Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (7. Senat) - 7 B 11148/21.OVG
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 30. August 2021 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf 3.750,00 € festgesetzt.
Gründe
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Die Beschwerde ist unbegründet.
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Das Vorbringen in der Beschwerdebegründung, das der Senat allein berücksichtigten kann (§ 146 Abs. 4 Sätze 1, 3 und 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung oder Aufhebung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
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1. Den vom anwaltlich vertretenen Antragsteller gestellten Antrag, „den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, dem Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis vorläufig zu erteilen“, hat das Verwaltungsgericht zu Recht abgelehnt, weil er auf eine hier unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist. Auf die zutreffenden Ausführungen des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (vgl. § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen ist lediglich noch zu ergänzen, dass die Rechtsauffassung der Vorinstanz der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz entspricht (vgl. OVG RP, Beschluss vom 18. Februar 1991 – 13 B 10914/90.OVG –, juris, Rn. 5 und Beschluss vom 30. März 2021 – 7 B 10079/21.OVG –, n.v.; ebenso Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 81 AufenthG Rn. 50). Eine zumindest zeitweise Vorwegnahme der Hauptsache ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) auch nicht ausnahmsweise erforderlich, weil dieser in Fällen der vorliegenden Art hinreichend durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung erreicht werden kann, die auf eine vorläufige Untersagung bzw. Aussetzung von Abschiebungsmaßnahmen gerichtet ist, wie das Verwaltungsgericht ebenfalls bereits zutreffend ausgeführt hat.
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Da der Antragsteller an der erstinstanzlich gewählten Formulierung seines Antrags mit der Beschwerdebegründung ausdrücklich festhält und erneut eine Verpflichtung des Antragsgegners, ihm eine Aufenthaltserlaubnis vorläufig zu erteilen, beantragt, ist seine Beschwerde bereits aus den genannten Gründen unbegründet.
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2. Unabhängig davon hätte die Beschwerde auch dann keinen Erfolg, wenn man seinen ausdrücklich gestellten Antrag zu seinen Gunsten – wie auch das Verwaltungsgericht erwogen hat – dahingehend auslegen würde, dass er die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung begehrt, seine Abschiebung zur Sicherung des Verfahrens auf Erteilung des von ihm beantragten Aufenthaltstitels vorläufig auszusetzen.
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Das Verwaltungsgericht hat dies abgelehnt, weil dem Antragsteller derzeit kein Anspruch auf Erteilung der von ihm beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – zustehe. Es ist dabei davon ausgegangen, dass der Antragsteller die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) nicht erfülle und hiervon nicht nach der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG abgesehen werden könne, weil im Hinblick auf seine unerlaubte Einreise ein Ausweisungsinteresse bestehe und daher nicht alle regelhaften Erteilungsvoraussetzungen gegeben seien. Dies wird vom Antragsteller mit der Beschwerdebegründung nicht in Zweifel gezogen.
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Das Verwaltungsgericht hat sodann jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, dass es dem Antragsteller auch nicht aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles unzumutbar im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG ist, das Visumverfahren nachzuholen. Die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene vorübergehende Trennung des Antragstellers von seinem im November 2017 geborenen Kind stellt keine Verletzung des durch Art. 6 GG gewährleisteten Schutzes der Familie dar.
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Der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2018 – 2 BvR 588/08 –, juris, Rn. 11 f. m.w.N.).
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Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, in dem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2018 – 2 BvR 588/08 –, juris, Rn. 13). Dies gilt grundsätzlich auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit seinem minderjährigen Kind im Bundesgebiet erstrebt (vgl. OVG RP, Urteil vom 18. April 2012 – 7 A 10112/12.OVG –, juris, Rn. 45). Jedoch ist das Alter des Kindes bei der Frage der Zumutbarkeit einer vorübergehenden Trennung zu berücksichtigen, da ein Kleinkind den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, juris, Rn. 22; OVGRP, Urteil vom 18. April 2012 – 7 A 10112/12.OVG –, juris, Rn. 45). Eine vorübergehende Trennung des Ausländers von seinem Kleinkind für einen unerheblichen Zeitraum ist in der Regel zumutbar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008 – 2 BvR 588/08 –, juris, Rn. 16; OVG RP, Urteil vom 18. April 2012 – 7 A 10112/12.OVG –, juris, Rn. 45 und Beschluss vom 20. August 2019 – 7 B 10970/19.OVG –, n.v.).
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Im Fall des Antragstellers ist die Abwesenheit zur Durchführung des Visumverfahrens nicht von erheblicher Dauer und ihm sowie seinem im November 2017 geborenen Kind zuzumuten. In seinem Fall geht der Senat davon aus, dass das Visumverfahren nicht länger als acht bis zehn Wochen dauert. Wie den Angaben des Auswärtigen Amtes auf der Homepage „Deutsche Vertretungen in der Türkei“ unter der Rubrik Visum/FAQ zu entnehmen ist, beträgt die allgemeine Bearbeitungsdauer eines nationalen Visumantrags acht bis zehn Wochen. Umstände, die im vorliegenden Fall eine längere Bearbeitungszeit erwarten ließen, sind weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
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Eine Trennung vom Antragsteller ist seinem Kind für diesen Zeitraum zumutbar. Es ist zwar mit drei Jahren im Kleinkindalter. Angesichts der hier zu erwartenden Trennung zur Nachholung des Visumverfahrens von nur acht bis zehn Wochen ist jedoch nicht anzunehmen, dass das Kind diese Trennung als endgültigen Verlust des Vaters mit den damit verbundenen besonderen Auswirkungen auf seine Erziehung und Entwicklung erfährt.
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Im vorliegenden Fall kommt im Übrigen hinzu, dass der Antragsteller, nachdem er sich von der Kindesmutter und seinem Kind getrennt und rund sieben Monate in der Türkei verbracht hatte, sich zwar nach seiner Wiedereinreise im November 2019 intensiv um Umgangskontakte mit seiner Tochter bemüht hat. Er räumt aber selbst ein, dass die Kindesmutter jeglichen Kontakt kategorisch verhinderte. Dass und in welchem Umfang es nunmehr – wieder – zu tatsächlichem Kontakt und regelmäßigen Besuchstreffen mit seinem Kind gekommen ist, legt er nicht substantiiert dar, worauf schon das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat. Auch der Beschwerdebegründung sind hierzu keine konkreten und nachvollziehbaren Angaben zu entnehmen. Wenngleich dem Antragsteller das gegenwärtige Fehlen regelmäßiger Umgangskontakte nicht zum Vorwurf gemacht werden kann und die von ihm mit der Beschwerdebegründung nochmals betonte ernsthafte Absicht zur Ausübung der Personensorge auch ausreichend ist für die Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, so spricht dennoch der Umstand, dass zwischen dem Antragsteller und seinem Kind ersichtlich seit geraumer Zeit kein regelmäßiger Umgangskontakt stattfindet, zusätzlich gegen die Annahme, dass sein Kind die vorübergehende Trennung als endgültigen Verlust erfährt. Dies gilt unabhängig davon, inwieweit es nach der Wiedereinreise des Antragstellers im November 2019 anfänglich für einen begrenzten Zeitraum noch zu Umgangskontakten mit seinem Kind gekommen ist.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 8.1 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs 2013 (LKRZ 2014, 169). Wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung in Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes einerseits und der weitgehenden Vorwegnahme der Hauptsache andererseits sind nach ständiger Rechtsprechung des Senats drei Viertel des Hauptsachestreitwerts anzusetzen. Soweit das Verwaltungsgericht einen niedrigeren Streitwert zugrunde gelegt hat, wird die Festsetzung nach § 63 Abs. 3 GKG von Amts wegen geändert.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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- VwGO § 154 1x
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