Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 3/17

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 3. Kammer, Einzelrichter - vom 28.11.2016 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

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Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 28.11.2016 ist zulässig, aber unbegründet.

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Nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss die Beschwerde die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Dabei prüft das Beschwerdegericht nur die dargelegten Gründe, § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO.

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Das Verwaltungsgericht geht von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entziehung der Fahrerlaubnis durch Bescheid vom 26.10.2016 und damit von einem fehlenden öffentlichen Vollzugsinteresse aus. Die Voraussetzungen der Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG lägen nicht vor, da der Antragsteller nach dem Fahreignungsbewertungssystem derzeit nicht acht, sondern nur sechs Punkte erreicht habe. Anknüpfungspunkt für eine Entziehung der Fahrerlaubnis könnten nur solche Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten sein, deren Begehung rechtskräftig feststehe. Sei die Rechtskraft eines im Fahreignungsregister eingetragenen Bußgeldbescheides jedoch beseitigt, müsse der Betroffene diesen nicht mehr gegen sich gelten lassen. Dies sei dann der Fall, wenn – wie hier durch Beschluss des Amtsgerichts B-Stadt vom 03.11.2016 – auf einen entsprechenden Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wurde und das Einspruchsverfahren deshalb noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Anders als bei späteren Tilgungen führe ein späteres Entfallen der Rechtskraft geahndeter Verstöße zu einer rückwirkenden Korrektur des Punktestandes. Dieser Umstand sei im Rahmen des anhängigen Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis – und damit auch der Frage der vorliegenden Rechtskraft bzw. deren Durchbrechung – sei in diesem Fall nicht der Zeitpunkt der Entziehungsverfügung.

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Der Antragsgegner stellt den vom Antragsteller vorgetragenen und vom Verwaltungsgericht zu Grunde gelegten Sachverhalt – rechtzeitiger Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid vom 26.05.2015, erstes Verwerfungsurteil wegen Abwesenheit des Antragstellers durch das Amtsgerichts B-Stadt vom 26.04.2016, nach Wiedereinsetzung zweites Verwerfungsurteil wegen Abwesenheit des Antragstellers vom 13.09.2016, nochmaliger Wiedereinsetzungsantrag vom 20.09.2016 und Gewährung der Wiedereinsetzung mit Beschluss vom 03.11.2016 – nicht in Frage. Er wendet sich vielmehr gegen die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, wonach bereits die positive Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zu einer rückwirkenden Punktereduzierung führe und diese wiederum vom Gericht schon vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen sei. Der Antragsgegner habe erst im Rahmen des Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes von der Wiedereinsetzung erfahren. Auch sei es den Verkehrsbehörden praktisch nicht möglich, den Stand einzelner Verfahren jeweils nachzuverfolgen. Sie müssten sich vielmehr auf die fortwährende Eintragung eines rechtskräftig geahndeten Verkehrsverstoßes im Fahreignungsregister verlassen können. Maßgeblich könne deshalb nur sein, ob eine Korrektur der Bußgeldentscheidung tatsächlich erfolge; bis dahin bestehe kein Spielraum, von der Fahrerlaubnisentziehung abzusehen. In der Schwebezeit – zwischen Wiedereinsetzung und Entscheidung des Amtsgerichts – könne es deshalb bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung nur auf den Erlasszeitpunkt des Bescheides ankommen.

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Diese mit Rechtsprechungszitaten unterlegten Ausführungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Tatsächlich kann auf der Grundlage des vorgetragenen Sachverhaltes gegenwärtig nur von einem Stand von sechs Punkten und damit von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entziehung der Fahrerlaubnis ausgegangen werden.

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Die gerichtliche Überprüfung von Fahrerlaubnisentziehungen richtet sich in Klageverfahren nach der zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung geltenden Sach- und Rechtslage (vgl. auch Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, 31. EL Juni 2016, § 80 Rn. 414 m.w.N.); bei Durchführung eines Vorverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO ist dies der Erlass des Widerspruchsbescheides. Zwischenzeitlich eingetretene Änderungen der Sach- und Rechtslage hat die Widerspruchsbehörde zu berücksichtigen (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 68 Rn. 15). Steht der Widerspruchsbescheid noch aus und muss die Rechtmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes vorab in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO beurteilt werden, ist grundsätzlich auf die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltende Sach- und Rechtslage abzustellen (std. Rspr. des Senats, vgl. nur Beschl. v. 09.02.1993 - 4 M 146/92 -, NVwZ-RR 1993, 437, 439, in juris Rn. 12). Dies folgt bereits aus dem o.g. Umstand, dass auch die Widerspruchsbehörde auf etwaige Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu reagieren hätte; nichts anderes kann für die gerichtliche Entscheidung gelten (Schoch/Schneider/Bier, a.a.O. Rn. 421).

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Diese Grundsätze gelten prinzipiell auch im Bereich verkehrsbehördlicher Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG (vgl. Sächs. OVG, Beschl. v. 07.07.2015 - 3 B 118715 - in juris Rn. 6). Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass eine Maßnahme wegen Erreichens eines bestimmten Punktestandes ergriffen wird und sich der Punktestand nach deren Ergreifen aufgrund einer Tilgung verringert; dieser Umstand nach Ergreifen einer verkehrsbehördlichen Maßnahme hat unberücksichtigt zu bleiben. Nur diese Fallgestaltung wird in dem vom Antragsgegner zitierten Beschluss des VG Karlsruhe vom 14.01.2010 behandelt. Seit dem 01.05.2014 ist dies durch § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG ausdrücklich vorgeschrieben (dazu Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 4 StVG Rn. 83).

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Für die hier zu behandelnde Frage der fortdauernden Rechtskraft einer der Berechnung des Punktestandes zu Grunde liegenden Entscheidung bleibt es hingegen bei den o.g. Grundsätzen (vgl. schon VG Freiburg, Urt. v. 26.11.2008 - 4 K 717/06 - in juris Rn. 26 ff. m.w.N.). Soweit der Antragsgegner insoweit anderslautende Rechtsprechung zitiert, muss berücksichtigt werden, dass die Durchführung eines Vorverfahrens nach Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr in allen Ländern vorgesehen ist und sich die Rechtslage insoweit von vorneherein anders darstellt; dies gilt etwa für Niedersachsen (vgl. § 80 des nieders. Justizgesetzes v. 16.12.2014) und für Bayern (vgl. Art. 15 des bayerischen AGVwGO v. 20.06.1992 i.d.F. v. 22.05.2015). Die schließlich zitierten Entscheidungen des OVG Münster (Beschl. v. 24.01.2008 - 16 B 1269/07 -, in juris Rn. 1: „auf der nunmehr vorliegenden Tatsachengrundlage“, Rn. 5: „auch im laufenden Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen“), des OVG Berlin-Brandenburg (Beschl. v. 28.05.2015 - OVG 1 S 71.14 - in juris, insbesondere Rn. 7) und des VG Bremen (Beschl. v. 20.11.2012 - 5 V 1034/12 - in juris Rn. 21 ff.) stellen – mehr oder weniger deutlich erkennbar – ebenfalls auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ab.

9

Vorliegend führt die vom Amtsgericht B-Stadt durch Beschluss vom 03.11.2016 gewährte Wiedereinsetzung gegen sein Urteil vom 13.09.2016 auf der Grundlage des vorgetragenen Sachverhaltes folgerichtig zu einem rückwirkenden und für das Gericht beachtlichen Wegfall der Rechtskraft des Bußgeldbescheides vom 26.05.2015: Nach dem in § 4 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 5 Satz 5 StVG zum Ausdruck kommenden „Tattagsprinzip“ hat die Verkehrsbehörde bei Ergreifen der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG maßgeblich auf denjenigen Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Allerdings setzt dies voraus, dass die Straftat oder Ordnungswidrigkeit rechtskräftig geahndet ist, so dass die Verkehrsbehörde die Rechtskraft abwarten muss und dann retrospektiv den Punktestand ermittelt (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 4 StVG Rn. 49 f., 80 m.w.N.). Ergänzend dazu bindet § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG sowohl die Verkehrsbehörde als auch das Gericht inhaltlich an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Auch der Fahrerlaubnisinhaber muss eine rechtskräftige Entscheidung gegen sich gelten lassen (Hentschel/König/Dauer, a.a.O. Rn. 79), es sei denn, die Rechtskraft wird durch Gewährung einer Wiedereinsetzung oder durch Wiederaufnahme des Verfahrens wieder durchbrochen (OVG Münster, Beschl. v. 24.01.2008 - 16 B 1269/07 - in juris Rn. 4; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.05.2015 - OVG 1 S 71.14 - in juris Rn. 7).

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§ 52 Abs. 2 OWiG und § 47 Abs. 1 StPO bestimmen, dass die Vollstreckung aus bestandskräftigen Bußgeldbescheiden bzw. rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen wegen eines Antrages auf Wiedereinsetzung nicht gehemmt wird, eine solche Hemmung also bis zur positiven Entscheidung der Bußgeldstelle bzw. des Gerichts über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wirkt. Entsprechend regelt § 47 Abs. 3 Satz 1 StPO den Fall der Durchbrechung der Rechtskraft durch die (gewährte) Wiedereinsetzung und bestimmt, dass Haft- und Unterbringungsbefehle sowie sonstige Anordnungen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft bestanden haben, wieder wirksam werden. Damit gilt auch im Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfahren die allgemeine Regel, dass die gewährte Wiedereinsetzung das Verfahren in den Zustand vor Versäumung der Frist zurückversetzt und das Verfahren so fortgeführt wird, als ob die Frist nicht versäumt worden wäre. Entscheidungen und Rechtswirkungen, die im Hinblick auf die Fristversäumung ergangen bzw. eingetreten sind, entfallen; dies gilt insbesondere auch für eine eingetretene Rechtskraft (Lampe in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, § 52 Rn. 47 m.w.N.). Wird – wie hier – eine Hauptverhandlung versäumt und der Einspruch deshalb verworfen, kann unter den gleichen Voraussetzungen wie gegen die Versäumung einer Frist gegen das sog. Abwesenheitsurteil Wiedereinsetzung beantragt werden, § 74 Abs. 4 OWiG. Wird die Wiedereinsetzung gewährt, ist das Urteil hinfällig geworden, ohne dass es eines besonderen Ausspruchs hierüber bedarf (Senge in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, § 74 Rn. 49 m.w.N.).

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Diese Konsequenzen der Wiedereinsetzung sind auch bei der Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG zu beachten. Damit „hemmt“ der Antrag auf Wiedereinsetzung weder die Vollstreckung noch die tattagsbezogene Punktestandberechnung, doch führt die Gewährung der beantragten Wiedereinsetzung zur Durchbrechung der Rechtskraft und steht in diesem Moment sowohl einer weiteren Vollstreckung als auch einer Berücksichtigung der mit dem geahndeten Verkehrsverstoß verbundenen Punkte rückwirkend entgegen, ohne dass es auf den Ausgang des Verfahrens in der Sache ankommt (vgl. auch VG Ansbach, Beschl. v. 28.09.2010 - AN 10 S 10.01777 -, Rn. 27 [für den Fall einer beantragten Wiederaufnahme] und Gerichtsb. v. 04.04.2011 - AN 10 K 10.02533 -, Rn. 30; VG Augsburg, Beschl. v. 13.06.2013 - Au 7 S 13.746 -, Rn. 27, alle in juris: erst wenn im Ordnungswidrigkeiten- bzw. Einspruchsverfahren eine - positive - formelle Entscheidung zumindest zur Wiedereinsetzung vorliegt, wird die Rechtskraft durchbrochen).

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Da der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung lediglich anhand des Beschwerdevortrages überprüft und sich daraus gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren kein neuer Sachverhalt ergibt, muss es bei der vom Verwaltungsgericht angenommenen Rechtswidrigkeit der Fahrerlaubnisentziehung durch Bescheid vom 26.10.2016 und der deswegen antragsgemäß angeordneten aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs dagegen bleiben. Konsequenz des gerichtlichen Abstellens auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist jedoch, dass es dem Antragsgegner unbenommen bleibt, gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO beim Gericht der Hauptsache einen Antrag auf Änderung oder Aufhebung des Beschlusses zu prüfen und ggf. zu stellen, soweit sich die maßgebliche Sachlage mittlerweile oder später anders darstellt und die veränderten Umstände nicht eher vorgetragen werden konnten.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.

14

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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