Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 O 1/18

Gründe

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Die Beschwerde hat Erfolg. Dem Kläger ist gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO Rechtsanwalt B. in B-Stadt beizuordnen. Der Kläger kann nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung auch hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheint auch nicht mutwillig.

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Es sprich viel dafür, dass der Bescheid des Beklagten vom 20.05.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 13.04.2016 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist. Hiernach sind Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Im vorliegenden Fall könnte ein Aufenthaltsrecht des Klägers als Familienangehöriger vom Aufenthaltsrecht seines Sohnes (S.) abzuleiten sein.

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1. Der Kläger macht geltend, sein Sohn, (S.), sei gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Er trägt vor, sein Sohn sei berufstätig. Hieran bestehen zwar Zweifel, weil das Arbeitsverhältnis seines Sohnes nach dem vom Kläger vorgelegten Arbeitsvertrag befristet war und am 22.12.2017 endete, ohne dass es einer Kündigung bedurfte. Gleichwohl wird vom Verwaltungsgericht zu prüfen sein, ob das Arbeitsverhältnis des Sohnes des Klägers tatsächlich verlängert oder entfristet wurde oder ob der Sohn des Klägers ein neues Arbeitsverhältnis begründet hat. Selbst wenn der Sohn des Klägers derzeit arbeitslos sein sollte, bestehen Anhaltspunkte dafür, dass er jedenfalls gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist. Hiernach sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, auch für mehr als sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, wenn sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Sollte der Sohn des Klägers derzeit beschäftigungslos sein, wird das Verwaltungsgericht zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift vorliegen, wobei die Darlegungs- und Beweislast insoweit allerdings beim Kläger liegt.

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2. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht des Klägers als Familienangehöriger eines Unionsbürgers nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU setzt gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU weiterhin voraus, dass er einen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger "begleitet" oder ihm "nachzieht". Die Begriffe "begleiten" oder "nachziehen" implizieren eine im Sinne des Ehe- und Familienschutzes schutzwürdige tatsächliche Beziehung (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2015 – BVerwG 1 C 22.14 –, juris RdNr. 23). Hiernach muss grundsätzlich eine gemeinsame Wohnung vorhanden sein (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl., § 3 FreizügG/EU RdNr. 13). Die Freizügigkeit ist dabei nicht auf den gemeinsamen Zuzug oder den späteren Nachzug beschränkt, sondern erfasst auch Fälle, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft erst im Bundesgebiet hergestellt wird (vgl. EuGH, Urt. v. 25.07.2008 – C-127/08 –, juris RdNr. 93; Dienelt, a.a.O., § 3 FreizügG/EU RdNr. 12). Das Erfordernis einer tatsächlichen familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet ist vorliegend erfüllt. Der Kläger lebt offenbar mit seiner Frau (… S.) und seinem Sohn (S.) in einer gemeinsamen Wohnung in der D-Straße in A-Stadt.

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3. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers als Familienangehöriger setzt gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU zudem voraus, dass es sich bei ihm um einen Verwandten in gerader aufsteigender Linie einer in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Person handelt. Das ist der Fall, denn der Unionsbürger, vom dem der Kläger sein Aufenthaltsrecht ableitet, ist sein Sohn.

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4. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist ferner erforderlich, dass dem Kläger von der Person, von der er sein Aufenthaltsrecht ableitet, Unterhalt gewährt wird. Das Aufenthaltsrecht des Angehörigen ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2015 – BVerwG 1 C 22.14 –, a.a.O. RdNr. 24 unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 08.11.2012 – C-40/11 –, juris RdNr. 55). Dazu gehört eine fortgesetzte und regelmäßige Unterstützung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2015 – BVerwG 1 C 22.14 –, a.a.O. RdNr. 24; NdsOVG, Beschl. v. 03.01.2017 – 8 PA 209/16 –, juris RdNr. 6; Dienelt, a.a.O., § 3 FreizügG/EU RdNr. 59). Auch diese Voraussetzung dürfte erfüllt sein. Der Kläger ist nach eigenen Angaben selbst mittellos und wird (allein) von seinem Sohn unterstützt, der sowohl für die Miete als auch für den sonstigen Unterhalt der Familie aufkomme. Diese Angaben sind zwar angesichts des geringen Einkommens des Sohnes des Klägers nicht ganz plausibel, jedoch bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Sohn des Klägers zumindest die Miete für die gemeinsame Wohnung aufbringt und damit jedenfalls einen Teil des Lebensunterhalts des Klägers deckt.

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5. Die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU dürfte nicht von den in § 4 FreizügG/EU geregelten Voraussetzungen eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel abhängig sein. § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU verweist nur für die Familienangehörigen der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU erwähnten nicht erwerbstätigen Unionsbürger zusätzlich auf die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2015 – BVerwG 1 C 22.14 –, a.a.O. RdNr. 25). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Freizügigkeitsberechtigung von Familienangehörigen erwerbstätiger Freizügigkeitsberechtigter nicht an die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU geknüpft ist. Zu den erwerbstätigen Freizügigkeitsberechtigten gehören neben den Unionsbürgern, die sich als Arbeitnehmer aufhalten wollen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), auch die von § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfassten Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche aufhalten. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU gelten die Anforderungen des § 4 FreizügG/EU nur für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genannten (nicht erwerbstätigen) Unionsbürger. Die Familienangehörigen der von § 2 Abs. 2 Nr. 1 und § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfassten Unionsbürger zählen hierzu nicht.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 1 GKG und § 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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