Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 2 E 417/22
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
1
G r ü n d e :
2Die nach §§ 146 Abs. 1, 147 VwGO zulässige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 2. Mai 2022, mit dem das Verwaltungsgericht das bei ihm anhängige Klageverfahren auf Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids für die Errichtung eines Wohnhauses auf dem Grundstück Gemarkung X. , Flur 35, Flurstück 1093, bis zum rechtskräftigen Abschluss des beim Senat gegen die 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T. " der Beigeladenen anhängigen Normenkontrollverfahrens 2 D 62/22.NE gemäß § 94 VwGO analog ausgesetzt hat, ist begründet.
3Im Rahmen der Entscheidung über eine Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss gemäß § 94 VwGO (analog) prüft das Beschwerdegericht (nur), ob die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussetzung nach dieser Norm vorlagen und ob das aussetzende Gericht das ihm darin eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. Bei der Überprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen hat das Beschwerdegericht grundsätzlich die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das aussetzende Gericht zugrunde zu legen.
4Vgl. Rudisile, in: Schoch / Schneider, Kommentar zur VwGO, Loseblatt, Stand: Februar 2022, § 94 Rn. 41 m. w. N.; Peters / Schwarzburg, in: Sodan / Ziekow, Kommentar zur VwGO, 5. Auflage, 2018, § 94 Rn. 29 m. w. N.
5Vorliegend ist es dem Senat aber bereits nicht möglich zu überprüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 94 VwGO in der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen entsprechenden Anwendung der Norm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung vorgelegen haben, da im Aussetzungsbeschluss hierzu keine Ausführungen enthalten sind, so dass der Beschluss schon aus diesem Grund aufzuheben ist (dazu nachfolgend unter 1.). Davon unabhängig hat das Verwaltungsgericht in dem Aussetzungsbeschluss das ihm in § 94 VwGO eingeräumte Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt (dazu nachfolgend unter 2.).
61. Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei.
7Nach der vom Verwaltungsgericht unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
8vgl. etwa: BVerwG, Beschlüsse vom 16. August 2017 - 9 C 18.16 -, juris Rn. 1, und vom 8. Dezember 2000 - 4 B 75.00 -, NVwZ-RR 2001, 483 = juris Rn. 7,
9angenommenen analogen Anwendung des § 94 VwGO in Bezug auf ein anderweitig anhängiges Normenkontrollverfahren ist daher vorliegend tatbestandliche Voraussetzung für eine Aussetzung, dass die Entscheidung des beim Verwaltungsgericht anhängigen Klageverfahrens auf Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids für die Errichtung eines Wohnhauses auf dem Grundstück Gemarkung X. , Flur 35, Flurstück 1093, von der Wirksamkeit der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T. " der Beigeladenen abhängt, welche Gegenstand des beim Senat anhängigen Normenkontrollverfahrens - 2 D 62/22.NE - ist. Diese Tatbestandsvoraussetzung der sog. Vorgreiflichkeit des Normenkontrollverfahrens gegenüber dem verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht in dem Aussetzungsbeschluss jedoch nicht geprüft, obwohl es dazu verpflichtet gewesen wäre.
10Dem Aussetzungsbeschluss muss nämlich hinreichend entnommen werden können, ob und welche Überlegungen das aussetzende Verwaltungsgericht zur Frage der Vorgreiflichkeit angestellt hat, weil das Beschwerdegericht die Frage, ob von Vorgreiflichkeit auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts auszugehen ist, nur beurteilen kann, wenn diese Rechtsauffassung im Aussetzungsbeschluss hinreichend erläutert und damit als solche „messbar“ wird.
11Vgl. BayVGH, Beschlüsse vom 30. Juli 2018 - 15 C 18.795 -, juris Rn. 24, vom 9. Juli 2007 - 26 C 06.3297 -, juris Rn. 11, und vom 8. Juli 2003 - 14 C 03.1428 -, juris Rn. 8.
12Vorliegend fehlen in dem angefochtenen Aussetzungsbeschluss allerdings Ausführungen dazu, warum die Frage der Wirksamkeit der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T. " der Beigeladenen für das verwaltungsgerichtliche Klageverfahren entscheidungserheblich ist. Zur Begründung dieser Entscheidungserheblichkeit reicht die Bemerkung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Beschluss, eine etwaige Unwirksamkeitserklärung der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 „T. “ der Beigeladenen durch das Oberverwaltungsgericht im Normenkontrollverfahren 2 D 62/22.NE wäre allgemein verbindlich und damit auch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren zu beachten (§ 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO), ersichtlich nicht aus. Vielmehr hätte das Verwaltungsgericht an dieser Stelle des Beschlusses - zumindest kurz - darlegen müssen, dass die Klägerin seiner Ansicht nach nur wegen der entgegenstehenden Festsetzungen der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T. " keinen Anspruch auf Erteilung des von ihr beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheids hat, so dass es auf deren Wirksamkeit entscheidungserheblich ankommt, und nicht auch aus anderen (selbständig tragenden) Gründen. Als derartige Gründe kämen etwa durchgreifende Mängel der bauplanungsrechtlichen Voranfrage der Klägerin an die Beklagte in Betracht oder der Umstand, dass das von der Klägerin angefragte Bauvorhaben (auch) den Festsetzungen der bei unterstellter Unwirksamkeit der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T. " zur Anwendung gelangenden vorherigen Fassung des Bebauungsplans widerspräche. Die sachgerechte Prüfung solcher Umstände kann jedoch nur nach Beiziehung des Verwaltungsvorgangs der Beklagten zur bauplanungsrechtlichen Voranfrage der Klägerin sowie Vorlage der Klageerwiderung durch die Beklagte erfolgen. Im Zeitpunkt der Fassung des Aussetzungsbeschlusses hatte das Verwaltungsgericht aber weder den Verwaltungsvorgang beigezogen noch die mit gerichtlicher Verfügung vom 21. September 2021 erstmals angeforderte Klageerwiderung vorliegen.
13Es ist auch nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, die Prüfung der Vorgreiflichkeit nachzuholen. Maßgebend für die Entscheidung über die Aussetzung ist nämlich die materiell-rechtliche Beurteilung des Prozessstoffes durch das Ausgangsgericht. Andernfalls würde die gesetzliche Reihenfolge der Instanzen dadurch verändert, dass das Beschwerdegericht in einem Zwischenstreit über die Aussetzung den gesamten Streitstoff beurteilen und dem Ausgangsgericht die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorgeben müsste.
14Vgl. BayVGH, Beschluss vom 8. Juli 2003 - 14 C 03.1428 -, juris Rn. 9 m. w. N.
152. Dessen ungeachtet hat das Verwaltungsgericht das ihm in § 94 VwGO (analog) eingeräumte Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.
16Die Ermessensausübung durch das Verwaltungsgericht hat sich daran auszurichten, dass seine im Interesse zügigen und effektiven Rechtsschutzes i. S. v. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK bestehende Verpflichtung, den Prozess zu fördern, nur aus gewichtigen Gründen zurückgestellt werden darf.
17Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020 - 10 E 538/20 -, juris Rn. 7 f. m. w. N.
18Dem Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts sind jedoch keine diesen Anforderungen genügenden Ermessenserwägungen zu entnehmen.
19Soweit das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Ermessensausübung zunächst darauf abgestellt hat, dass die Aussetzung des bei ihm anhängigen Klageverfahrens prozessökonomisch sinnvoll sei, weil sich in diesem Verfahren und dem beim Senat anhängigen Normenkontrollverfahren weitüberwiegend dieselben Rechtsfragen stellten, handelt es sich hierbei um einen Umstand, der bereits bei Bejahung der Vorgreiflichkeit auf der Tatbestandsseite des § 94 VwGO vorliegt und damit keinen bei der Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite der Norm zu berücksichtigenden gewichtigen Grund im zuvor genannten Sinne darstellt.
20Ebenfalls nicht auf einen gewichtigen Grund führt die weitere Ermessenserwägung des Verwaltungsgerichts, seine Prozessförderungspflicht betreffe nicht nur das vorliegende Klageverfahren, sondern auch die übrigen - teils nicht unerheblich länger - im Dezernat des Berichterstatters anhängigen Hauptsacheverfahren, die ebenso wirtschaftlich bedeutsam seien; zudem bestehe eine erhebliche Belastung der Baukammern mit Eilverfahren. Denn in jedem erstinstanzlichen (baurechtlichen) Dezernat wird es (ähnlich bedeutsame) ältere Hauptsacheverfahren sowie zusätzliche Eilverfahren geben, so dass derartige Umstände keine Besonderheit darstellen, die das Zurückstellen der Prozessförderungspflicht im ausgesetzten Verfahren rechtfertigen können. Darüber hinaus ist vorliegend das Normenkontrollverfahren beim Senat erst seit Februar 2022 anhängig, während beim Verwaltungsgericht die Klage bereits im Juli 2021 eingegangen ist.
21Soweit das Verwaltungsgericht weiter anführt, es sei auch "zu erwarten", dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht rechtskräftig werde, solange nicht rechtskräftig über den Normenkontrollantrag der Klägerin entschieden worden sei, handelt es sich lediglich um eine nicht näher begründete Spekulation.
22Alle weiteren vom Verwaltungsgericht zur Ermessensausübung getätigten Ausführungen zielen lediglich darauf ab, die von der Klägerin im Rahmen der vorherigen Anhörung zur beabsichtigten Verfahrensaussetzung vorgebrachten Einwendungen gegen die Aussetzung zu widerlegen, enthalten darüber hinaus aber keinen wichtigen Grund für eine Verfahrensaussetzung im oben genannten Sinne.
23Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- VwGO § 152 1x
- VwGO § 146 1x
- VwGO § 47 1x
- VwGO § 94 8x
- 10 E 538/20 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 147 1x
- 2 D 62/22 3x (nicht zugeordnet)