragen können (und wäre – bei besserer Einkommenslage - dann befreit worden), von der Befreiung auszuschließen. Dabei dürfte auch zu berücksichtigen sein, dass der Kläger mit seinem Befreiungsantrag auf die erst seit dem 1. Januar 2018 bestehende Möglichkeit einer rückwirkenden Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht reagiert hat, eine rückwirkende Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung aber grundsätzlich nicht in Betracht kommt.
14Die Klärung näherer Einzelheiten zur Berücksichtigungsfähigkeit der Negativbescheinigungen sind dem Klageverfahren vorzubehalten. Dies gilt gerade mit Blick auf die Beschränkung der Prüfung der Erfolgsaussichten auf eine hinreichende Aussicht sowie auf den Umstand, dass die in Rede stehenden Beträge nicht den Verdacht aufkommen lassen, der Kläger verfüge tatsächlich über andere, nicht offengelegte Einnahmequellen, zumal sich den lückenlos vorliegenden Bescheinigungen eine praktisch gleichbleibende Einkommenslage entnehmen lässt.
15Vgl. dazu auch: OVG NRW, Beschlüsse vom 17. September 2020 – 2 E 339/20 -, juris, und vom 25. Februar 2020 - 2 E 941/19 -; VG Cottbus, Urteil vom 30. Januar 2020 - 6 K 1565/18 -, juris Rn. 53, das eine Möglichkeit, eine Befreiungsvoraussetzung zu schaffen, darin sieht, einen Antrag bei dem zuständigen Sozialträger zu stellen, aber zugleich auf die Inanspruchnahme (aus persönlichen Gründen) der Leistung zu verzichtet; insoweit ablehnend: VG Kassel, Urteil vom 8. Juni 2020 - 1 K 2978/18.KS -, juris.
16Ausgehend von hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage war dem Kläger – ungeachtet der Fragen, die sich hier z. B. hinsichtlich der aus dem Rubrum des zugestellten Beschlusses ersichtlichen Besetzung des Gerichts ergeben könnten - Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Von der Beiordnung eines Rechtsanwalts hat der Senat abgesehen, weil der Kläger (noch) keinen vertretungsbereiten Rechtsanwalt benannt hat. Eine anwaltliche Vertretung erschiene hier ggf. jedoch zur sachangemessenen Aufarbeitung der angesprochenen ungeklärten tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen nach Maßgabe des § 166 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO im Rahmen der bewilligten Prozesskostenhilfe ohne weiteres möglich.
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Referenzen
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- § 4 Abs. 1 RBStV 1x (nicht zugeordnet)
- 6 K 1565/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 1 RBStV 4x (nicht zugeordnet)
- 2 E 941/19 1x (nicht zugeordnet)
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- 17 K 3856/18 1x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 1152/02 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 6 Satz 2 RBStV 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- 4 LA 286/19 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 152 1x
- § 4 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 RBStV 1x (nicht zugeordnet)
- 1 K 2978/18 1x (nicht zugeordnet)
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