Urteil vom Sozialgericht Lüneburg (4. Kammer) - S 4 R 58/17
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 12.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2016 verurteilt, die Klägerin von der gesetzlichen Versicherungspflicht für die Zeit vom 01.10.2015 bis 30.09.2016 zu befreien.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.
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Die am G. geborene Klägerin ist seit 14.01.2009 Mitglied im Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg. Ab 01.02.2014 übte sie eine Tätigkeit als angestellte Rechtsanwältin in eine Rechtsanwaltskanzlei aus; für diese Tätigkeit wurde sie mit Bescheid der Beklagten vom 08.04.2014 von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses am 31.01.2015 meldete sich die Klägerin arbeitslos und bezog bis 30.09.2015 Arbeitslosengeld.
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Zum 01.10.2015 nahm die Klägerin eine befristete Beschäftigung bei der Agentur für Arbeit Hamburg auf und beantragte für diese Tätigkeit die Befreiung von der Versicherungspflicht. Mit Bescheid vom 12.11.2015 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab mit der Begründung, die Klägerin sei zwar Pflichtmitglied einer Rechtsanwaltskammer und auch eines berufsständischen Versorgungswerks, doch bestehe die Pflichtmitgliedschaft nicht wegen ihrer Beschäftigung bei der Bundesagentur für Arbeit. Die zuvor ausgesprochene Befreiung von der Rentenversicherungspflicht habe sich mit Aufgabe der abhängigen Beschäftigung erledigt, so dass auch eine Erstreckung der Befreiung auf eine berufsfremde Beschäftigung nicht möglich sei.
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Einen hiergegen, mit Schreiben vom 24.11.2015 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.12.2016 zurück.
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Am 30.01.2017 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben. Nach ihrer Auffassung besteht bei fortdauernder Beitragszahlung an das Versorgungswerk während der Arbeitslosigkeit und mit der Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen befristeten Beschäftigungsverhältnisses die erteilte Befreiung von der Rentenversicherungspflicht fort. Durch die Regelung solle eine Stabilität der Altersvorsorge gesichert und der Wechsel zwischen verschiedenen Altersvorsorgesystemen vermieden werden. Eine vorübergehende Arbeitslosigkeit von mehr als drei Monaten sei auch nicht unüblich.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 12.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie von der gesetzlichen Versicherungspflicht im Zeitraum 01.10.2015 bis 30.09.2016 zu befreien.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sei auf die jeweilige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit beschränkt. In Erweiterung des Tätigkeitsbezugs erstrecke sich die Befreiung ausnahmsweise dann auf eine andere Tätigkeit, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt sei und die Versorgungseinrichtung auch während der Ausübung dieser Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleiste. Dieser Gesetzeszweck sei aber nur erfüllt, wenn zuletzt vor der Aufnahme der neuen Beschäftigung keine Zugehörigkeit zum System der gesetzlichen Rentenversicherung, beispielsweise durch Kindererziehungszeiten, Versicherungszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld I, einer nicht erwerbsmäßigen Pflege oder aus geringfügig entlohnter Berufen der Beschäftigung begründet worden sei.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zur Akte gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die gem. § 54 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 12.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Voraussetzungen für eine Befreiung von der gesetzlichen Versicherungspflicht liegen bei ihr für den Zeitraum ihrer befristeten Beschäftigung bei der Agentur für Arbeit Hamburg vom 01.10.2015 bis 30.09.2016 vor.
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Allerdings ergibt sich – was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist – die Befreiung von der Versicherungspflicht nicht aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift werden Beschäftigte und selbstständig Tätige für die Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (Berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen von der Versicherungspflicht befreit. Unzweifelhaft übte die Klägerin im streitrelevanten Zeitraum eine gemäß § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI versicherungspflichtige Beschäftigung für die Agentur für Arbeit Hamburg aus und war sie Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung (Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg) sowie Mitglied einer berufsständischen Kammer. Doch war sie bei der Agentur für Arbeit Hamburg nicht als Rechtsanwältin beschäftigt und bestand damit die Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg sowie in der Rechtsanwaltskammer nicht wegen dieser Beschäftigung. Im Übrigen ergibt sich die Befreiung von der Versicherungspflicht für die Tätigkeit bei der Agentur für Arbeit auch nicht aus dem Bescheid der Beklagten vom 08.04.2014, da sich diese ausschließlich auf die vorherige Tätigkeit als Rechtsanwältin in einer Rechtsanwaltskanzlei bezieht; die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Zugehörigkeit zu einer berufsständischen Versorgungseinrichtung bezieht sich nur auf die Beschäftigung oder Tätigkeit, auf der die Pflichtmitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung beruht (BSG, Urteil v. 22.10.1998, Az.: B 5/4 RA 80/97 R; Urteil v. 05.12.2017, Az.: B 12 KR 11/15 R, Rn. 21 – juris). Mit dem Wechsel in eine andere Beschäftigung - wie auch vorliegend - verlieren Befreiungsbescheide ihre Wirkung und werden damit gegenstandslos (BSG, Urteil v. 31.10.2012, Az: B 12 R 8/10 R, Rn. 18; Urteil v. 31.10.2012, Az.: B 12 R 5/10 R, Rn. 17 ff. – jeweils bei juris).
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Der angefochtene Bescheid ist jedoch rechtswidrig, weil die erteilte Befreiung im Wege einer Erstreckung gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI auch für die befristete Tätigkeit bei der Agentur für Arbeit Hamburg wirkt. Nach dieser Regelung erstreckt sich eine Befreiung in den Fällen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI auf eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist und der Versorgungsträger für die Zeit der Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet. Nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 22.09.2015 war die zum 01.10.2015 aufgenommene Tätigkeit bei der Agentur für Arbeit bis zum 30.09.2016 befristet und damit im Voraus zeitlich begrenzt. Ferner bestand während der Zeit dieser Beschäftigung eine Mitgliedschaft im Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg, so dass der Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften durch Zahlung von Pflichtbeiträgen gewährleistet war.
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Die zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit bzw. der Bezug von Arbeitslosengeld schließen eine Erstreckung der Befreiung nach dieser Vorschrift auch nicht aus. Allerdings weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass der Bezug von Arbeitslosengeld keine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit im Sinne dieser Vorschrift ist. Doch auch wenn mit Aufgabe der Beschäftigung, für welche Befreiung erteilt wurde, die Befreiung zunächst gegenstandslos wird, verliert sie nicht jede Bedeutung; vielmehr gehen mittelbare Wirkungen auch weiterhin von ihr aus. Beispielsweise können – wie vorliegend - nach Beendigung der Tätigkeit im Falle der Arbeitslosigkeit gem. § 173 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) Beiträge an die Versorgungseinrichtung gezahlt werden; zudem entfaltet der Befreiungsbescheid bei erneuter Aufnahme der ursprünglichen Beschäftigung erneut Wirkung, ohne dass es eines neuen Antrages bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1998, Az.: B 5/4 RA 80/97 R – juris Rz. 22). Zutreffend ist auch, dass sich die Befreiung auf eine berufsfremde Tätigkeit nur dann erstrecken kann, wenn sie unmittelbar an die Kammertätigkeit anschließt. Denn der Gesetzeszweck, eine kontinuierliche Absicherung in einem System zu erhalten (s. dazu: Segebrecht in: Kreikebohm, SGB VI, 5. Aufl. 2017, § 6 Rn. 113 m.w.N.), kann bei zwischenzeitlicher Zugehörigkeit zu einem anderen System nicht mehr gewährleistet werden. Doch schließt eine zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit mit Bezug von Arbeitslosengeld den unmittelbaren Anschluss der befristeten Beschäftigung an die vorangegangene Beschäftigung nicht aus, da – wie die Regelung § 173 SGB III zeigt – ein Wechsel des Versorgungssystems bis dahin vermieden werden kann. Vielmehr fehlt eine die Erstreckung ausschließende Unmittelbarkeit erst dann, wenn nach Aufgabe der kammerbezogenen Tätigkeit eine andere (berufsfremde, unbefristete) Tätigkeit ausgeübt wird. Mit der in § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI getroffenen Ausnahmeregelung wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass eine vorübergehende berufsfremde Tätigkeit nicht zu einem Wechsel des Altersversicherungssystems führt; als Anwendungsbeispiel wird insbesondere die Zeit der Ableistung des Wehrdienstes genannt (BT-Drs. 11/4124 Seite 152). Die Erstreckungswirkung bezieht sich im Fall des Wehrdienstes aber gerade nicht auf die Aufnahme derselben Tätigkeit nach Ableistung der Wehrdienstzeit, sondern auf eine andere (berufsfremde) Tätigkeit, da - wie bereits dargelegt - bei Aufnahme derselben Beschäftigung bereits die ursprünglich erteilte Befreiung wieder auflebt. Ebenso wenig wie der Wehrdienst (der bei Einführung des Gesetzes noch verpflichtend war) aber die Unmittelbarkeit einer im Anschluss aufgenommenen Tätigkeit ausschließt, ist dies bei dem Bezug von Arbeitslosengeld der Fall. In beiden Fällen handelt es sich gleichermaßen um einen vorübergehenden Zustand ohne Beschäftigung in einer Kammertätigkeit, der nicht zum Wechsel des Versorgungssystems bei Aufnahme der befristeten Tätigkeit führen soll und daher die Erstreckung der Befreiung auf eine im Anschluss aufgenommene Tätigkeit nicht ausschließt.
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Liegen damit die Voraussetzungen für eine Erstreckung nach § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI vor, ist die Beklagte zur Erteilung einer Befreiung für die Tätigkeit der Klägerin im Zeitraum 01.10.2015 bis 30.09.2016 zu verpflichten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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Referenzen
- § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 183 1x
- 4 RA 80/97 2x (nicht zugeordnet)
- SGG § 193 1x
- § 173 SGB III 1x (nicht zugeordnet)
- § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI 3x (nicht zugeordnet)
- 12 KR 11/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI 1x (nicht zugeordnet)
- 12 R 8/10 1x (nicht zugeordnet)
- 12 R 5/10 1x (nicht zugeordnet)