Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 4 E 816/21
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7.9.2021 geändert:
Dem Kläger wird für das Klageverfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe bewilligt.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1
Gründe:
2Die Beschwerde hat Erfolg.
3Der Kläger kann nach den dargelegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der erstinstanzlichen Prozessführung nicht aufbringen (vgl. § 166 VwGO i. V. m. § 115 ZPO). Die Rechtsverfolgung erscheint auch nicht mutwillig und bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
4Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG und an Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe versagt werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsschutzbegehrens darf dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsache-verfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Schwierige, bislang nicht hinreichend geklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren geklärt werden.
5Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13.3.1990 – 2 BvR 94/88 –, BVerfGE 81, 347 = juris, Rn. 26 ff., und vom 2.5.2016 – 2 BvR 1267/15 –, juris, Rn. 10.
6Ausgehend davon ist es noch hinreichend wahrscheinlich, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung einer Ausübungsberechtigung gemäß § 7b HwO zustehen und sich der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 26.2.2021 letztlich als rechtswidrig erweisen könnte (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
7Nach § 7b Abs. 1 Nr. 2 HwO erhält eine Ausübungsberechtigung für zulassungspflichtige Handwerke, wer ‒ unter anderem ‒ in dem zu betreibenden zulassungspflichtigen Handwerk eine Tätigkeit von insgesamt sechs Jahren ausgeübt hat, davon insgesamt vier Jahre in leitender Stellung. Nach Satz 2 der Nr. 2 ist eine leitende Stellung dann anzunehmen, wenn dem Gesellen eigenverantwortliche Entscheidungsbefugnisse in einem Betrieb oder in einem wesentlichen Betriebsteil übertragen worden sind. Der Nachweis hierüber kann nach Satz 3 der Nr. 2 durch Arbeitszeugnisse, Stellenbeschreibungen oder in anderer Weise erbracht werden.
8Ausgehend von den in den Gesetzgebungsmaterialien festgehaltenen Vorstellungen des Gesetzgebers werden die Voraussetzungen des § 7b Abs. 1 Nr. 2 HwO nicht schon von jedem berufserfahrenen Gesellen erfüllt, der in verantwortlicher oder auch herausgehobener Stellung Tätigkeiten ausführt. Um den Voraussetzungen des § 7b Abs. 1 Nr. 2 HwO zu genügen, muss sich die Tätigkeit des Gesellen vielmehr von den Tätigkeiten idealtypischer Durchschnittsgesellen und anderer betrieblicher Mitarbeiter qualitativ deutlich unterscheiden; der Geselle muss in „qualifizierter Funktion" leitend tätig sein. Diese Funktion muss zumindest auch im fachlich-technischen Bereich des Betriebs ausgeübt worden sein. Denn wesentliches Ziel der in § 7b Abs. 1 HwO normierten Voraussetzungen für die Erteilung der Ausübungsberechtigung ist es, aufgrund unsachgemäßer Ausübung eines Handwerks entstehende Gefahren für Gesundheit oder Leben Dritter zu vermeiden, wie sie insbesondere bei mangelnden Kenntnissen und Fertigkeiten im fachlich-technischen Bereich zu besorgen sind.
9Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24.1.2020 ‒ 4 E 451/19 ‒, juris, Rn. 7 f., m. w. N.
10Damit können auch berufserfahrene Gesellen („Altgesellen") die Eintragung in die Handwerksrolle über § 7b HwO erreichen. Dieser Ausnahmemöglichkeit kommt besondere Bedeutung zu, weil die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Berufswahlfreiheit durch die Regeln der Handwerksordnung über sie erreicht werden kann. Dementsprechend soll von der Erteilung einer Ausnahmebewilligung „nicht engherzig" Gebrauch gemacht werden. Eine „großzügige Praxis" kommt dem Ziel des Gesetzes entgegen, die Schicht leistungsfähiger selbständiger Handwerkerexistenzen zu vergrößern.
11Vgl. BVerfG, Beschluss vom 5.12.2005 ‒ 1 BvR 1730/02 ‒, juris, Rn. 24 ff.
12Diesen auch vom Verwaltungsgericht herangezogenen Maßstäben folgend erscheint es in Auswertung der vom Antragsteller vorgelegten Bescheinigungen und Arbeitszeugnisse vom 16.11.2020, 3.3.2021, 9.7.2012 und vom 30.6.2015 sowie der weiter vorgelegten Unterlagen möglich, dass er als Elektroniker für Betriebstechnik mit Bauleitertätigkeiten in der Zeit zwischen dem 3.11.2008 und dem 30.6.2015 eine derartige qualifizierte leitende Funktion über einen Zeitraum von insgesamt (mehr als) vier Jahren innegehabt hat.
13In den vorgelegten Bescheinigungen vom 16.11.2020 haben ihm die jeweiligen Arbeitgeber, die Firma C. B. GmbH für die Zeit vom 19.11.2012 bis zum 30.6.2015 sowie die Firma z GmbH für die Zeit vom 3.11.2008 bis zum 9.7.2012 bestätigt, dass er als Bauleiter bzw. Elektroniker für Betriebstechnik/Bauleiter in ihren Unternehmen beschäftigt war. Im Arbeitszeugnis der Firma C. B. GmbH vom 30.6.2015 wird erläutert, dass der Kläger „als Bauleiter eigenverantwortlich für die Durchführung von Projekten zuständig“ war, „zu seinen Aufgaben gehörten die Elektroinstallation von Maschinen und Anlagen sowie das Durchführen entsprechender Prüfungen und Messungen unter Berücksichtigung der entsprechenden Vorschriften“. Laut Arbeitszeugnis der Firma z. GmbH vom 9.7.2012 war der Kläger als Elektroniker für Betriebstechnik tätig. Zu seinen Aufgaben habe u. a. die Installation und Bauleitung von Photovoltaikanlagen gehört.
14Zwar ergibt sich allein aus der Angabe, der Kläger sei als Bauleiter tätig gewesen, noch nicht, ob und wenn ja, über welche Zeiträume, er in „qualifizierter Funktion" eine verantwortliche oder herausgehobene leitende Stellung in den entsprechenden Firmen innegehabt haben könnte. Auch die Ausführungen in dem Zeugnis der Firma C. B. GmbH, der Kläger sei eigenverantwortlich für die Durchführung von Projekten zuständig gewesen, sind angesichts der im Folgesatz beschriebenen konkreten Aufgaben insoweit für sich genommen unzureichend. Indes ist derzeit zwischen den Beteiligten streitig, ob die früheren Arbeitgeber des Klägers mit der Verwendung des Begriffs „Bauleiter“ eine derartige herausgehobene Stellung in ihrem Unternehmen als selbstverständlich vorausgesetzt haben, so der Kläger, oder ob sie mit der bisher zu wenig konkreten Tätigkeitsbeschreibung darauf hingewiesen haben könnten, dass die Stellung als „Bauleiter“ noch keine dauerhaft übertragenen besonders herausgehobenen Verantwortlichkeiten umfasst, so im Ergebnis wohl die Beklagte. Aus den weiter vom Kläger vorgelegten Unterlagen ergeben sich jedoch noch ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass er in den benannten Firmen in qualifizierter Funktion leitend tätig gewesen sein könnte. Damit bestehen noch hinreichende Erfolgsaussichten, die es gebieten, im Klageverfahren weiter aufzuklären, ob und gegebenenfalls in welchen genauen Zeiträumen die konkreten Tätigkeiten des Klägers, die von beiden Arbeitgebern auch mit dem Begriff des Bauleiters beschrieben worden sind, die Voraussetzungen für eine leitende Tätigkeit in „qualifizierter Funktion" erfüllen.
15Ein erster Anhalt für diesen Klärungsbedarf ergibt sich aus dem ihm gezahlten Monatslohn der Firma C. B. GmbH, der ausweislich der übersandten und weitgehend unkenntlich gemachten Lohnabrechnungen für die Monate April bis Juli 2014 Auszahlungsbeträge zwischen 3.960,54 Euro und 5.723,95 Euro aufweist. Zwar hat der Kläger sich bisher geweigert, Einzelheiten über die Zusammensetzung dieser Beträge (z. B. Überstunden, Zuschläge für Auslandstätigkeit) offen zu legen. Dies mag auch bei der gebotenen Gesamtwürdigung im Ergebnis zu seinen Lasten gewertet werden können, sollte er die auch nach Einschätzung des Senats noch erforderliche Aufklärung weiterhin – aus subjektiv unzutreffend angenommenen datenschutzrechtlichen Hinderungsgründen – behindern. Allerdings lassen sich nicht schon deswegen bereits hinreichende Erfolgsaussichten verneinen. Nach einer Recherche zum Gehalt eines Elektronikers für Betriebstechnik (Geselle) in Deutschland besteht derzeit im Bruttomonatslohn eine Spanne von ca. 2.576,00 Euro über 3.330,00 Euro bis etwa 4.000,00 Euro.
16Vgl. Gehalt.de (Abruf vom 14.3.2022): Monatliches Brutto 2.576,00 bis 3.299,00 Euro (https://www.gehalt.de/beruf/elektroniker-fuer-betriebstechnik#:~:text=Gehaltsspanne%3A%20Elektroniker%2F%2Din%20f%C3%BCr%20Betriebstechnik%20in%20Deutschland&text=36.147%20%E2%82%AC%202.915%20%E2%82%AC%20Bruttogehalt,dar%C3%BCber); jobted (Abruf vom 14.3.2022): Monatliches Brutto (Experte) 3.330,00 Euro (https://de.jobted.com/gehalt/elektroniker); Stepstone.de (Abruf 14.3.2022): Jährliches Brutto bis zu 49.000,00 Euro (https://www.stepstone.de/gehalt/Elektroniker-in-Betriebstechnik.html).
17Angesichts eines Auszahlungsbetrags, also eines Nettolohns, von mindestens 3.960,54 Euro für Juni 2014 ist es immerhin möglich, dass der dem Kläger gezahlte Monatslohn den Durchschnittslohn eines Gesellen in diesem Handwerk erheblich übersteigt. Um dies beurteilen zu können, muss im Klageverfahren geklärt werden, ob der Auszahlungsbetrag Ausprägung einer herausgehobenen leitenden Tätigkeit ist und sich insbesondere nicht schon durch Überstunden-, Auslands- oder sonstige Zuschläge erklärt, die keinen Rückschluss auf eine leitende Tätigkeit erlauben würden, welche den Kläger aus der Gruppe der Gesellen herausgehoben haben könnte. Zur Aufklärung könnte bereits beitragen, wenn der Kläger in der –gegebenenfalls nach anwaltlicher Beratung noch zu gewinnenden – zutreffenden Überzeugung, dass Datenschutzrecht ihm dies nicht verbietet, seine vollständigen Lohnabrechnungen vorlegen würde.
18Einen weiteren Anhalt für ein Klärungsbedürfnis bezüglich der konkreten Bauleitertätigkeit des Klägers bieten die von ihm übersandten Stellenausschreibungen der Firmen z. GmbH und C. B. GmbH. Diese sind zwar nicht auf die konkrete Tätigkeit des Klägers bezogen, können aber einen Anhalt dafür aufzeigen, welche Tätigkeiten die Firmen von einem Bauleiter erwarten und welche Stellung er in ihren Unternehmen jeweils einnehmen soll. Ausweislich der Stellenausschreibung der Firma z. GmbH obliegt einem Bauleiter für Elektromontage das Führen der Obermonteure und des Baustellenpersonals, das Führen von Nachunternehmern anderer Gewerke, die Kommunikation mit weiteren internen Stellen sowie das Führen des externen Kundenkontakts mit dem Ziel der Auftragsoptimierung. Entsprechende Tätigkeiten auch ausgeübt zu haben, hat diese Firma dem Kläger am 3.3.2021 bestätigt, ohne dass sich daraus ergibt, dies sei durchgehend der Fall gewesen. In der Stellenausschreibung der Firma C. B. GmbH werden die Aufgaben mit „Verantwortung für die Abwicklung unserer Großprojekte der Industriemontage vor Ort im In- und Ausland, Führung und Steuerung des Monteurteams sowie der Subunternehmer auf der Baustelle, Kosten- und Terminüberwachung sowie Claim Management“ beschrieben. Dass auch der Kläger eine diesen Stellenausschreibungen entsprechende Stellung in den Firmen innegehabt haben könnte, behauptet er in seinem Schreiben an die Beklagte vom 31.1.2021, wonach in beiden Firmen die Bauleitertätigkeit eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit gewesen sei, die zumeist von Ingenieuren oder Meistern ausgeübt werde, er habe die Befugnis gehabt, Mitarbeiter zu entlassen. Auch mit der Beschwerde vom 13.9.2021 hat er ausgeführt, dass er Großbaustellen (u. a. in Indonesien) geleitet habe.
19Den Kläger darauf zu verweisen, dass er sich selbst bei seinen Arbeitgebern um eine weitere Konkretisierung seiner damaligen Tätigkeiten bemühen müsse, erscheint in diesem Verfahrensstand nicht aussichtsreich. Wenn seine Arbeitgeber der Auffassung zuneigen, mit der Verwendung des Begriffs Bauleiter die Stellung des Klägers eindeutig beschrieben zu haben, könnten sie schon deshalb gegenüber dem Kläger zu keinen weiteren Ausführungen bereit sein. Insoweit ist die erforderliche Aufklärung und Einzelfallprüfung einschließlich der Befragung etwaiger Zeugen sowie der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Einlassungen des Klägers allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Ihr Ergebnis darf im Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht vorweggenommen werden, auch wenn derzeit an der Glaubhaftigkeit der bisherigen, jeweils erst auf konkrete Nachfrage noch immer unzureichend belegten und teils lückenhaften Angaben des Klägers durchaus Zweifel bestehen. Nichts anderes folgt daraus, dass der Kläger in seinem Antrag vom 23.11.2020 kein Einverständnis mit Nachfragen bei seinen ehemaligen Arbeitgebern erklärt, keine Belege über seine Tätigkeit im Reisegewerbe vorgelegt und im weiteren Verfahren mehrfach deutlich gemacht hat, er halte weitere Nachweise nicht für notwendig und werde sie auch nicht einreichen. Die auffällige Heftigkeit, mit der der Kläger verlangt, seine Angaben auch ohne weitere Belege der behördlichen Entscheidung zugrunde zu legen, und sein erkennbares Misstrauen gegenüber der Beklagten, das ihn veranlasst, nicht mehr Einzelheiten über seine Tätigkeit kund zu tun, als er selbst für erforderlich hält, hindern das Gericht nicht, die noch erforderliche Sachverhaltsaufklärung im Hauptsacheverfahren im Rahmen des Prozessrechts von Amts wegen vorzunehmen. Dabei ist unerheblich, ob diese Aufklärung nur deshalb erforderlich geworden sein könnte, weil der Kläger die behördliche und gerichtliche Aufklärung unter Berufung auf den Datenschutz und auf die (nur) aus seiner Sicht schon bestehende Klarheit behindert und verzögert hat. Denn er hat – nur darauf kommt es hier an – in einem Umfang vorgetragen, der (noch) hinreichende Erfolgsaussichten erkennen lässt.
20Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei (vgl. Nr. 5502 und Vorbemerkung 9 Abs. 1 des Kostenverzeichnisses zum GKG). Die Kostenentscheidung im Übrigen folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
21Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- ZPO § 115 Einsatz von Einkommen und Vermögen 1x
- VwGO § 166 2x
- HwO § 7b 5x
- VwGO § 113 1x
- ZPO § 127 Entscheidungen 1x
- VwGO § 152 1x
- 2 BvR 94/88 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 1267/15 1x (nicht zugeordnet)
- 4 E 451/19 1x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 1730/02 1x (nicht zugeordnet)