Urteil vom Sozialgericht Aachen - S 20 SO 132/20
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Freistellung von den Kosten einer „konduktiven Förderung nach Petö“ (Petö-Therapie) in der Zeit vom 01.02.2020 bis 31.03.2021 in Höhe von 2.700,00 €.
3Die Klägerin wurde am xx.xx.xxxx in der 29. Schwangerschaftswoche geboren. Sie leidet an den Folgen einer Trisomie 21, u.a. muskulärer Hypotonie, komplexen Funktionseinschränkungen aller Bereiche, allgemeiner Entwicklungsstörung, Herzfehler, Zustand nach Herzinfarkt und Epilepsie; sie ist zudem sehbeeinträchtigt. Die Klägerin erhielt medizinische Behandlung und Frühförderung, diese zunächst ab September 2016 im Rahmen interdisziplinärer Frühförderung nach § 46 (früher: § 30) Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); seit August 2018 erhält sie Eingliederungshilfe durch Übernahme der Betreuungskosten für den Besuch einer inklusiven und heilpädagogischen Kindertagesstätte.
4Am 06.02.2020 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten einer Petö-Therapie vom 01.02.2020 bis 31.03.2021, die vom Verein „G. T. B. e.V.“ durchgeführt wurde. Zur Begründung verwies sie auf Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) und verschiedener Landessozialgerichte (LSG) aus den Jahren 2009 bis 2012. Sie meinte, die Petö-Therapie sei geeignet, ihre kognitiven Fähigkeiten, u.a. die Motorik, die Mobilität und die spätere Schulfähigkeit zu fördern. Sie legte einen Kostenvoranschlag des Leistungserbringers über Jahreskosten in Höhe von 9.072,00 €, einen Therapieplan des G. T. B. e.V sowie einen Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der S. B. vom 02.05.2019 vor.
5Durch Bescheid vom 31.03.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, die Petö-Therapie diene nicht der sozialen, sondern der medizinischen Rehabilitation. Oberstes Ziel der beantragten Therapie sei es, die Klägerin so weit bewegungsfähig zu machen, dass sie einmal ein selbstständiges, unabhängiges Leben führen könne. Bei den Leistungen dieser Therapie handele es sich daher nicht um die Ermöglichung einer Teilhabe an der Gesellschaft, sondern um die (Wieder-) Herstellung der geschädigten Funktionen (Dysfunktion) „auf Umwegen“. Die Förderung des Laufens, Stehens und Sitzens, indem durch Stärkung und Lockerung der Gelenke und Muskulatur an eine bestehende Krankheit und ihren Ursachen angeknüpft werde, diene auch nicht (unmittelbar) dem Ziel der Eingliederungshilfe, soziale Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern. Leistungen der sozialen Rehabilitation zielten darauf, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung von (Teil-) Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt seien, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen oder den Personen, die in die Gesellschaft integriert seien, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichne, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten würden. Die Beklagte berief sich insoweit auf das Urteil des BSG vom 28.08.2018 (B 8 SO 5/17 R).
6Dagegen legte die Klägerin am 29.04.2020 Widerspruch ein. Sie meinte, es handele sich bei der Petö-Therapie um eine Leistung zur sozialen Teilhabe. Diese verfolge den Zweck, ihr eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei es keineswegs oberstes Ziel der Therapie, sie – die Klägerin – bewegungsfähig zu machen. Die Therapie diene auch nicht ausschließlich medizinischer Rehabilitation. Bei der konduktiven Therapie nach Petö gehe es nicht darum, eine Krankheit oder deren Ursachen zu behandeln. Vielmehr liege dieser Therapie ein ganzheitliches, auf einem pädagogischen Ansatz beruhendes Konzept zugrunde. Die Behinderung werde als Lernstörung verstanden. Die konduktive Therapie nach Petö versuche, den behinderten Menschen in zahlreichen kleinen Einzelschritten so anzuleiten und zu motivieren, dass Lernerfolge erzielt und verfestigt würden. Die primären Ziele der konduktiven Therapie seien die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und des Selbstbewusstseins, die Steigerung der sozialen und emotionalen Kompetenzen, die Entwicklung von Eigenaktivitäten sowie die Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, der Ausdauer und der Kooperationsfähigkeit. Die konduktive Förderung sei weder Konkurrenz noch Ersatz für medizinische Therapien, sondern strebe Verbesserungen im Bereich der Wahrnehmung und des Verhaltens an. Es sollten vor allem Wahrnehmung und Perzeption durch Spracherziehung und Sprachanleitung gefördert werden. Durch das Lebenspraxisprogramm, das einen großen Teil der Therapiezeiten einnehme, werde die möglichst selbstständige Bewältigung alltäglicher Verrichtungen wie Essen, Trinken, Toilettengang, An- und Auskleiden erlernt. Ein weiterer Schwerpunkt der Therapie sei die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten (Reaktion auf Ansprache, Blickkontakt). Zwar würden durch die konduktive Förderung nach Petö auch die motorischen Fähigkeiten deutlich verbessert. Dies stehe aber gerade im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG der Bewertung als Teilhabeleistung nicht entgegen. Denn bei der Verbesserung der Motorik handele es sich um einen nur mittelbar neben dem in erster Linie pädagogisch ausgerichteten Therapieansatz verfolgten Zweck, der deshalb nicht zu berücksichtigen sei.
7Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 22.09.2020 zurück. Sie bezog sich auf Urteile des BSG (aus 2018) und der LSG‘e NRW und Schleswig-Holstein (aus 2016). Die Beklagte meinte, unter Berücksichtigung der Ausführungen der Rechtsprechung und den Angaben zu den Zielen der Therapie
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1. Individuelle Ziele von Hilfsmitteln und Personen:Verstärkung der gesamten Muskulatur, Aufbau der Rücken- und Nackenmuskulatur,
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2. Individuelle Ziele im sozialen Bereich:Verbesserung der Reaktion auf Ansprache, Blickkontakt fördern,
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3. Individuelle Ziele im lebenspraktischen Bereich:Erlernen der Grundbewegungen wie Robben, Krabbeln und mit Hilfe Aufsetzen, Verstärken der Kopfkontrolle, symmetrische Hüfthaltung erreichen, Aktivieren der linken Hand,
ergebe sich, dass bei der Klägerin ganz überwiegend die Motorik gefördert werden solle. Damit stehe der medizinische Leistungszweck eindeutig im Vordergrund.
13Dagegen hat die Klägerin am 23.10.2020 Klage erhoben. Sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen. Sie meint, die Petö-Therapie setze gerade nicht an der Krankheit selbst und ihren Ursachen an, sondern versuche, die trotz der Behinderungen zur Verfügung stehenden Potentiale für lebenspraktische Fertigkeiten und für die Interaktion mit anderen Menschen zu nutzen. Dass durch die Petö-Therapie auch die motorischen Fähigkeiten verbessert würden, schließe nicht aus, dass es sich um eine Maßnahme der sozialen Rehabilitation handele, denn eine Leistung könne durchaus auch mehrere unterschiedliche Zwecke haben, so dass sich die Zwecke medizinischer und sozialer Rehabilitation überschneiden und die Leistungspflicht für eine soziale Rehabilitation begründen könnten. Die Klägerin hat zur Stützung ihres Klagevortrags einen Bericht des G. T. B. e.V über die Petö-Therapie vom 07.10.2020 vorgelegt. Zur Bezifferung der Kosten hat sie Rechnungen des Vereins für die Zeit von Februar 2020 bis März 2021 über insgesamt 2.700,00 € vorgelegt; in den Monaten April bis August 2020 fanden keine Therapiestunden statt.
14Die Klägerin beantragt,
15die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.03.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2020 zu verurteilen, sie von Kosten der Petö-Therapie für die Zeit vom 01.02.2020 bis 31.03.2021 in Höhe von 2.700,00 € gegenüber dem Verein G. T. B. e.V freizustellen.
16Die Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Sie vertritt unter Berufung auf das BSG-Urteil vom 28.08.2018 (B 8 S0 5/17 R) die Auffassung, maßgebend für die Abgrenzung von medizinischer und sozialer Rehabilitation sei, ob die Therapie direkt an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetze oder unmittelbar die sozialen Folgen einer Behinderung beseitigen bzw. mildern solle. Lediglich mittelbar verfolgte Zwecke und Ziele blieben außer Betracht. Unter Hinweis auf das Urteil des LSG NRW vom 21.04.2016 (L 9 SO 145/14) meint sie, es komme nicht darauf an, dass die Petö-Therapie nach ihrem theoretischen Konzept eine konduktive, d. h. pädagogische, therapeutische und medizinische Bereiche zusammenführende Förderung darstelle. Entscheidend sei, welche Aufgaben und Ziele die konkrete Petö-Maßnahme habe. Bei den Maßnahmen der Petö-Therapie, die bei der Klägerin durchgeführt worden seien, stünde der medizinische Leistungszweck im Vordergrund.
19Das Gericht hat zu den Inhalten und Zielen der Petö-Therapie Auskünfte eingeholt von dem G. T. B. e.V., von dem Orthopäden und Reha-Mediziner Dr. L., von der Kinder- und Jugendklinik der S. B. sowie von dem Kinderarzt X.. Wegen des Ergebnisses wird auf die Auskünfte vom 28.04.2021, 09.05.2021, vom 12.05.2021 und vom 28.05.2021 verwiesen. Außerdem hat das Gericht aus einem anhängigen Parallelverfahren zur Petö-Therapie (S 20 SO 9/21) die dort eingegangene Auskunft der Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des C.-H. T. L.-T.vom 06.05.2021 beigezogen und zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht.
20Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
21Entscheidungsgründe:
22Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
23Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Freistellung von den Kosten einer Petö-Therapie, die ihr für den Zeitraum vom 01.02.2020 bis 31.01.2021 entstandenen sind.
24Rechtsgrundlage für einen Erstattungs- bzw. Freistellungsanspruch der Klägerin ist § 18 Abs. 6 Satz 1, 2. Alt. des Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Danach sind Leistungsberechtigten die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass der Rehabilitationsträger die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
25Das Begehren der Klägerin findet hinsichtlich der ursprünglich beantragten Sachleistung seine Rechtsgrundlagen in §§ 99, 102 Abs. 1 Nr. 4, 113 Abs. 1 und 2 SGB IX (Leistungen der Eingliederungshilfe zur Sozialen Teilhabe). Die Klägerin erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Danach werden Leistungen der Eingliederungshilfe an Personen erbracht, die durch eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Die Klägerin ist durch das bei ihr bestehende Krankheitsbild wesentlich (zur Wesentlichkeit vgl. BSG, Urteil vom 15.11.2012 – B 8 SO 10/11 R) behindert.
26Bei der Petö-Therapie handelt es sich um eine Leistung, die grundsätzlich sowohl als Krankenbehandlung i.S. eines Heilmittels nach § 32 SGB V (BSG, Urteil vom 03.09.2003 – B 1 KR 34/01 R) als auch als Eingliederungshilfe (BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R) in Betracht kommt. Die Petö-Therapie ist als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Sozialen Teilhabe nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie als Heilmittel in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet werden darf.
27Das BSG hat hierzu ausgeführt (BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R):
28„Die Abgrenzung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation von Leistungen zur sozialen Rehabilitation erfolgt nämlich nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen; entscheidend ist vielmehr der Leistungszweck. Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation können sich überschneiden, darauf hat der Senat bereits im Zusammenhang mit der Übernahme der Kosten von Hilfsmitteln i.S. von § 31 SGB IX hingewiesen (Senatsurteil vom 19.5.2009 – B 8 SO 32/07 R – RdNr. 17 Hörgerätebatterien). Die Zwecksetzung der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist mit der Zwecksetzung der Leistungen der GKV nicht identisch (BSG a.a.O.; BSG, Urteil vom 20.11.2008 – B 3 KR 16/08 R – RdNr. 15). …
29§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO liegt dabei auch ein stärker individualisiertes Förderverständnis zu Grunde als den Leistungen zur Heilmittelversorgung der GKV, die generell der Begrenzung des § 138 SGB V unterliegen. Dieser individualisierende Ansatz zeigt sich auch in § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB XII und § 9 Abs. 1 SGB IX, die es ermöglichen, den Wünschen der Leistungsberechtigten Rechnung zu tragen. Zwar enthält auch § 2a SGB V eine Regelung, wonach den besonderen Belangen Behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist; die Leistungsbegrenzung des § 138 SGB V kann dadurch aber nicht ausgeschaltet werden (vgl. nur Plagemann in juris Praxiskommentar SGB V
Leistungen der medizinischen Rehabilitation setzen an der Krankheit selbst und ihren Ursachen an. Sie dienen nach § 42 Abs. 1 SGB IX dazu, Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten (Nr. 1) oder Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern (Nr. 2). Leistungen der sozialen Rehabilitation zielen hingegen darauf, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung von (Teil-)Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen, oder den Personen, die in die Gesellschaft integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden. Daher dienen die Leistungen der sozialen Rehabilitation unter Zugrundelegung eines individualisierten Förderverständnisses dazu, soziale Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern (BSG, Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R; LSG NRW, Urteil vom 25.07.2019 – L 9 SO 317/17).
31Das BSG hat in diesem Zusammenhang nunmehr im Urteil vom 28.08.2018 (B 8 SO 5/17 R) klargestellt, dass für die Abgrenzung von medizinischer und sozialer Rehabilitation maßgeblich ist, ob die Therapie direkt an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetzt oder unmittelbar die sozialen Folgen einer Behinderung beseitigen bzw. mildern soll. Dementsprechend bleiben lediglich mittelbar verfolgte Zwecke und Ziele außer Betracht. Dies bedeutet nicht, dass eine Leistungserbringung, die an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetzt, nicht gleichzeitig mit dem Ziel durchgeführt werden kann, die sozialen Folgen einer Behinderung zu beseitigen bzw. zu mildern und umgekehrt. Eine Maßnahme kann ausgehend von einer am Einzelfall orientierten, individuellen Beurteilung vielmehr auch mehrere unterschiedliche Zwecke haben, sodass sich die Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation überschneiden und (bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen) die Leistungspflicht des Rehabilitationsträgers für eine soziale Rehabilitation begründen können, wenn die Leistung nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation erbracht wird (BSG, a.a.O.; LSG NRW, Urteil vom 25.07.2019 – L 9 SO 317/17).
32Unter Zugrundelegung dieser Entscheidungsmaßstäbe handelte es sich bei der durch den „G. T. B. e.V“ im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.02.2020 bis 31.03.2021 durchgeführten Petö-Therapie um unmittelbare Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Dies führt zur Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung, der gegenüber aber kein Anspruch besteht.
33Bei der Petö-Therapie handelt es sich um eine konduktive Förderung. Das Grundprinzip geht von der Betrachtungsweise aus, dass eine cerebrale Bewegungsstörung ein komplexes Lernhindernis darstellt, das mit besonderen Fördermaßnahmen aktiv handelnd überwunden werden kann, nicht eine Krankheit, die behandelt werden muss. Ziel der Förderung ist, eine maximale Unabhängigkeit von Hilfsmitteln bzw. Personen zu erreichen, zum Beispiel beim Erwerb motorischer Grundfähigkeiten wie Sitzen, Stehen, Gehen, Laufen, Feinmotorik sowie koordinativer Eigenschaften, im intellektuellen und sozial-emotionalen Lernbereichen (Sprache, Kulturtechniken, psychosoziales Handeln), im lebenspraktischen Lernbereich (Essen, Ankleiden, Hygiene). Unter maximaler Unabhängigkeit wird die Fähigkeit verstanden, sich in der jeweils altersadäquaten Umgebung (Kindergarten, Schule, Arbeit) zurechtzufinden, ohne Unterstützung zu benötigen. Der Begriff Orthofunktion wurde von Andras Petö als Pendant zum Begriff der Dysfunktion geprägt. Das Grundprinzip geht von der Betrachtungsweise aus, dass eine cerebrale Bewegungsstörung eher ein Lernhindernis (Dysfunktion) darstellt, das nicht nur eine Beeinträchtigung der Motorik, sondern der gesamten Persönlichkeit beinhaltet. Es soll also eine Lernstörung mit diesen besonderen Fördermaßnahmen überwunden werden. Ziel ist eine physiologische Funktion (Orthofunktion) (vgl. LSG Bayern, Urteil vom 28.06.2018 – L 8 SO 240/17 unter Bezugnahme auf den „Bundesverband konduktive Förderung nach Petö e.V.“, www.bkf-petoe.de). Die Petõ-Therapie ist nach ihrem theoretischen Konzept bzw. Grundverständnis eine konduktive, d.h. pädagogische, therapeutische und medizinische Bereiche zusammenführende Förderung darstellen will. Die konduktive Förderung versteht sich als untrennbare Einheit von Pädagogik und Therapie. Die motorische Förderung ist nur ein Teil des Konzepts, in dem der behinderte Mensch in seiner sozialen, emotionalen, sprachlichen und kognitiven Kompetenz gefördert wird. Im Mittelpunkt steht nicht die Behinderung eines Menschen, sondern seine Persönlichkeit (LSG NRW, Urteil vom 25.07.2019 – L 9 SO 317/17 m.w.N.).
34Die im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen und Berichte des Leistungserbringers sowie die von diesem und behandelnden Ärzten eingeholten Auskünfte – soweit sich die Befragten mit der Therapieform auskennen – bestätigen im konkreten Fall der Klägerin die Zuordnung der Petö-Therapie zur medizinischen Rehabilitation mit mittelbaren Wirkungen für die Soziale Teilhabe der Klägerin.
35Nach dem Therapieplan werden Übungen in den verschieden Körperhaltungen durchgeführt. Im Liegen geht es nach dem Ausziehen der Schuhe und Orthesen um „Mobilisation und Lockerung der großen und kleinen Fußgelenke durch eine Massage, Aufgaben für die Grob- und Feinmotorik, Wahrnehmung und Perzeption durch Spracherziehung und Sprachanleitung“. Im Sitzen geht es um „Aufgaben zur allgemeinen Koordination, Fingerausdifferenzierung, Auge-Handkoordination, Wahrnehmung und Perzeption durch Spracherziehung und Sprachanleitung“ und ein Lebenspraxisprogramm (Orthesen und Schuhe anziehen, Essen, Trinken, Toilettengang). Im Stehen geht es u.a. um „Aufgaben für das Gleichgewicht, Koordination im Raum, Wahrnehmung und Perzeption durch Spracherziehung und Sprachanleitung, Haltungskorrektur“. Als individuelle Ziele werden die maximale Unabhängigkeit von Hilfsmitteln und Personen durch „Verstärken der gesamten Muskulatur, Aufbau der Rücken- und Nackenmuskulatur“, im sozialen Bereich durch „Verbesserung der Reaktion auf Ansprache, Blickkontakt fördern“ sowie im lebenspraktischen Bereich durch „Erlernen der Grundbewegungen, wie Robben, Krabbeln und mit Hilfe aufsetzen; Verstärken der Kopfkontrolle; symmetrische Hüfthaltung erreichen; Aktivieren der linken Hand“ dargestellt. In seiner vom Gericht eingeholten Auskunft vom 28.04.2021 hat der Leistungserbringer die konkret durchgeführten Therapiemaßnahmen beschrieben. Diese verschiedenen im Therapieplan und in der Auskunft beschriebenen Therapiemaßnahmen gehören nicht nur überwiegend, sondern fast ausschließlich zum Heilmittelkatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung, wie er in der gem. §§ 32 Abs. 2, 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 und Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch erlassenen Heilmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt ist, insbesondere zu den Maßnahmen der Physikalischen Therapie (Massage- und Bewegungstherapie), der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie) und der Ergotherapie. Auch der Orthopäde Dr. L. sieht in der Petö-Therapie in erster Linie eine krankengymnastische und ergotherapeutische Behandlung als Ergänzung, Kombination und Zusammenfassung der sonstigen Therapiemaßnahmen, die auch der Verbesserung der Gesamtentwicklung der Persönlichkeit des behinderten Menschen dient. Und die Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums des C. H. T., L.-T., hat in der aus dem Parallelverfahren S 20 SO 9/21 beigezogenen Auskunft vom 06.05.2021 mitgeteilt, ihr sei die Behandlungsmethode der konduktiven Förderung nach Petö bekannt; sie habe in den vergangenen Jahren die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Methode sowie die Anerkennung als Heilmittel mit verfolgt. Die Ärztin hat grundsätzlich festgestellt, Therapiemaßnahmen, die die körperlichen und geistigen Fähigkeiten förderten, würden mit dem Ziel durchgeführt, die Eingliederung in das gesellschaftliche Leben zu verbessern. Sie hat aber darauf hingewiesen, dass nach ihrer Kenntnis alle Therapiemaßnahmen (der Petö-Therapie) zunächst unmittelbar an den körperlichen oder geistigen Störungen ansetzten, um entweder diese Funktionen zu verbessern oder Kompensationsstrategien zu finden. Es gebe in der Petö-Therapie keine Therapiemaßnahme, die ausschließlich und unmittelbar der Beseitigung der sozialen Folgen der Behinderung dienten.
36Nach alledem ist sowohl nach dem allgemeinen Therapiekonzept als auch nach dem konkreten Therapieplan für die Klägerin als auch nach der Bewertung durch den Leistungserbringer in dessen auf Anfrage des Gerichts erteilten Auskunft als auch nach dem Urteil der mit der Therapieform vertrauten Ärzte für die Kammer nachvollziehbar, dass die Petö-Therapie ein komplexes System der gleichzeitigen Förderung von motorischen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten ist. Auch diese Therapieform ist jedoch nach den tatsächlich durchgeführten Maßnahmen in allerster Linie dem Bereich der medizinischen Rehabilitation (Heilmittel) zuzuordnen, die – dies unterscheidet sie nicht von den klassischen Heilmitteln/Therapieformen – immer auch mittelbar der sozialen Teilhabe des behinderten Menschen dient. Solche lediglich mittelbaren Zwecke und Ziele bleiben jedoch bei der Abgrenzung von medizinischer und sozialer Rehabilitation außer Betracht (so ausdrücklich: BSG, Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R). Kommt es zu einer Überschneidung von medizinischer und sozialer Rehabilitation, ist die notwendige Zuordnung einer Maßnahme danach vorzunehmen, welcher Leistungszweck im Vordergrund steht bzw. den Schwerpunkt bildet. Dient aber die Petö-Therapie – wie im Fall der Klägerin – zwar auch der Verbesserung der Sozialen Teilhabe, steht dabei aber der medizinische Leistungszweck im Vordergrund, so ist sie allein der medizinischen Rehabilitation zuzuordnen (vgl. auch LSG Hamburg, Urteil vom 12.03.2018 – L 4 SO 17/15).
37Eine Leistungsverpflichtung der Beklagten (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation) bzw. der gesetzlichen Krankenkasse scheidet in Bezug auf die Petö-Therapie ebenfalls aus. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation entsprechen den Rehabilitationsleistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Wie bei der Hilfe zur Gesundheit (vgl. § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) werden die Leistungen der medizinischen Rehabilitation mit den Leistungen der Krankenversicherung so verknüpft, dass sie nach Art und Umfang nicht über die Leistungen des SGB V hinausgehen. Nach der Anlage 1 Buchstabe a) Nr. 12 der Heilmitteln-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gehört die sogenannte konduktive Therapie nach Petö zu den nichtverordnungsfähigen Heilmitteln (BSG, Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R; LSG NRW, Urteil vom 25.07.2019 – L 9 SO 317/17; jeweils m.w.N).
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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