Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (6. Senat) - 6 B 10567/21
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 21. April 2021 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
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Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 21. April 2021, mit dem der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die in den Ziffern 12 und 13 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 17. April 2021 angeordnete Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung im Zeitraum zwischen 21:00 Uhr und 5:00 Uhr des Folgetages abgelehnt worden ist, hat keinen Erfolg.
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Das Vorbringen in der Beschwerdebegründung, das der Senat allein berücksichtigen kann (§ 146 Abs. 4 Satz 1, 3 und 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung oder Aufhebung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
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Das Verwaltungsgericht ist bei der nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderlichen Interessenabwägung zutreffend davon ausgegangen, dass die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs als offen anzusehen sind (I.). Die deshalb gebotene erfolgsunabhängige Interessenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse am Sofortvollzug gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt (II.).
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I. Die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Widerspruchs des Antragstellers gegen die unter den Ziffern 12 und 13 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 17. April 2021 angeordnete Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung müssen als offen angesehen werden.
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1. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren lässt sich auch unter Berücksichtigung des nach seinem Artikel 4 am heutigen 23. April 2021 in Kraft getretenen Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (BGBl. I S. 802, im Folgenden: Viertes Bevölkerungsschutzgesetz), welches eine bußgeldbewehrte Ausgangsbeschränkung vorsieht (vgl. §§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG), weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit der durch den Antragsgegner angeordneten Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung feststellen.
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Grundsätzlich führt die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG geregelte Ausgangsbeschränkung dazu, dass in Fallkonstellationen wie der Vorliegenden durch die Verwaltungsgerichte ausschließlich und allenfalls zu prüfen ist, ob die vom Bundesgesetzgeber normierten Voraussetzungen vorliegen. Eine fachgerichtliche Normverwerfungskompetenz besteht hingegen nicht.
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Allerdings ist die hier streitige, nach gegenwärtigem Sachstand noch bis zum 25. April 2021 geltende und auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG in Verbindung mit § 23 Abs. 4 Satz 1 der Achtzehnten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz (18. CoBeLVO) erlassene Allgemeinverfügung des Antragsgegners gegenüber dem Bundesgesetz insoweit strenger, als die darin geregelte Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung bereits von 21:00 Uhr und nicht, wie in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 1 IfSG normiert, von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr des Folgetags gilt. Darüber hinaus untersagt Ziffer 12 der Allgemeinverfügung grundsätzlich sowohl das Verlassen einer im Gebiet des Landkreises Bad Dürkheim gelegenen Wohnung oder Unterkunft und den Aufenthalt außerhalb der eigenen Wohnung oder Unterkunft (Satz 1) als auch den Aufenthalt im Gebiet des Landkreises Bad Dürkheim für Personen, die nicht dort sesshaft sind (Satz 2), während § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 1 IfSG seinem Wortlaut nach lediglich den Aufenthalt von Personen außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft und dem jeweils dazugehörigen befriedeten Besitztum untersagt. Ferner sieht die Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung des Antragsgegners, anders als § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 g) IfSG, zwischen 22:00 und 24:00 Uhr keine Ausnahme für im Freien stattfindende, allein ausgeübte körperliche Bewegung vor. In diesem gegenüber der § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG weitergehenden Regelungsumfang (vgl. § 28b Abs. 5 IfSG, BT-Drs. 19/28444, S. 15) verbleibt es in Bezug auf die angegriffene Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung somit auch nach Inkrafttreten des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes bei einer verwaltungsgerichtlichen Verwerfungskompetenz.
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Das Land Rheinland-Pfalz hat indes bereits angekündigt, die Corona-Bekämpfungsverordnung – einschließlich der von den Landkreisen und kreisfreien Städten zu erlassenden Muster-Allgemeinverfügungen – an die Regelungen des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes anzupassen (vgl. https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/bundesnotbremse-infektionsschutzgesetz-regeln-rheinland-pfalz-100.html – „Nach Angaben von Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) soll aber die Landesverordnung an die Neuregelungen im Bundesgesetz angepasst werden.“)
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2. Vor dem Hintergrund der daher bereits eingetretenen und mit hinreichender Sicherheit unmittelbar bevorstehenden grundlegenden weiteren Änderung der zu prüfenden Rechtslage, welche der angegriffenen Allgemeinverfügung des Antragsgegners zugrunde liegt, verbleibt lediglich ein sehr kurzer Zeitraum für rechtlich relevante Auswirkungen der vom Antragsteller angesprochenen Rechts- und Tatsachenfragen. Deren Beantwortung erweist sich – wie auch die unterschiedliche Rechtsprechung hierzu zeigt (vgl. etwa VG Koblenz, 12. April 2021 – 3 L 313/21.KO –, abrufbar unter www.vgko.justiz.rlp.de; VG Trier, Beschluss vom 9. April 2021 – 6 L 1219/21.TR –, n.v.; Nds.OVG, Beschluss vom 6. April 2021 – 13 ME 166/21 –, juris; VG Mainz, Beschluss vom 16. April 2021 – 1 L 291/21.MZ –, abrufbar unter www.vgmz.justiz.rlp.de; VG Arnsberg, Beschlüsse vom 13. April 2021 – 6 L 286/21 und 6 L 291/21 –, juris; VG Bremen, Beschluss vom 9. April 2021 – 5 V 652/21 –, juris; VG Frankfurt, Beschluss vom 9. April 2021 – 5 L 919/21.F –, juris) – als schwierig und ist bei der im vorliegenden Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung in dem verbleibenden kurzen Zeitrahmen nicht abschließend möglich.
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Dies betrifft insbesondere das Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG, wonach die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken zulässig ist, nur zulässig ist, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 erheblich gefährdet wäre (vgl. dazu auch BT-Drs. 19/24334, S. 73). Insofern bedürfte der Umstand einer vertiefenden Würdigung, dass die (Muster-)Allgemeinverfügung, aber auch die daneben bestehenden Schutzmaßnahmen der Achtzehnten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz – anders als in anderen Bundesländern – keine durch § 28a Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 IfSG ermöglichten verbindlichen (und bußgeldbewehrten) Kontaktbeschränkungen auch im privaten Raum vorsehen, deren Durchsetzung die streitige Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung des Antragsgegners aber in erster Linie dienen soll.
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II. Angesichts der deshalb gegenwärtig offenen Rechtslage ist eine Beurteilung des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers auf der Grundlage einer Folgenabwägung geboten. Sie führt zu einem Überwiegen des öffentlichen Voll-zugsinteresses gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers.
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Dabei ist zunächst festzustellen, dass sich der Antragsteller im Umfang der mit Wirkung vom heutigen Tag in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG geregelten Ausgangsbeschränkung bereits deshalb nicht mit Erfolg auf eine Beeinträchtigung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 11 Abs. 1 GG zu berufen vermag, weil der zuständigen Fachgerichtsbarkeit insoweit ausschließlich und allenfalls die Prüfung der Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts obliegt. In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann die Frage der Verfassungskonformität eines Gesetzes nur dann Gegenstand der ausschließlich möglichen summarischen Prüfung sein, wenn bei offensichtlicher Verfassungswidrigkeit der Norm die Dringlichkeit, ihren Vollzug einstweilen auszusetzen, besonders deutlich wird. Gerade im Hinblick auf die Regelungsgegenstände aus dem Bereich des Infektionsschutzes – als besonderem Gefahrenabwehrrecht – muss eine etwaige Verfassungswidrigkeit in einem Eilverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit feststellbar sein (vgl. OVG RP, Beschluss vom 9. November 2020 – 6 B 11345/20.OVG –, juris Rn. 8). Hiervon ist allerdings in Bezug auf die bundesrechtliche Ausgangsbeschränkung unter Berücksichtigung der hierzu vertretenen unterschiedlichen Rechtspositionen derzeit nicht auszugehen. Klarstellend weist der Senat allerdings darauf hin, dass es Rechtsbetroffenen grundsätzlich möglich ist, auch im Hinblick auf Maßnahmen nach § 28b Abs. 1 IfSG bei den Verwaltungsgerichten um Rechtsschutz nachzusuchen, z.B. mit dem Ziel, festzustellen, nicht von einer solchen bundesgesetzlichen Maßnahme erfasst zu sein (vgl. BT-Drs. 19/28732, S. 19, m.w.N.).
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Würde der danach gegenwärtig noch denkbare, weiter reichende Vollzug der Ziffern 12 und 13 der Allgemeinverfügung ausgesetzt, erwiesen sich diese aber in einem späteren Hauptsacheverfahren als rechtmäßig, so könnten in der Zwischenzeit durch einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen schwerwiegende und erhebliche Beeinträchtigungen der dem staatlichen Schutzauftrag unterliegenden Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung sowie Schädigungen des überragenden Schutzgutes der menschlichen Gesundheit eintreten (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Die streitgegenständliche Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung verbietet nämlich insbesondere in der Zeit von 21:00 Uhr bis 22:00 Uhr auch, dass sich die von ihr betroffenen Personen beim Nichtvorliegen triftiger Gründe außerhalb der eigenen Wohnung aufhalten, und soll so private Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen zur Abend- und Nachtzeit mit längerer Verweildauer verhindern, bei denen die durchgehende Einhaltung von Abstands- und Lüftungsregelungen sowie das Tragen von Masken nach allgemeiner Lebenserfahrung häufiger in Vergessenheit geraten, als dies bei Zusammenkünften am Tag der Fall ist, und die somit zweifellos ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen.
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Bleiben die Ziffern 12 und 13 der Allgemeinverfügung dagegen sofort vollziehbar, erweisen sie sich aber im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig, entstehen bei dem Antragsteller schon im Hinblick auf den voraussichtlich allenfalls nur noch kurzen Anwendungszeitraum keine dauerhaften Beeinträchtigungen seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 11 Abs. 1 GG. Soweit der Antragsteller damit noch durch die gegenüber § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG weitergehende Ausgangs- und Aufenthaltsbeschränkung gemäß Ziffern 12 und 13 der angegriffenen Allgemeinverfügung des Antragsgegners insbesondere in Zeiten zwischen 21:00 und 22:00 Uhr belastet ist, wird dieser Rechtszustand nur von kurzer Dauer sein. Denn eine Anpassung der betreffenden Regelungen der Corona-Bekämpfungsverordnung des Landes Rheinland-Pfalz einschließlich etwaiger hiernach von den Landkreisen und kreisfreien Städten zu erlassenden Muster-Allgemeinverfügungen an den in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG getroffenen Regelungsumfang ist mit hinreichender Sicherheit in den nächsten Tagen zu erwarten.
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Vor diesem Hintergrund kann im Rahmen der hier gebotenen Folgenabwägung auch der Einwand des Antragstellers zurücktreten, dass ein Spazierengehen nach 21:00 Uhr nur mit einem zu vernachlässigenden Infektionsrisiko verbunden sei. Dass der Antragsteller für einen voraussichtlich sehr kurzen Übergangszeitraum auf die von ihm nach 21:00 Uhr beabsichtigten Spaziergänge verzichten muss, ist zum einen angesichts der absehbaren Einführung einer Ausnahme von der Ausgangsbeschränkung zugunsten körperlicher Bewegung außerhalb der Wohnung oder Unterkunft bis 24:00 Uhr, d.h. insbesondere zur sportlichen Betätigung, von ihm hinzunehmen. Zum anderen stehen diesem Belang gegebenenfalls Gesundheitsgefährdungen Dritter und damit eventuell irreversible Grundrechtseinbußen sowie möglicherweise eine zusätzliche Belastung des Gesundheitssystems gegenüber, denen bei einer Abwägung der vorliegend betroffenen Interessen der Vorrang einzuräumen ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (LKRZ 2014, 169).
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Referenzen
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- VwGO § 80 1x
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