Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 11 A 115/20
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 21. April 2016 und sein Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2017 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Rücknahme der der Klägerin ausgestellten Spätaussiedlerbescheinigung.
3Die am 8. Januar 1964 in U. in der Russischen Föderation geborene Klägerin hatte am 28. Juli 1993 erstmals ihre Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz beantragt; diesen Antrag hatte das Bundesverwaltungsamt mit Bescheid vom 16. September 1994 und Widerspruchsbescheid vom 25. März 1997 bestandskräftig abgelehnt.
4Ausweislich der von der Stadt T. geführten Ausländerakte reiste die Klägerin am 2. Juli 2005 nach Deutschland ein, heiratete am 4. August 2005 in T. Herrn S. X. und meldete sich rückwirkend zum 2. Juli 2005 in der Wohnung des Herrn X. in T. an. Auf ihren entsprechenden Antrag erhielt die Klägerin eine vom 1. September 2005 bis 31. August 2006 gültige Aufenthaltserlaubnis. Im August 2006 beantragte sie deren Verlängerung. Seit dem 25. April 2006 nahm sie an einem Integrationskurs teil. Ferner war sie ab dem 1. Februar 2006 in Teilzeit als Küchenhilfe beschäftigt. Aufgrund eines anonymen Hinweises wurde gegen die Klägerin und Herrn X. wegen des Verdachts des Eingehens einer Scheinehe zwecks Erschleichens eines Aufenthaltstitels ermittelt. Mit Strafbefehl vom 4. September 2009 wurde deswegen gegen die Klägerin eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen wegen gemeinschaftlichen Erschleichens eines Aufenthaltstitels in zwei Fällen, in einem Fall mit Urkundenfälschung, verhängt. Die Klägerin kehrte am 9. September 2006 in die Russische Föderation zurück.
5Am 9. September 2011 stellte die Klägerin erneut einen Aufnahmeantrag. Im Aufnahmeantragsformular gab sie u. a. an, sie sei vom 4. August 2005 bis 22. Januar 2007 mit dem Deutschen „S1. “ G. X1. X. verheiratet gewesen. Sie habe von 1971 bis 2011 stets in U. gewohnt und sei dort seit 1983 in verschiedenen Berufen erwerbstätig gewesen. In den Jahren 1999, 2000, 2004, 2005 und 2009 sei sie zu Besuch in Deutschland gewesen. Weiter legte sie ein Zertifikat Deutsch vor, das am 28. September 2006 von der Volkshochschule T. ausgestellt wurde.
6Unter dem 1. April 2014 erteilte das Bundesverwaltungsamt der Klägerin den beantragten Aufnahmebescheid. Die Klägerin reiste am 12. Dezember 2015 nach Deutschland ein und wurde am 15. Dezember 2015 registriert. Anlässlich der Registrierung legte sie ein am 22. Januar 2007 verkündetes Urteil des Amtsgerichts T. vor, mit dem ihre Ehe mit Herrn X. geschieden wurde. Im Rubrum dieses Urteils ist für Herrn X. eine Adresse in T. angegeben, für die Klägerin die Adresse ihrer Mutter O. G1. in T. .
7Unter dem 6. Januar 2016 stellte das Bundesverwaltungsamt der Klägerin eine Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG aus.
8Mit Bescheid vom 21. April 2016 nahm das Bundesverwaltungsamt die Spätaussiedlerbescheinigung mit Wirkung für die Vergangenheit unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zurück, erklärte die Namenserklärung gemäß § 94 BVFG für ungültig, nahm die Integrationsbescheinigung zurück und forderte Rückführungskosten von 102 Euro und das Betreuungsgeld von 11 Euro zurück. Zur Begründung führte das Bundesverwaltungsamt aus: Die für die Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung wesentlichen Angaben seien unrichtig gewesen. Der Einreise ins Bundesgebiet sei bereits eine Wohnsitznahme in Deutschland vom 2. Juli 2005 bis September 2006 vorausgegangen. Damit habe die Klägerin keinen durchgängigen Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet; sie sei deshalb keine Spätaussiedlerin und könne die Spätaussiedlereigenschaft nicht mehr erwerben. Bei dieser Sachlage könne die Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 4 BVFG zurückgenommen werden. Die Klägerin habe hinsichtlich ihres durchgängigen Wohnsitzes im Aussiedlungsgebiet vorsätzlich unrichtige bzw. unvollständige Angaben gemacht und damit die Rechtswidrigkeit selbst bewirkt. Diese Angaben seien für die Ausstellung der Bescheinigung kausal gewesen. Ihr sei durch das Merkblatt zum Aufnahmeantrag die Bedeutung des Wohnsitzes im Herkunftsgebiet bekannt gewesen.
9Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 18. Mai 2016 Widerspruch, zu dessen Begründung sie insbesondere geltend machte, ihren Wohnsitz im Rechtssinne damals nicht nach Deutschland verlegt und dementsprechend keine falschen Angaben gemacht zu haben; zudem habe sie die Bedeutung des durchgängigen Wohnsitzes im Herkunftsgebiet nicht gekannt. Dem Bundesverwaltungsamt sei entgegen zu halten, dass es unzureichend ermittelt habe.
10Einen von der Klägerin gestellten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs lehnte das Verwaltungsgericht Köln mit Beschluss vom 5. September 2016 - 10 L 1382/16 - ab. Auf die Beschwerde der Klägerin stellte der erkennende Senat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs mit Beschluss vom 28. November 2016 - 11 B 1123/16 – wieder her.
11Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2017 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung wiederholte und vertiefte es im Kern seine Auffassung, dass die Klägerin durch Verschweigen ihrer Wohnsitzbegründung in Deutschland vorsätzlich unrichtige Angaben getätigt bzw. eine arglistige Täuschung begangen habe.
12Am 18. Februar 2017 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie hat auf ihre Widerspruchsbegründung und den Vortrag im Eilverfahren verwiesen und hervorgehoben, dass sie im Registrierverfahren anlasslos das deutsche Ehescheidungsurteil vorgelegt habe, nach dessen Inhalt ihre am 4. August 2005 mit dem Deutschen S. X. eingegangene Ehe geschieden worden sei. Für die Beklagte hätte dies Anlass sein müssen, Aufenthaltszeiten in Deutschland zu prüfen. Die Spätaussiedlerbescheinigung sei jedoch ohne weitere Nachfragen ausgestellt worden. Sie habe keine falschen Angaben gemacht, denn sie habe nach der Eheschließung ihre Wohnung im Herkunftsgebiet beibehalten und sich aus ihrem Arbeitsverhältnis lediglich beurlauben lassen.
13Die Klägerin hat beantragt,
14den Bescheid der Beklagten vom 21. April 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2017 aufzuheben.
15Die Beklagte hat beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Sie hat weiterhin die Auffassung vertreten, dass die Klägerin vorsätzlich unrichtige bzw. unvollständige Angaben im Hinblick auf ihre in den Jahren 2005 und 2006 bestehende Wohnsitznahme im Bundesgebiet gemacht habe.
18Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 4. Dezember 2019 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen der Spätaussiedlereigenschaft nicht, weil sie ihren Wohnsitz in U. /Russland aufgrund ihrer Wohnsitznahme im Bundesgebiet vom 2. Juli 2005 bis September 2006 aufgegeben habe. Das Bundesverwaltungsamt habe die der Klägerin ausgestellte Spätaussiedlerbescheinigung zu Recht zurückgenommen. Über den Umstand, dass der Wohnsitz aufgegeben worden sei, habe die Klägerin jedenfalls vorsätzlich unvollständige bzw. unrichtige Angaben gemacht und auf diese Weise die Ausstellung der Bescheinigung erwirkt.
19Zur Begründung ihrer mit Beschluss des Senats vom 2. Juni 2021 zugelassenen Berufung trägt die Klägerin vor: Im Rahmen der Registrierung bzw. der Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung seien überhaupt keine Angaben zu früheren Aufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland verlangt worden. Die Angaben im Bescheinigungsverfahren zum Wohnsitz vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets seien richtig gewesen. Den Aufnahmebescheid habe die Beklagte aber nicht angegriffen. § 15 BVFG setze einen durchgängigen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten nicht voraus. Die Klägerin habe auch im Aufnahmeverfahren keine vorsätzlich falschen Angaben gemacht. Sie habe in Deutschland keinen Wohnsitz im Zusammenhang mit der Eheschließung mit Herrn X. begründet und es habe sich nicht um eine Scheinehe gehandelt. Über die Qualität der Ehe hätten die Gerichte nicht zu urteilen. Sie habe ihren Wohnsitz in Russland beibehalten, wie sich aus der Tatsache der mehrmonatigen Rückkehr nach Russland ergebe. Sie habe ihre Wohnung in Russland entgegen ihrer ursprünglichen Absicht nicht aufgegeben, weil es bereits kurz nach der Eheschließung zu Differenzen mit dem Ehemann gekommen sei. In diese Wohnung sei sie dann nach ihrer Rückkehr nach Russland auch wieder eingezogen. 2005 sei sie mit einem Besuchsvisum eingereist. In ihrer Laiensphäre habe sie davon ausgehen dürfen, immer einen Wohnsitz in Russland gehabt zu haben. Im Registrierverfahren habe sie anlasslos das Scheidungsurteil hinsichtlich der geschiedenen Ehe mit Herrn X. vorgelegt. Hätte sie vorsätzlich falsche Angaben machen oder die Verwaltung arglistig täuschen und einen früheren Aufenthalt in Deutschland vertuschen wollen, hätte sie die Ehe im Aufnahmeantragsformular nicht erwähnt und das Scheidungsurteil nicht vorgelegt, um Nachforschungen im Hinblick auf ihren Aufenthalt in Deutschland zu vermeiden.
20Die Klägerin beantragt,
21das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 21. April 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2017 aufzuheben.
22Die Beklagte beantragt,
23die Berufung zurückzuweisen.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens, die Gerichtsakte im Eilverfahren 11 B 1123/16, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (2 Hefter) und die Ausländerakte der Stadt T. Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26Die Berufung hat Erfolg.
27Die Klage ist begründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 21. April 2016 und sein Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2017 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
28I. Die Rücknahme der Spätaussiedlerbescheinigung ist rechtswidrig.
291. Als Rechtsgrundlage für die in den angefochtenen Bescheiden verfügte Rücknahme der Spätaussiedlerbescheinigung kommt nur § 15 Abs. 4 BVFG in Betracht. Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 BVFG kann eine Bescheinigung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn sie durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung oder durch vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben, die wesentlich für ihre Ausstellung gewesen sind, erwirkt worden ist.
302. Die Vorschrift ist durch das am 11. Juli 2009 in Kraft getretene Achte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 6. Juli 2009 (BGBl. I S. 1694) in das Bundesvertriebenengesetz eingefügt worden. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber parallel zur Rücknahme von Einbürgerungen im Staatsangehörigkeitsgesetz (§ 35 StAG) die Befugnis einer rückwirkenden Aufhebung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG in das Gesetz aufgenommen. Die Möglichkeit zur Rücknahme einer solchen Bescheinigung mit Wirkung für die Vergangenheit sollte wegen Art. 16 Abs. 1 GG wie im Staatsangehörigkeitsrecht eingeschränkt werden. In der hierzu ergangenen Grundsatzentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht ausführlich dargelegt, dass das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot, die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, die Rücknahme „erschlichener oder auf vergleichbar vorwerfbare Weise erwirkter Einbürgerungen“ nicht ausschließt.
31Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 -, BVerfGE 116, 24 (36).
32In der Gesetzesbegründung ist dazu ausgeführt:
33„Da mit der Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 oder Abs. 2 die dort genannten Personen nach § 7 des Staatsangehörigkeitsgesetzes kraft Gesetzes zu deutschen Staatsangehörigen werden, entfällt mit der Rücknahme einer rechtswidrigen Bescheinigung für die Vergangenheit auch die auf diese Weise erworbene deutsche Staatsangehörigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 24. Mai 2006 (BVerfGE 116, 24) die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung für grundsätzlich mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar erklärt. Wenn durch die Rücknahme beim Betroffenen Staatenlosigkeit eintritt, liegt darin nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch kein Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. Im Falle einer zeitnahen Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst getäuscht hat, hielt das Bundesverfassungsgericht die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder für ausreichende Ermächtigungsgrundlagen. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf sah das Bundesverfassungsgericht allerdings im Hinblick auf die zeitliche Reichweite der Rücknahmemöglichkeit und Auswirkungen der Rücknahme auf die Staatsangehörigkeit Dritter.
34Vor diesem Hintergrund wird durch das Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 5. Februar 2009 (BGBl I S. 158) in § 35 Abs. 3 die Rücknahmemöglichkeit für staatsangehörigkeitsrechtliche Entscheidungen, die der Betroffene bewusst unredlich erwirkt hat und deren Fehlerhaftigkeit in seine Sphäre fallen, auf eine Frist von fünf Jahren nach Erlass des zurückzunehmenden Verwaltungsaktes begrenzt.“
35Vgl. BR-Drucks. 196/09, S. 7.
36Der gesetzgeberische Wille ist im Wortlaut des § 15 Abs. 4 Satz 1 BVFG ausdrücklich umgesetzt worden. Denn danach muss die Bescheinigung - z. B. durch vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben - „erwirkt“ worden sein. Ein „Erwirken“ setzt nach dem Wortsinn ein zielgerichtetes Handeln im Hinblick auf die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Angaben voraus. Der Vorsatz muss gerade dieses zielgerichtete Handeln umfassen.
37Die Strafvorschrift in § 98 BVFG greift – wie § 15 Abs. 4 Satz 1 BVFG – die Begriffe „unrichtige oder unvollständige Angaben“ auf. Nach dieser Vorschrift wird bestraft, wer unrichtige oder unvollständige Angaben tatsächlicher Art macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen Rechte oder Vergünstigungen, die Spätaussiedlern vorbehalten sind, zu „erschleichen“. Diesen Straftatbestand kann aber nur verwirklichen, wer durch seine vorsätzlich unrichtigen oder unvollständigen Angaben die Behörde zu einer fehlerhaften Entscheidung veranlasst.
38Vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juni 1990 - 4 StR 265/90 -, juris.
393. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Rücknahme der der Klägerin ausgestellten Spätaussiedlerbescheinigung nicht vor. Die Angaben der Klägerin im Aufnahmeverfahren sind allerdings auch im Bescheinigungsverfahren zu berücksichtigen (hierzu a.). Die Klägerin hat unrichtige und unvollständige Angaben zu ihrem Aufenthalt in den Jahren 2005 und 2006 in Deutschland gemacht (hierzu b.). Ob diese Angaben im Sinne des § 15 Abs. 4 Satz 1 BVFG wesentlich für die Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung waren, bleibt offen (hierzu c.). Die Klägerin hat die Spätaussiedlerbescheinigung durch diese Angaben nicht „erwirkt“ (hierzu d.). Zudem liegt ihrerseits kein „bewusst unredliches“ Verhalten vor (hierzu e.).
40a. Entgegen der Auffassung der Klägerin sind ihre im Aufnahmeverfahren gemachten Angaben entscheidungserheblich zu berücksichtigen, obwohl ihr der Aufnahmebescheid belassen und nur die das Bescheinigungsverfahren abschließende Spätaussiedlerbescheinigung zurückgenommen worden ist.
41Zwar sind das Aufnahmeverfahren und das Bescheinigungsverfahren selbständige Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG, die jeweils mit dem Erlass eines Verwaltungsakts abgeschlossen werden. Inhalt beider Verfahren ist jedoch die (zunächst vorläufige und sodann endgültige) Prüfung der Spätaussiedlereigenschaft des Antragstellers (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG einerseits und § 15 Abs. 1 Satz 1 BVFG andererseits). Die Verfahren sind daher so konzipiert, dass Angaben aus dem Aufnahmeverfahren auch im Bescheinigungsverfahren zu Grunde gelegt und nicht (inhaltsgleich) ein zweites Mal erhoben werden. So bestimmt § 15 Abs. 1 Satz 2 BVFG ausdrücklich, dass im Bescheinigungsverfahren eine Wiederholung des (im Aufnahmeverfahren geführten) Gesprächs im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 3 nicht stattfindet.
42b. Die Klägerin hat durch Angabe eines „Besuchs“ im Jahr 2005 unrichtige und im Übrigen zumindest unvollständige Angaben im Hinblick auf ihren Aufenthalt in den Jahren 2005 und 2006 in der Bundesrepublik Deutschland gemacht. Zwar hat sie die am 4. August 2005 mit dem deutschen Staatsangehörigen S1. X. geschlossene Ehe, die am 22. Januar 2007 geschieden wurde, im Rahmen der ergänzenden Angaben im Aufnahmeantragsformular erwähnt und vor der Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung das Scheidungsurteil des Amtsgerichts T. vom 22. Januar 2007 vorgelegt, durch das ihre Ehe mit Herrn X. geschieden wurde, ohne hierzu aufgefordert worden zu sein. Im Aufnahmeantragsformular hat sie jedoch zu ihren Aufenthalten im Bundesgebiet nur angegeben, „1999, 2000, 2004, 2005, 2009“ sei sie zu „Besuch“ hier gewesen. Dass sie sich – wenn auch mit längeren Unterbrechungen – von Juli 2005 bis September 2006 mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufgehalten hat, gegen sie ein Strafverfahren geführt worden und ein Strafbefehl wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels gegen sie ergangen ist, hat sie hingegen nicht angegeben. Zudem hat sie ihre förmliche Anmeldung unter der Adresse ihres damaligen Ehemannes, ihre Erwerbstätigkeit in Deutschland und die zumindest zeitweilige Teilnahme an einem Integrationskurs verschwiegen.
43c. Der Senat lässt offen, ob die unrichtigen und unvollständigen Angaben im Sinne des § 15 Abs. 4 Satz 1 BVFG wesentlich für die Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung waren.
44Entgegen der Auffassung der Klägerin sind Angaben zum Wohnsitz allerdings wesentlich für die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird die Bescheinigung nur „Spätaussiedlern“ ausgestellt. Voraussetzung der Spätaussiedlereigenschaft ist für die im Jahr 1964 und damit nach den in § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVFG genannten Stichtagen geborene Klägerin gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG u. a., dass sie vor dem Verlassen der ehemaligen Sowjetunion seit ihrer Geburt ihren Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Die Spätaussiedlereigenschaft wird daher nicht erworben, wenn die Klägerin vor ihrer Übersiedlung ihren Wohnsitz bereits vorübergehend in Deutschland hatte.
45Ob die Klägerin von Juli 2005 bis September 2006 einen Wohnsitz im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG in Deutschland begründet hatte, bedarf vorliegend jedoch keiner Entscheidung.
46d. Die Klägerin hat ihre Spätaussiedlerbescheinigung durch die unrichtigen und unvollständigen Angaben nicht „erwirkt“.
47Ein „Erwirken“ der Spätaussiedlerbescheinigung ergibt sich nicht schon daraus, dass das Bundesverwaltungsamt auf der Basis der unrichtigen und unvollständigen Angaben die Bescheinigung ausgestellt hat. Vielmehr muss - wie oben dargelegt - ein zielgerichtetes Verhalten der Klägerin in dem Sinne hinzukommen, dass sie durch die unrichtigen und unvollständigen Angaben die mit der Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung verbundene Einbürgerung gemäß § 7 StAG erschlichen hat.
48Ein derart zielgerichtetes Handeln der Klägerin ist den Akten nicht zu entnehmen.
49Die Klägerin hat im Laufe des Verwaltungsverfahrens mehrere eindeutige Hinweise gegeben, die auf einen längeren Aufenthalt und damit einen Wohnsitz in Deutschland in den Jahren 2005 und 2006 hindeuteten. Unabhängig von der – nicht entscheidungserheblichen – Frage, ob das Bundesverwaltungsamt auf Grund dieser Hinweise den Sachverhalt im Hinblick auf einen Aufenthalt der Klägerin in Deutschland weiter hätte ermitteln können oder müssen, kann jedenfalls aus der – maßgeblichen – Sicht der Klägerin nicht angenommen werden, dass sie die Spätaussiedlerbescheinigung durch unrichtige und unvollständige Angaben über ihren Aufenthalt in Deutschland zielgerichtet „erwirkt“ hat, wenn sie eindeutige Hinweise auf einen früheren längeren Aufenthalt in Deutschland gibt.
50Hätte die Klägerin ihre Spätaussiedlerbescheinigung durch unrichtige und unvollständige Angaben zielgerichtet „erwirken“ wollen, hätte sie jeden Hinweis auf einen längeren Aufenthalt in Deutschland vermieden, der das Bundesverwaltungsamt zu weiteren Ermittlungen in diese Richtung hätte veranlassen können. Das hat sie nicht getan. Im Gegenteil ergaben sich aus ihren Angaben im Aufnahmeverfahren, mit einem Deutschen verheiratet gewesen zu sein, und vor allem aus dem bei der Registrierung von ihr vorgelegten Scheidungsurteil eindeutige Hinweise auf ihren längeren Aufenthalt in Deutschland. Für beide Ehepartner war im Rubrum des Urteils eine Adresse in Deutschland angegeben; zudem ist die Scheidung von einem deutschen Amtsgericht ausgesprochen worden. Auch das von der Klägerin vorgelegte Sprachzertifikat mit dem Datum 28. September 2006, das eine Unterschrift der Volkshochschule T. trägt, ließ vermuten, dass die Klägerin sich möglicherweise längerfristig und nicht nur zu Besuch in Deutschland aufgehalten hatte.
51e. Unabhängig davon ist nicht erkennbar, dass die Klägerin ihre unrichtigen und unvollständigen Angaben vorsätzlich, mithin „bewusst unredlich“ im Hinblick darauf gemacht hat, das Bundesverwaltungsamt gerade durch fehlende Angaben in Bezug auf ihren Aufenthalt in Deutschland in den Jahren 2005 und 2006 zur Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung zu veranlassen. Dabei mag offenbleiben, ob die Klägerin aus ihrer Laiensphäre heraus – wie sie behauptet – davon ausgegangen ist oder ausgehen konnte, in dieser Zeit keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in Deutschland begründet zu haben.
52Da sie insbesondere durch Vorlage des Scheidungsurteils zumindest mittelbar auf diesen Aufenthalt hingewiesen hat, hat sie nicht bewusst und gewollt das Bundesverwaltungsamt über diesen Sachverhalt getäuscht, sondern musste damit rechnen, dass die aus dem Scheidungsurteil ersichtlichen Daten ausgewertet, überprüft und bei der Entscheidung über die Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung berücksichtigt werden. Dass dies nicht geschah, fällt nicht in ihre Sphäre.
53Für die Frage eines „bewusst unredlichen“ Verhaltens ist ferner unerheblich, dass die Klägerin den gegen sie ergangenen Strafbefehl verschwiegen hat. Gegenstand des Strafbefehlsverfahrens war die Erschleichung eines Aufenthaltstitels, nachdem die Klägerin mit einem Besuchsvisum nach Deutschland eingereist war, sowie eine Urkundenfälschung. Es ging hier hingegen nicht um die vertriebenenrechtliche Bedeutung ihres Aufenthalts und auch nicht um die Frage, ob sie ihren Wohnsitz im Rechtssinne in dieser Zeit in Deutschland hatte.
54II. Aus der Rechtswidrigkeit der Rücknahme der Spätaussiedlerbescheinigung folgt gleichzeitig, dass die im Bescheid vom 21. April 2016 verfügte Ungültigkeit der Namenserklärung, die Rücknahme der Integrationsbescheinigung sowie die Rückforderung der Rückführungskosten und des Betreuungsgeldes rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen.
55Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
56Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2 und 711 Satz 1 ZPO.
57Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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