Beschluss vom Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken (1. Strafsenat) - 1 AR 12/20 A

Tenor

Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Anordnung von Auslieferungshaft wird - erneut - zurückgewiesen.

Gründe

1.

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Die griechischen Behörden ersuchen mit dem Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft beim OLG Kreta-Ost vom 16. Dezember 2019 (Geschäftsnummer ...) um Festnahme und Überstellung des Verfolgten zum Zwecke der Vollstreckung des unwiderruflichen Urteils des Einzelrichters bei dem OLG für Verbrechen Kreta-Ost vom 9. November 2017 (Geschäftsnummer ...). Dieses hat den Verfolgten wegen Beförderung von Drittstaatsangehörigen vom Ausland nach Griechenland, die über kein Recht auf die Einreise in das griechische Hoheitsgebiet verfügen und woraus sich ein Risiko für einen Menschen ergeben könnte, zu einer Gesamtzuchthausstrafe von 226 Jahren verurteilt, von denen ausweislich des Europäischen Haftbefehls (noch) 24 Jahre, elf Monate und drei Tage zu verbüßen sind. Zudem wurde gegen den Verfolgten eine Geldstrafe von 2.310.000 EUR verhängt. Ausweislich der Gründe des vorbezeichneten Urteils, das auf einer Abwesenheitsverhandlung beruht, soll der Verfolgte einem Anderen dabei geholfen haben, 212 Drittstaatsangehörige per Schiff aus dem Ausland in griechisches Hoheitsgebiet zu verbringen; zum weiteren Tatvorwurf wird auf den Inhalt des Europäischen Haftbefehls und der Übersetzung der schriftlichen Gründe des Urteils vom 9. November 2017 (Bl. 179 d.A.) verwiesen.

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Die Generalstaatsanwaltschaft hatte bereits mit Verfügung vom 17. April 2020 beantragt, Auslieferungshaft gegen den Verfolgten anzuordnen. Der Senat hatte diesen Antrag mit Beschluss vom 30. April 2020 zurückgewiesen, weil zu jenem Zeitpunkt unklar gewesen war, ob die Zustellung des Urteils den Verfolgten erreicht hat bzw. ob die Voraussetzungen des § 83 Abs. 4 IRG erfüllt werden konnten.

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Die Generalstaatsanwaltschaft hat nach Einholung ergänzender Erklärungen der griechischen Behörden nunmehr erneut die Anordnung von Auslieferungshaft beantragt. Der Antrag war ebenfalls zurückzuweisen.

2.

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Die Anordnung von Auslieferungshaft setzt die Feststellung voraus, dass die Auslieferung nicht von vornherein unzulässig erscheint (§ 15 Abs. 2 IRG). Vorzunehmen ist eine dem jeweiligen Stand des Verfahrens Rechnung tragende und somit dynamische Prognoseentscheidung. Hierbei ist nach der gebotenen verfassungskonformen Auslegung über eine Schlüssigkeitsprüfung hinaus positiv festzustellen, dass alle sich vertraglich oder aus diesem Gesetz ergebenden Voraussetzungen für eine Auslieferung mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben sein können (Hackner in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020, IRG § 15 Rn. 41 m.w.N.).

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Eine solche Prognose kann nach wie vor nicht gestellt werden.

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a) Dahin stehen kann die Frage, ob die Haftbedingungen, denen der Verfolgte im Falle seiner Überstellung voraussichtlich ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche Behandlung inhaftierter Personen i.S.v. Art. 3 EMRK besorgen lassen. Die griechischen Behörden haben zwar unter dem 5. Februar 2021 die nationalen Vorgaben für Größe und Ausstattung der Haftbereiche erläutert. Sie haben allerdings auch darauf hingewiesen, dass diese lediglich „soweit wie möglich aufgrund der maximalen Kapazität der Justizvollzugsanstalten“ gewährt werden könnten. Aus der dem Schreiben beigefügten Übersicht der Haftanstalten und ihrer derzeitigen Belegung geht hervor, dass in 25 von insgesamt 34 aufgeführten Haftanstalten Überbelegungen bestehen, teilweise sogar bis zu 100% der jeweiligen Kapazität. Weil nach dem griechischen Recht die Bestimmung der Haftanstalt der unabhängigen Entscheidung der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaft unterliegt und deshalb von den griechischen Behörden die Unterbringung in einer bestimmten Haftanstalt nicht zugesichert werden kann, bleibt zumindest höchst fraglich, ob eine Inhaftierung, die den Anforderungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und des Europäischen Strafvollzugsgesetzes vom 11. Januar 2006 genügt, gesichert ist (s.a.: OLG München, Beschluss vom 09.01.2018 - 1 AR 319/17, juris Rn. 23f.).

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b) Die Auslieferung des Verfolgten ist jedoch noch aus einem anderen Grund, der aus Sicht des Senats auch nicht behoben werden kann, nicht möglich. Denn die Leistung von Rechtshilfe wäre im hier gegebenen Fall unzulässig, weil sie im Widerspruch zu wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung stehen würde (§ 73 S. 1 IRG). Denn Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist eine unangemessene und unerträglich hohe Strafe.

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aa) Zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen zählt das aus den einzelnen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Gebot der Verhältnismäßigkeit. Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint. Tatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein. Ebenso zählt es wegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf. Anderes gilt, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer Beurteilung allein anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 09.03.2016 – 1 AK 108/15, juris Rn. 1). Da das Grundgesetz von der Eingliederung Deutschlands in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft ausgeht (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis Art. 26 GG; vgl. auch BVerfGE 111, 307, 317 ff.), gebietet es zugleich, im Rechtshilfeverkehr auch dann Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (BVerfG, Beschluss vom 20.11.2014 - 2 BvR 1820/14, WM 2015, 65, 66 m.w.N.). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen gehört daneben auch zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts. In diesem Sinne bestimmt auch Art. 49 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. EU Nr. C 303 v. 14.12.2007 S. 1 – GRCh), dass das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf; diese Vorschrift knüpft an einen anerkannten Grundrechtsstandard in der Europäischen Union an und findet deshalb Anwendung, ohne dass es darauf ankommt, dass die GRCh als solche erst am 1. Dezember 2009 rechtsverbindlich geworden ist (Art. 6 Abs. 1 EUV n.F.) und die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union bindet (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25.02.2010 – 1 Ausl (24) 1246/09, juris Rn. 6). Bei der Beurteilung der (Un-)Zulässigkeit der Auslieferung besteht keine Bindung an ein prozentuales Verhältnis zwischen der gegenständlichen und der nach dem deutschen Recht möglichen (Höchst-)Strafe; vielmehr sind zusätzlich neben den Besonderheiten des Einzelfalles auch die gegebenen Umstände der Strafvollstreckung, des Strafvollzuges und der Strafaussetzung im Blick zu behalten (BGH, Beschluss vom 10.08.1993 – 4 ARs 13/93, juris Rn. 15).

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bb) Im Ergebnis einer Gesamtbetrachtung sieht der Senat den Grundsatz verhältnismäßigen Strafens hier als nicht mehr gewahrt an.

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Nach den Feststellungen des Urteils vom 9. November 2017 soll der Verfolgte als Mitglied einer Schiffscrew im Rahmen der illegalen Verbringung von 212 Drittstaatsangehörigen von einem türkischen Hafen in griechisches Hoheitsgebiet eine Liste mit den Namen der geschleusten Personen geführt, diese beim Betreten des Schiffes geordnet und diesen Wasser und Lebensmittel gereicht haben. Bei der Schiffspassage seien die geschleusten Personen Risiken ausgesetzt gewesen, weil das Schiff nicht seetüchtig und für den Transport einer solchen Anzahl von Menschen nicht ausgelegt gewesen sei. Für den Transport habe der Haupttäter, dem der Verfolgte durch seine Handlungen Hilfe geleistet habe, einen Lohn von 20.000 US-Dollar vereinbart gehabt. Diese Handlungen des Verfolgten würden sich (auch unter Berücksichtigung der Anzahl der geschleusten Personen) nach deutschem Recht als (Beihilfe zum) Einschleusen von Ausländern nach § 96 Abs. 1 AufenthG darstellen und wären im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht, wobei zudem noch die obligatorische Milderung nach § 27 Abs. 2 S. 2 StGB zu beachten wäre. Selbst wenn - was die beigezogenen Urteilsgründe allerdings nicht hergeben - die geschleusten Personen im Rahmen der Schleusung einer (konkreten) Gesundheits- oder Lebensgefahr ausgesetzt gewesen wären, könnte nach deutschem Recht keine Freiheitsstrafe von über zehn Jahren verhängt werden (§ 96 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG).

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Die griechischen Behörden haben auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft mit Schreiben vom 17.09.2020 mitgeteilt, dass nach Art. 94 § 1 des griechischen Strafgesetzbuches, wenn die verhängte Gesamtstrafe - wie hier - 25 Jahre überschreitet, „auf jeden Fall und ohne jede Ausnahme die 25 Jahre zu verbüßen“ seien. Selbst unter Berücksichtigung der sich für den vollstreckenden Staat aus Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, zuletzt geändert durch Art. 2 ÄndRB 2009/299/EG vom 26.2.2009 (ABl. L 81 S. 24) [RbEuHb] ergebenden Möglichkeit, die Überstellung an die Zusicherung der Möglichkeit einer positiven Aussetzungsentscheidung nach spätestens 20 Jahren zu knüpfen, ist von einer Mindesthaftdauer auszugehen, welche die nach deutschem Recht mögliche Höchststrafe um das Doppelte (§ 96 Abs. 2 Nr. AufenthG) bzw. das Vierfache (§ 96 Abs. 1 AufenthG) übersteigt. Hierzu tritt, dass dem Verfolgten, der am 16. Oktober 2015 als Flüchtling nach Deutschland eingereist ist und naheliegend über kein erhebliches Vermögen verfügt, neben der Freiheitsstrafe noch eine nach deutschen Maßstäben irrwitzig hohe Geldstrafe auferlegt worden ist (vgl. zu diesem Kriterium auch: OLG Brandenburg, Beschluss vom 17.12.2020 - 1 AR 30/20, juris Rn. 19). Die Tat bezog sich zwar einerseits auf eine Vielzahl von Personen, die mit Hilfe des Verfolgten nach Griechenland und den Bereich der EU gebracht werden sollten. Andererseits geben die Urteilsgründe aber keinen Anhalt dafür her, dass das Schiff vor dem Sinken stand oder die Passagiere in sonstiger Weise einer konkreten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wurden, zumal der Verfolgte als Teil der Besatzung hiervon auch selbst betroffen gewesen wäre. Auch kann nicht übersehen werden, dass die Haftbedingungen in Griechenland selbst in denjenigen Haftanstalten, in denen keine Überbelegung besteht, den durch den Europäischen Gerichtshof (Urteil vom 15.10.2019 – C-128/18, juris Rn. 72 ff.) und das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 01.12.2020 – 2 BvR 1845/18, juris Rn. 48) aufgestellten Kriterien möglicherweise zwar noch genügen können. Im Vergleich zu einem langjährigen Freiheitsentzug in einer deutschen Vollzugsanstalt stellt sich die Inhaftierung in einem griechischen Gefängnis - auch unter Berücksichtigung der von den griechischen Behörden hierzu mitgeteilten Einzelheiten - als die in ihren Belastungen deutlich härtere Maßnahme dar. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Gesichtspunkte erweist sich die Höhe der (mindestens) zu vollstreckenden Freiheitsstrafe damit als unangemessen und unerträglich hart, was zu einem Auslieferungsverbot nach § 73 IRG (i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG ) führt (vgl. a. OLG Brandenburg aaO.; OLG Hamm, Beschl. v. 16.04.2014 – 2 Ausl 54/14, NStZ-RR 2014, 227, 228).

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