Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 12 A 2668/19
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 17.104,96 Euro festgesetzt.
1
Gründe:
2Der zulässige Antrag ist unbegründet.
3Eine Zulassung der Berufung kommt nach § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO in Betracht, wenn ein Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der in § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genannten Frist dargelegt worden ist und vorliegt. Dies ist hier nicht der Fall. Das mit Schriftsatz vom 2. August 2019 fristgemäß angebrachte Zulassungsvorbringen rechtfertigt eine Zulassung der Berufung nicht. Die geltend gemachten Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 5 VwGO sind nicht hinreichend dargelegt bzw. liegen nicht vor.
4I. Das Zulassungsvorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
5Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Klägerin stehe gegen die Beklagte kein Rückerstattungsanspruch nach § 112 SGB X hinsichtlich der von ihr an die Beklagte für den Abrechnungszeitraum 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2010 erstatteten Jugendhilfeaufwendungen i. H. v. 17.104,96 Euro (Hilfefall B. T. ) zu. Die Klägerin sei für den betreffenden Zeitraum gegenüber der Beklagten gemäß § 89a SGB VIII dem Grunde nach und auch in der Höhe der gezahlten Beträge erstattungspflichtig gewesen. Die Beklagte habe nicht gegen den Interessenwahrungsgrundsatz verstoßen und habe nicht vorrangig beim Träger der Sozialhilfe eine Erstattung der von ihr aufgewendeten Kosten geltend machen müssen. Ein Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe sei nicht nach § 10 Abs. 4 SGB VIII (a. F.) vorrangig gewesen, da sich bei B. für den streitigen Zeitraum keine körperliche oder geistige Behinderung feststellen lasse. Von einer geistigen Behinderung im Sinne des Sozialhilferechts sei erst bei einem Intelligenzquotienten von unter 70 auszugehen. Die Durchführung solcher Testungen während des streitigen Zeitraums lasse sich den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen. Die Beschulung B. auf Förderschulen rechtfertige nicht mit der für eine Verurteilung der Beklagten erforderlichen Sicherheit die Annahme einer geistigen Behinderung. Gleiches gelte, soweit ausweislich eines Hilfeplanprotokolls vom 3. Januar 2004 seinerzeit monatlich 12 Stunden Betreuung nach den Vorschriften der §§ 30/40 BSHG bewilligt worden seien. Hingegen falle das vom Vormundschaftsgericht eingeholte psychiatrische Kurzgutachten vom 23. Juni 2010 in den streitigen Leistungszeitraum und gelange zu dem Ergebnis eines IQ von 70. Gegen eine geistige Behinderung sprächen auch die Aktivitäten der Jugendlichen. Dass die Klägerin letztlich heute eine geistige Behinderung von B. für den streitigen Zeitraum nicht beweisen könne, sei ihr anzulasten. Es habe für sie durchaus - etwa nach Hinweis der Beklagten auf Gewährung eines zusätzlichen Erziehungsbeitrags, nach Übersendung einer mit Vermerk vom 29. September 2000 erfolgten Aufstellung sämtlicher Defizite des Kindes oder nach dem Hilfeplangespräch vom 26. November 2013 - die Möglichkeit bestanden, zeitnah zur Leistungsgewährung bzw. Kostenerstattung eine entsprechende Testung bei der Beklagten einzufordern.
6Dem hat die Klägerin in der Zulassungsbegründung nichts im Ergebnis Durchgreifendes entgegengesetzt. Nicht in Frage gestellt wird, dass die Klägerin im Zeitraum 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2010 gegenüber der Beklagten gemäß § 89a SGB VIII dem Grunde nach erstattungspflichtig war. Dass das Verwaltungsgericht davon abweichend wegen eines Verstoßes gegen den Interessenwahrungsgrundsatz zu einem anderen Ergebnis hätte kommen müssen, wird mit dem Zulassungsvorbringen nicht hinreichend dargetan und drängt sich auch sonst nicht auf.
7Im Zusammenhang mit Erstattungsansprüchen von Sozialleistungsträgern untereinander ist in der höchstrichterlichen und vom Senat geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben der sogenannte kostenerstattungsrechtliche Interessenwahrungsgrundsatz ergibt. Danach hat der zur Kostenerstattung berechtigte Sozialleistungsträger bei der Leistungsgewährung die rechtlich gebotene Sorgfalt anzuwenden, zu deren Einhaltung er in eigenen Angelegenheiten gehalten ist, und sich bei der Gewährung von Leistungen ungeachtet einer etwaigen Einstandspflicht eines anderen Trägers so zu verhalten, als verbliebe die Kostenlast endgültig bei ihm selbst.
8Vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 22. Juni 2017 - 5 C 3.16 -, juris Rn. 25, vom 13. Juni 2013 - 5 C 30.12 -, juris Rn. 19, und vom 29. Juni 2006 - 5 C 24.05 -, juris Rn. 16; vgl. auch z. B. OVG NRW, Beschluss vom 8. Oktober 2020 - 12 A 701/17 -, juris Rn. 10 f.
9In Umsetzung dieser Grundsätze ist der erstattungsberechtigte Träger gehalten, bei der Leistungsgewährung auch die Interessen des erstattungspflichtigen Trägers zu wahren und im Vorfeld einer Erstattung darauf hinzuwirken, dass der Anspruch gegenüber dem Erstattungspflichtigen gar nicht erst entsteht oder jedenfalls der erstattungsfähige Aufwand gering ausfällt. Dies kann es einschließen, Ansprüche gegenüber einem vorrangig zuständigen dritten Sozialleistungsträger geltend zu machen und insoweit gegebenenfalls auch den Rechtsweg zu beschreiten, sofern dies nicht im Einzelfall aussichtslos erscheint.
10Vgl. BVerwG, Urteile vom 22. Juni 2017 - 5 C 3.16 -, a. a. O. Rn. 25, und vom 13. Juni 2013 - 5 C 30.12 -, a. a. O. Rn. 19.
11Der auf Erstattung in Anspruch genommene Jugendhilfeträger kann eine über die Frage der gebotenen Sorgfalt des erstattungsberechtigten Sozialleistungsträgers in eigenen Angelegenheiten hinausgehende Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nicht verlangen und daher eine Erstattung nicht verweigern, wenn auch er selbst die angefallenen Kosten nicht hätte vermeiden können, weil er nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung über die Hilfegewährung gegebenen Erkenntnisstand nicht anders gehandelt hätte.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2006 - 5 C 24.05 -, a. a. O. Rn. 16.
13Im Rahmen des kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes ist auch die in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (bis zum 31. Dezember 2027 noch) zum Ausdruck kommende Wertung zu berücksichtigen. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen die Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch den Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vor. Von diesem Grundsatz normiert § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII eine Ausnahme für Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Diese Leistungen gehen den Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vor. § 10 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII findet Anwendung, wenn sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe bestehen und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Das Vorrang-Nachrang-Verhältnis des § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII wie auch des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist nicht nach dem Schwerpunkt der Leistung, sondern allein nach der Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Sozialleistung abzugrenzen. Der Leistungsvorrang des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist daher auf die Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen beschränkt.
14Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 5 C 30.12 -, a. a. O. Rn. 23 m. w. N.
15Aufgrund dieser Wertung gebietet der kostenerstattungsrechtliche Interessenwahrungsgrundsatz regelmäßig, dass ein erstattungsberechtigter Träger der Jugendhilfe in den von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII erfassten Fallgestaltungen die Interessen des erstattungsverpflichteten Jugendhilfeträgers dahingehend wahrnimmt, dass er sein Erstattungsbegehren zunächst gegenüber dem vorrangig erstattungspflichtigen Sozialhilfeträger verfolgt, statt den nach § 89a Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger in Anspruch zu nehmen.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 5 C 30.12 -, a. a. O. Rn. 22 und 25.
17Dies zugrunde gelegt zeigt die Klägerin mit ihrem Zulassungsvorbringen bereits nicht hinreichend auf, dass und warum das Verwaltungsgericht von einer Anwendbarkeit des § 10 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII hätte ausgehen müssen, bei dem neben dem Anspruch auf Jugendhilfe auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Insbesondere ergibt sich aus ihrem Vorbringen nicht, dass das Verwaltungsgericht nach den im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnissen die richterliche Überzeugung von einer im maßgeblichen Leistungszeitraum vorliegenden geistigen Behinderung der Leistungsempfängerin B. T. hätte gewinnen müssen und diese nicht als nicht feststellbar hätte betrachten dürfen.
18Entsprechend der Annahme des Verwaltungsgerichts ist in der ober(verwaltungs)gerichtlichen Rechtsprechung - auch nach Veröffentlichung des DSM-IV im Jahr 1994 - anerkannt, dass es für die Annahme einer geistigen Behinderung (in Abgrenzung zu einer bloßen "Lernbehinderung") entsprechend der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases: ICD-10) maßgeblich darauf ankommt, ob der anhand standardisierter Intelligenztests festgestellte Intelligenzquotient des betroffenen Menschen unter 70 liegt.
19Vgl. etwa: OVG NRW, Beschluss vom 29. September 2014 - 12 E 774/14 -, juris Rn. 31 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen auch aus der Rechtsprechung anderer Obergerichte, und jüngst Beschluss vom 16. März 2022 - 12 A 2097/19 -, www.nrwe.de.
20Es erschließt sich demnach schon nicht, warum der Orientierung an diesem Maßstab entsprechend der Auffassung der Klägerin eine "veraltete und inhaltlich überholte Vorstellung von Behinderung" zugrunde liegen sollte. Soweit sie auf die von der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe zum Behinderungsbegriff nach SGB IX und SGB XII erstellte Orientierungshilfe vom 24. November 2009 verweist, wird auch darin ausgeführt, dass sich ein Rückgriff auf die Klassifizierung nach der ICD-10 anbietet. An der Zulässigkeit eines solchen Rückgriffs dürfte sich vorliegend nichts dadurch ändern, dass die Orientierungshilfe alternativ auch einen Rückgriff auf das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), 4. Edition, 1994 (DSM-IV) der American Psychiatric Association für möglich hält. Dieses wird in der Orientierungshilfe so wiedergegeben, dass eine wesentliche Minderung intellektueller Fähigkeiten bereits bei einem IQ von unter 75 anzunehmen sein soll, dass daneben aber zwei weitere Kriterien für die Annahme einer geistigen Behinderung erfüllt sein müssen. Dass ein IQ-Wert von 75 allgemein und speziell im Falle der Hilfeempfängerin vorzugswürdig sein soll, setzt die Klägerin zwar voraus; sie zeigt damit aber nicht auf, dass das Entscheidungsergebnis des Verwaltungsgerichts, eine geistige Behinderung der Hilfeempfängerin im maßgeblichen Zeitraum stehe nicht fest, falsch und insbesondere die Orientierung am Schwellenwert nach ICD-10 methodisch gänzlich ungeeignet ist. Soweit die Klägerin darauf verweist, dass in der Orientierungshilfe eine alleinige Berücksichtigung oder Nutzung von IQ-Werten als Kriterium als nicht ausreichend erachtet wird, weil die verlässliche oder präzise Ermittlung des Intelligenzquotienten oftmals nicht möglich sei, hat das Verwaltungsgericht zum einen hierauf nicht ausschließlich abgestellt, sondern daneben weitere Faktoren aufgezählt, die gegen eine geistige Behinderung sprechen. Zum anderen führt dies nicht dazu, dass vorliegend eine Feststellung anhand des DSM-IV getroffen werden musste. Denn nach der Orientierungshilfe müssen auch bei einem Rückgriff auf die ICD-10 neben der Intelligenzminderung Störungen in der Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens vorhanden sein, so dass nicht bloß eine reine Beurteilung anhand des IQ stattfindet. Abgesehen davon ist der DSM-IV in enger Abstimmung mit dem ICD-10 verfasst worden,
21vgl. Saß/Wittchen/Zaudig/Houben, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen- Textrevision - (DSM-IV-TR), Deutsche Bearbeitung 2003, S. XI,
22und wird in der Fachliteratur bei Bezugnahme auf den DSM-IV regelmäßig ebenfalls ein IQ-Wert von ca. 70 (und nicht von 75) als Grenzwert (Cut-off) für die Feststellung einer für die Annahme einer geistigen Behinderung (nach Kriterium A) erforderlichen deutlich unterdurchschnittlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit zugrunde gelegt.
23Vgl. Ehret/Berking, DSM-IV und DSM-5: Was hat sich tatsächlich verändert?, Verhaltenstherapie 2013, 258 (259); vgl. ferner die Definition zu "Intellectual Disability (Intellectual Developmental Disorder)" im Johns Hopkins Psychiatry Guide, abrufbar unter https://www.hopkinsguides.com/hopkins/view/Johns_Hopkins_Psychiatry_Guide/787033/all/Intellectual_Disability__Intellectual_Developmental_Disorder_#0.
24Dementsprechend kann dahinstehen, ob im Falle von B. T. tatsächlich auch das Kriterium B nach dem DSM-IV (erhebliche Einschränkungen der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der dort genannten Bereiche) erfüllt ist.
25Bereits nach dem Vorstehenden wird auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass allein der Besuch von Förderschulen durch die Hilfeempfängerin nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf eine geistige Behinderung führe, nicht durchgreifend in Zweifel gezogen. Soweit die Klägerin diese Einschätzung, die das Verwaltungsgericht näher mit einer Differenzierung nach der konkreten Beschulung im Einzelfall (Förderzweig) begründet hat, ohne weitere Ausführungen für "lebensfern" hält, genügt dies zudem nicht den Darlegungsanforderungen nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.
26Hinsichtlich der hilfsweisen Rüge, das Verwaltungsgericht habe den in § 10 Abs. 4 SGB VIII ebenfalls umfassten Fall einer drohenden geistigen Behinderung nicht berücksichtigt, hat die Klägerin nicht hinreichend dargelegt, warum eine Veränderung des Zustands des betroffenen jungen Menschen zu einer geistigen Behinderung hin mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen sein soll. Da nach Aktenlage die kognitiven Defizite der Hilfeempfängerin sich in den vergangenen Jahren nicht vergrößert haben und ihre dadurch bedingten Teilhabebeeinträchtigungen sich eher (wenn auch nur geringfügig) verringert haben dürften, spricht im Falle des Nichtbestehens einer geistigen Behinderung auch der Umstand, dass es sich um einen Grenzfall zwischen geistiger Behinderung und bloßer Lernbehinderung handeln dürfte, nicht für eine mindestens 50-prozentige Wahrscheinlichkeit des bevorstehenden Eintritts einer bisher zu verneinenden geistigen Behinderung.
27Dazu, ob und inwieweit der Interessenwahrungsgrundsatz bei einer nach Aktenlage lediglich denkbaren, aber nicht feststehenden (und ohne größeren Aufwand auch nicht feststellbaren) geistigen Behinderung des Empfängers einer kinder- und jugendhilferechtlichen Leistung den erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger dazu verpflichtet, dieser Frage weiter nachzugehen oder "auf gut Glück" den potenziell zuständigen Sozialhilfeträger in Anspruch zu nehmen, wird mit dem Zulassungsvorbringen nichts näher dargelegt. Nach Aktenlage ist auch nicht hinreichend erkennbar, dass sich der Beklagten vor dem Erstattungsbegehren die Annahme eines Falles des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII in einem solchen Maße hätte aufdrängen müssen, das ihr nach Treu und Glauben die vorrangige Inanspruchnahme des Sozialhilfeträgers trotz nicht feststehender geistiger Behinderung auferlegt hätte.
28Soweit die Klägerin die Annahme des Verwaltungsgerichts kritisiert, ihr sei es anzulasten, dass sie heute eine geistige Behinderung von B. für den streitigen Zeitraum nicht beweisen könne, führt dies nicht weiter. Diese Feststellung betrifft zunächst die Beweislastverteilung. Dass die Nichterweislichkeit einer geistigen Behinderung der Hilfeempfängerin für den betreffenden Zeitraum zu Lasten der Klägerin geht, die sich auf einen daraus möglicherweise folgenden Anspruch auf Interessenwahrung beruft, liegt auf der Hand. Ungeachtet dessen betrifft der vom Verwaltungsgericht thematisierte Aspekt der Erkennbarkeit für die Klägerin auch die Frage, inwieweit sich diese gegenüber der Beklagten auf Treu und Glauben berufen kann. Sollte es, wie das Verwaltungsgericht angeführt hat, für die Klägerin selbst bereits vor ihrer Erstattungsleistung erkennbar gewesen sein, dass ein vorrangiger Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger in Betracht kommt, mag es treuwidrig erscheinen, gleichwohl die Erstattung zu leisten und später, wenn die erstattungsberechtigte Beklagte sich womöglich wegen eingetretener Verjährung nicht mehr an den vorrangig erstattungspflichtigen Sozialhilfeträger wenden kann, unter Berufung auf den Interessenwahrungsgrundsatz eine Rückerstattung zu verlangen. Hierzu verhält sich das Zulassungsvorbringen nicht, sondern thematisiert die Annahme des Verwaltungsgerichts allein im Zusammenhang mit einem Verfahrensfehler in Gestalt einer Verletzung der Sachverhaltserforschungspflicht (dazu sogleich unter II.).
29II. Die Berufung ist auch nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen.
30Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe seine Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt, indem es im Grenzbereich von Lern- und geistiger Behinderung über das bloß vorliegende Kurzgutachten hinaus keine weiteren Befunde zur Klärung herangezogen und den Sachverhalt auch sonst nicht ausreichend ermittelt und ggf. selbst Beweis erhoben habe. Damit dringt sie nicht durch.
31Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter nicht ausdrücklich beantragt hat und die sich dem Gericht auch nicht aufdrängen musste.
32Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. August 2015 - 1 B 37.15 -, juris Rn. 11 m. w. N.
33Die Klägerin hat erstinstanzlich auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet und bis zur ohne Verhandlung ergangenen Entscheidung keinen förmlichen Beweisantrag gestellt. Ihren Schriftsätzen ist nicht einmal eine Beweisanregung zu entnehmen. Sie hat auch nicht substantiiert dargelegt, dass und warum sich weitere Aufklärungsmaßnahmen hätten aufdrängen müssen und welche das in Bezug auf Feststellungen zur Einstufung der Behinderung des betreffenden Kindes rückwirkend für den streitgegenständlichen Zeitraum sein könnten. Der bloße Umstand, dass die Beeinträchtigung von B. T. gewiss im Grenzbereich zur geistigen Behinderung einzuordnen ist, führt unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen unter I. nicht dazu, dass sich eine Beweiserhebung aufgedrängt hätte.
34Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO.
35Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 VwGO.
36Dieser Beschluss ist gem. § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.
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