Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 1 A 3350/20.A
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
1
G r ü n d e
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist weder wegen des geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (dazu 1.) noch eines Verfahrensmangels (dazu 2.) zuzulassen.
41. Die Berufung ist zunächst nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.
5Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2020– 1 A 1854/19.A –, juris, Rn. 3 f. m. w. N.
7Eine Grundsatzrüge, die sich auf tatsächliche Verhältnisse stützt, erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2020– 1 A 1854/19.A –, juris, Rn. 5.
9Die von der Klägerin als grundsätzlich bedeutsam angesehene Frage,
10ob eine Ausreise aus China auf dem Luftweg mit dem eigenen Pass ein starkes Indiz gegen eine drohende Verfolgung darstellt,
11rechtfertigt nicht die begehrte Zulassung der Berufung.
12Das Zulassungsvorbringen zeigt schon die über den Einzelfall hinausgehende Klärungsfähigkeit der Frage nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat nicht generell angenommen, dass die chinesischen Behörden Ausreisen über die Flughäfen lückenlos oder vollständig überprüfen würden. Die Wertung, die Ausreise der Klägerin über einen offiziellen Grenzübertritt mit einem ihr noch im März 2015 ausgestellten Reisepass spreche gegen eine Vorverfolgung, beruht auf der – den Einzelfall betreffenden – Annahme, die Klägerin habe die Ausreise (trotz der Gefahr einer Kontrolle) auf diese Weise ohne Bedenken durchgeführt.
13Im Übrigen ist geklärt, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) dadurch gekennzeichnet ist, dass dem Tatrichter keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner zum Prozessstoff gehörender Beweismittel, Erklärungen und Indizien bei der von ihm verlangten individuellen Würdigung des konkret vorliegenden Sachverhalts vorgegeben werden. Es obliegt dem Tatrichter, den Aussage- und Beweiswert der verschiedenen Bestandteile des tatsächlichen Prozessstoffes nach ihrer inneren Überzeugungskraft zu gewichten. Seine subjektive Priorisierung erfolgt nicht nach heteronomen Maßstäben, sondern nur nach der dem Prozessstoff selbst innewohnenden Überzeugung. Dabei ist der Tatrichter lediglich durch gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze, unumstrittene Geschichtstatsachen oder die Denkgesetze (Logik) begrenzt.
14Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Mai 2019 – 1 C 11.18 –, juris, Rn. 27; Bay. VGH, Beschluss vom 20. Januar 2020 – 9 ZB 20.30060 –, juris, Rn. 13; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 108, Rn. 19; Bamberger, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 108 Rn. 4.
152. Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel der Versagung rechtlichen Gehörs nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
16Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können und mit ihren Ausführungen und Anträgen durch das Gericht gehört werden. Das Gericht ist jedoch nicht verpflichtet, den Ausführungen eines Beteiligten in der Sache zu folgen. Die Gehörsrüge ist daher nicht geeignet, eine – vermeintlich – fehlerhafte Feststellung oder Bewertung des Sachverhalts einschließlich seiner rechtlichen Würdigung zu beanstanden. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann vielmehr nur dann erfolgreich geltend gemacht werden, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht seiner Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist dabei davon auszugehen, dass die Gerichte von ihnen entgegengenommenes Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Dies gilt unabhängig davon, ob sie sich in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich hiermit auseinandersetzen. Aus einem Schweigen der Entscheidungsgründe zu Einzelheiten des Prozessstoffs allein kann deshalb noch nicht der Schluss gezogen werden, das Gericht habe diese nicht beachtet und erwogen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann daher nur dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen der Beteiligten bei seiner Entscheidungsfindung nicht in Erwägung gezogen hat.
17Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 23. April 2020– 1 A 2023/19.A –, juris, Rn. 13, vom 25. Juli 2017– 1 A 1436/17.A –, juris, Rn. 3, und vom 16. Dezember 2016 – 1 A 2199/16.A –, juris, Rn. 14.
18Ferner muss der übergangene Vortrag nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich gewesen sein. Dies setzt voraus, dass das Verwaltungsgericht zu einem anderen, für den Rechtsmittelführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn es den übergangenen Vortrag berücksichtigt hätte.
19Vgl. Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138, Rn. 116 f.
20Ausgehend von diesen Grundsätzen kann eine Gehörsverletzung nicht festgestellt werden.
21a) Dies gilt zunächst für die Rüge, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, die Klägerin sei bedenkenlos ausgereist, obwohl sie in der Anhörung ausgeführt habe, sie hätte bei der Ausreise Sorge gehabt und gebetet. Sie habe aber das Risiko auf sich nehmen müssen. Sie habe auch gehört, dass in Hongkong nicht so streng kontrolliert werde.
22Das Verwaltungsgericht hat diesen Vortrag zunächst in den Tatbestand aufgenommen (Urteilsabdruck, S. 5). Selbst wenn man dennoch aus der Formulierung des Urteils „Gleichwohl hat die Klägerin die Ausreise auf diese Weise bedenkenlos durchgeführt“ (Urteilsabdruck, S. 13) schließen wollte, das Verwaltungsgericht habe diesen Vortrag der Klägerin in den Entscheidungsgründen übergangen, wäre dies nicht entscheidungserheblich. Die Wertung des Verwaltungsgerichts, das Vorbringen der Klägerin zu ihrer Verfolgung sei nicht glaubhaft, wird nämlich noch von weiteren– selbstständigen – Gründen getragen, die durch das Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt werden. So hat das Verwaltungsgericht seine Einschätzung auch darauf gestützt, dass die Klägerin keinen plausiblen Grund für das behauptete „Untertauchen“ innerhalb Chinas habe vermitteln können (Urteilsabdruck, S. 13). Auch der Zeitpunkt sei ungewiss geblieben. Der Eindruck, es handele sich um eine erfundene Geschichte, werde schließlich noch dadurch abgerundet, dass die Schilderung der Klägerin zu den Ereignissen um das „Auffliegen“ der Hauskirche in O. im August 2014, weil fernliegend, wenig für sich habe (Urteilsabdruck, S. 14). Es bleibe auch unerklärlich, wie die Klägerin im März 2015 dänischen Behörden die erforderliche Sicherung ihres Lebensunterhalts und die Rückkehrbereitschaft nach China, die bei der Erteilung eines Schengen-Visums regelmäßig geprüft würden, nachgewiesen habe wolle, wenn sie seit Juni 2013 nicht mehr über Einkünfte verfügt habe (Urteilsabdruck, S. 15).
23b) Das Verwaltungsgericht hat auch den Vortrag der Klägerin berücksichtigt, der Leiter der Hauskirche habe eine Liste mit Namen und Anschriften der Mitglieder auf einer SD-Karte hinterlegt (Urteilsabdruck, S. 14 f.). Dass es diesen Vortrag aus Sicht der Klägerin unzutreffend gewürdigt hat, begründet keine Gehörsverletzung.
24c) Anders als die Klägerin meint hat das Verwaltungsgericht sich hinreichend mit ihrem Vortrag auseinandergesetzt, sie sei bereits seit 2015 bei der Kirche des allmächtigen Gottes aktiv. Das Verwaltungsgericht hat diesen Vortrag gesehen, ihn der Klägerin aber deshalb nicht abgenommen, weil ihre Glaubwürdigkeit schon mit Blick darauf, dass das behauptete Verfolgungsgeschehen in der Volksrepublik China für frei erfunden gehalten werde, nachhaltig erschüttert sei. Zum anderen genüge der Vortrag dazu, warum sie zu einer anderen Kirche gewechselt sei, auch nicht den Anforderungen, die an diesen zu stellen wären, wenn die Klägerin tatsächlich ein derart überzeugtes Hauskirchenmitglied gewesen wäre, dass sie sich deswegen in China mehr als ein Jahr versteckt gehalten habe. Die im Vorfeld vorgelegte Bescheinigung hat das Verwaltungsgericht dabei ausdrücklich zur Kenntnis genommen und in den Entscheidungsgründen gewürdigt (Urteilsabdruck, S. 16).
25In der Sache wendet sich die Klägerin mit ihrer Rüge gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Ob das Verwaltungsgericht dem Vortrag eines Klägers und den von ihm beigebrachten Unterlagen die richtige Bedeutung zugemessen und die richtigen Folgerungen daraus gezogen hat, ist indes keine Frage des rechtlichen Gehörs, sondern der Tatsachen- und Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO.
26Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Dezember 1969– 2 BvR 320.69 –, juris, Rn. 9, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 1 A 1436/17.A –, juris, Rn. 28 ff.
27Etwaige Fehler bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung gehören grundsätzlich nicht zu den in § 138 VwGO genannten und in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG in Bezug genommenen Verfahrensfehlern.
28Vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995– 9 B 710.94 –, juris, Rn. 4 ff.
29Ob ausnahmsweise etwas anderes zu gelten hat, wenn die die angegriffene Entscheidung tragenden Ausführungen des Gerichts handgreiflich von objektiver Willkür geprägt sind, kann hier offen bleiben.
30Zu der Frage, ob eine solche Ausnahme anerkannt werden kann, vgl. den Senatsbeschluss vom 16. Dezember 2016 – 1 A 2199/16. A –, juris, Rn. 33 bis 36, m. w. N. zum Meinungsstand.
31Ein solcher Ausnahmefall lässt sich dem Zulassungsvorbringen nicht entnehmen.
32d) Die Klägerin dringt ferner mit ihrem Vortrag nicht durch, das Verwaltungsgericht habe durch das Unterlassen einer Nachfrage zur Möglichkeit eines Umzugs in dem Hukou-System seine Ausklärungspflicht verletzt.
33Mögliche Verstöße gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO gehören nicht zu den vom Gesetzgeber als besonders schwerwiegend eingestuften Verfahrensfehlern, die in § 138 VwGO aufgeführt sind. Ein Aufklärungsmangel begründet auch grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehört er zu den sonstigen Verfahrensmängeln i. S. d. § 138 VwGO.
34Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83b AsylG.
35Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
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