Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 18 A 1327/22
Tenor
Die Berufung wird zugelassen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
1
Gründe:
2Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg. Wie mit der Begründung des Zulassungsantrags dargelegt, bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
3Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger könne sich auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG berufen, weil er eine schutzwürdige Lebensgemeinschaft mit Frau O. und den aus dieser Beziehung hervorgegangenen beiden minderjährigen Kindern deutscher Staatsangehörigkeit führe, ist nach dem derzeitigen Akteninhalt nicht nachvollziehbar, denn sie entbehrt einer plausiblen Begründung.
4Der Kläger hatte mit Klageschriftsatz vom 24. März 2021 vorgetragen, „zurzeit“ eine neue Lebensgefährtin zu haben, mit der er zwei minderjährige Kinder habe. Die Lebensgefährtin sei deutsche Staatsangehörige, so dass auch die Kinder deutsche Staatsangehörige seien. Er kündigte zwar an, „entsprechende Urkunden des Jungendamtes“ vorzulegen, im Nachgang wurden indes entsprechende Dokumente, Urkunden oder Belege nicht zur Gerichtsakte gereicht. Auch den gerichtlichen Aufforderungen vom 9. Dezember 2021 und vom 10. Mai 2022 - dort sogar in Form einer Verfügung gemäß § 87b Abs. 2 VwGO - zur Vorlage entsprechender Belege kam er nicht nach. Der Beklagte hatte in der Zwischenzeit mit Klageerwiderungsschriftsatz vom 22. April 2021 darauf hingewiesen, „hinsichtlich der beiden deutschen Kinder des Klägers, für die er angeblich das Sorgerecht ausüb[e], liegen meiner Behörde keine Erkenntnisse vor“.
5Ungeachtet der Frage, ob ohne Vorlage jeglicher Dokumente überhaupt die Voraussetzungen von § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG bejaht werden können, erschließt sich nicht, aufgrund welcher „glaubhaften und nachvollziehbaren Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung“ die Kammer zur Überzeugung gelangt ist, die Voraussetzungen dieser Bestimmung lägen vor. Denn das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2022 schweigt hierzu. Diesem lässt sich nicht einmal (ausdrücklich) entnehmen, dass der Kläger überhaupt befragt worden ist.
6In den Urteilsgründen heißt es über die oben zitierte Formulierung hinaus, insbesondere habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass „ihm eine Überprüfung der Vaterschaft zu den Kindern (Anmerkung des Senats: gemeint sind (wohl) seine angeblichen deutschen Kinder K. und T. ) angekündigt worden sei“. Aus dieser Passage lässt sich allerdings nichts ableiten, das für die Behauptungen des Klägers spricht. Im Gegenteil: Sie deutet eher darauf hin, dass die angebliche Vaterschaft keineswegs unstreitig ist. Zur Staatsangehörigkeit der Kinder ergibt sich daraus nichts. Im Übrigen fehlt es an jeglichen nachvollziehbaren Anhaltspunkten dazu, was genau von wem überprüft werden soll und wer dies angekündigt hat.
7Plausibel wird die Rechtsauffassung der Kammer auch nicht durch den Hinweis auf das Urteil des Landgerichts L. vom 25. September 2020, nach dem der Kläger „gemeinsam mit seiner aktuellen Partnerin, seiner Mutter, seinem Bruder, seinem ältesten Sohn sowie den beiden jüngsten Kindern in einer Sammelunterkunft in I." zusammenlebt. Denn jenem Urteil lässt sich nicht entnehmen, worauf das Gericht seine diesbezüglichen Erkenntnisse gestützt hat. Abgesehen davon ergibt sich auch aus jenem Urteil nichts zur Staatsangehörigkeit der angeblichen jüngsten Kinder. Die Feststellung hinsichtlich des Zusammenlebens wird bezogen auf den maßgeblichen aktuellen Zeitpunkt zudem widerlegt durch jüngste Angaben des Klägers, nach denen er in der L.-Straße, seine angebliche Lebensgefährtin nebst angeblicher Kinder jedoch in der M.-Straße in I. gemeldet ist.
8Ungeachtet dessen liegt ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Diese Voraussetzungen sind offensichtlich gegeben, sodass es entsprechender Darlegungen seitens des Beklagten nicht bedarf.
9Der Verfahrensmangel ist darin zu erblicken, dass das Verwaltungsgericht Äußerungen des Klägers im Rahmen einer informatorischen bzw. formlosen Anhörung zu Beweiszwecken verwertet hat, ohne diese aktenkundig zu machen.
10In der höchstrichterlichen Rechtsprechung werden im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Dokumentation von Beweisergebnissen folgende Ansätze vertreten:
11Nach einer neueren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind gemäß § 105 VwGO in Verbindung mit § 160 Abs. 3 Nr. 4 Halbs. 1 ZPO im Protokoll nur die Aussagen der Zeugen, Sachverständigen und vernommenen Parteien festzustellen. Zwar ist die Wiedergabe der Äußerungen eines Verfahrensbeteiligten oder eines Sachbeistands außerhalb einer förmlichen Beteiligtenvernehmung im Rahmen einer formlosen Anhörung zur näheren Darlegung des vorgetragenen Sachverhalts schon nach dem Wortlaut dieser Regelung nicht vorgeschrieben. Eine Verwertung der Äußerungen zu Beweiszwecken ist ohne Protokollierung hingegen ausgeschlossen. Ob Äußerungen zu Beweiszwecken verwertet werden ist danach abzugrenzen, ob diese - beispielsweise in der Gestalt einer näheren Darlegung bzw. Aufklärung eines noch nicht klar oder vollständig vorgetragenen Sachverhalts - lediglich bei der Bildung der richterlichen Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt und damit lediglich als Bestätigung der aus sonstigen Umständen gewonnenen Überzeugung herangezogen werden oder ob die Entscheidung allein bzw. in maßgeblicher Weise auf die Äußerungen gestützt wird.
12Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. März 2018- 9 B 43.16 -, juris, Rn. 59 - 62.
13In der älteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wurde es als ausreichend angesehen, das Beweisergebnis im Urteil festzuhalten, wenn eine Äußerung zum Zwecke des Beweises im Urteil verwertet wird; der Protokollierung sei jedoch in der Regel der Vorzug zu geben. Diese Anforderungen gelten gerade auch dann, wenn es sich zwar formal um eine bloße informatorische Anhörung handelt, in der Sache jedoch eine Vernehmung zum Zwecke der Beweiserhebung stattfindet.
14Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juli 1969 - VIII C 22.68 - Buchholz 310 § 105 VwGO Nr. 3.
15Ohne Protokollierung muss indes zumindest das Ergebnis der Befragung in dem Urteil so wiedergegeben werden, dass der gesamte Inhalt der Äußerungen, soweit er für die Entscheidung auch nur von Bedeutung sein kann, erkennbar wird und dass er sich deutlich abhebt von der Würdigung der Äußerungen.
16Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann es (im Falle fehlender Protokollierung von Erläuterungen eines Sachverständigen) ferner genügen, den Inhalt der entsprechenden Angaben in einem Aktenvermerk des Berichterstatters festzuhalten.
17Vgl. BGH, Urteile vom 21. April 1993- XII ZR 126/91 -, juris, Rn. 10, und vom 24. Februar 1987 - VI ZR 295/85 -, juris, Rn. 13.
18Dem folgt (im Falle einer fehlenden Protokollierung von Zeugenaussagen) auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs.
19Vgl. BFH, Beschluss vom 13. Mai 2015 - I B 64/14 -, juris, Rn. 8, und Urteil vom 20. Dezember 2000- III R 63/98 -, juris, Rn. 23.
20Der Senat kann hier offen lassen, welcher Ansicht er zuneigt, denn ein zur Zulassung der Berufung führender Verfahrensfehler ist nach jeder Betrachtungsweise gegeben. Das Verwaltungsgericht hat seine Annahme, die Voraussetzungen von § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG lägen vor, neben dem nicht weiter überprüften Hinweis auf eine (inhaltlich defizitäre) Passage im Urteil des Landgerichts L. vom 25. September 2020 ausschließlich auf die Äußerungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung gestützt. Diese dienten damit Beweiszwecken. Sie hätten folglich zwingend im Wesentlichen dokumentiert werden müssen. Das ist hier jedoch nicht geschehen. Weder im Protokoll noch im Urteil noch an anderer Stelle in der Gerichtsakte sind die Äußerungen des Klägers niedergelegt, an die das Gericht entscheidungserheblich angeknüpft hat.
21Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann auch auf dem Verfahrensmangel beruhen. Aufgrund der fehlenden Dokumentation der Äußerungen des Klägers bietet die Gerichtsakte keine geeignete Grundlage für die obergerichtliche Nachprüfung. Die tatsächlichen Grundlagen des angefochtenen Urteils sind damit nicht in vollem Umfang ersichtlich. Es lässt sich nicht ausschließen, dass der Verfahrensfehler einer nicht ordnungsgemäßen Dokumentation der Äußerungen des Klägers sich auf das Ergebnis des angefochtenen Urteils ausgewirkt hat.
22Vgl. in diesem Zusammenhang BFH, Urteil vom 20. Dezember 2000 - III R 63/98 -, juris, Rn. 26; BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 1976- VI C 12.76 -, juris, Rn. 6.
23Ungeachtet weiterer Erwägungen ist die unterlassene Rüge der Protokollierung durch die Beteiligten (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m § 295 ZPO) schon deshalb unbeachtlich, weil in Fällen der fehlenden Ersichtlichkeit der tatsächlichen Grundlagen eines angefochtenen Urteils für das Rechtsmittelgericht ein solcher Mangel nicht der für die Anwendung des § 295 ZPO vorauszusetzenden Disposition der Beteiligten unterliegt.
24Vgl. dazu BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003- VI ZR 309/02 -, juris, Rn. 7, und Urteil vom 21. April 1993 - XII ZR 126/91 -, juris, Rn. 15.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- XII ZR 126/91 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 124 2x
- § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- VI ZR 295/85 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 105 1x
- I B 64/14 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 295 Verfahrensrügen 1x
- VwGO § 87b 1x
- VI ZR 309/02 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 173 1x
- III R 63/98 2x (nicht zugeordnet)