Beschluss vom Sozialgericht Münster - S 14 R 29/21
Tenor
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in vollem Umfang ( = 100 %).
1
Gründe:
2I.
3Dieser Entscheidung liegt als Verfahren zugrunde die mittlerweile erledigte Untätigkeitsklage S 14 R 29/21, mit der der Kläger geltend machte, die Beklagte habe nicht in der 3-Monats-Frist i.S.v. § 88 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) über seinen Widerspruch gegen die Ablehnung einer Erwerbsminderungsrente entschieden.
4Am 28.08.2019 stellte der Kläger bei der Beklagten den Antrag auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, der mit Bescheid der Beklagten vom 27.02.2020 abgelehnt und gegen den rechtzeitig im Frühjahr 2020 vom Kläger Widerspruch eingelegt wurde. Eine Entscheidung über diesen Rechtsbehelf erging erst durch teilweise abhelfenden Bescheid der Beklagten vom 15.04.2021 mit Bewilligung der vollen EM-Rente auf Dauer ab einem Zeitpunkt im Dezember 2018.
5Am 13.01.2021 hat der Kläger Untätigkeitsklage bei dem Sozialgericht (SG) Münster zum Az. S 14 R 29/21 erhoben. Er ist der Ansicht, die Beklagte habe keinen sachlichen Grund dafür, dass der beratungsärztliche Dienst erst mehrere Monate nach Eingang der Widerspruchsbegründung in seinen Schriftsätzen vom Juni 2020 bzw. Juli 2020 eingeschaltet worden sei. Die Beklagte führte dagegen auf Nachfrage des Gerichts mit Schriftsatz vom 12.04.2021 u.a. namentlich für einem Zeitraum der Untätigkeit bei der beraterärztlichen Überprüfung vom 24.11.2020 bis 27.01.2021 aus, es sei zu berücksichtigen, dass „es in Spitzenzeiten dazu kommen könne, dass das Personal beim beratungsärztlichen Dienst vorübergehend nicht ausreicht , um alle ärztlichen Unterlagen , die eingereicht werden, zeitnah zu sichten und eine Entscheidung zu treffen.“
6Mit Schriftsatz vom 23.04.2021 erklärte der Kläger angesichts des nun vorliegenden Rentenbescheides die Untätigkeitsklage für erledigt und beantragte, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
7Zum Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakte S 14 R 29/21 , SG Münster, Bezug genommen.
8II.
9Über die Kostenerstattungspflicht der Beteiligten ist gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG durch Beschluss zu entscheiden, da das Verfahren am 26.04.2021 durch eine Erledigungserklärung im Sinne des § 88 Abs. 2 iVm Abs. 1 Satz 3 SGG beendet wurde. Mit Schriftsatz vom 23.04.2021 stellte der Kläger-Bevollmächtigte zudem ausdrücklich gerichtlichen Kostenantrag.
10Die Entscheidung über die Kostentragungspflicht nach § 193 Abs. 1 SGG ergeht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SSG, 13. Aufl. 2020, § 193 Rn. 13 mwN). Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung maßgeblich. Das Gericht hat bei der Ermessensentscheidung alle Umstände des Einzelfalles unter Beachtung der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens zu berücksichtigen. Daher ist das voraussichtliche Maß des Obsiegens bzw. Unterliegens nicht das allein wesentliche Entscheidungskriterium, sondern in die Entscheidung können auch Gesichtspunkte wie die Veranlassung des Rechtsstreits, die Verursachung unnötiger Kosten und die Anpassungsbereitschaft an eine geänderte Rechts- oder Sachlage eingehen (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 193 Rn. 12b mwN).
11Handelt es sich bei dem erledigten Streitverfahren um eine Untätigkeitsklage gemäß § 88 SGG, so fallen die Kosten dann der Beklagten zur Last, wenn der Kläger mit einer Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, aaO., § 193 Rn. 13c). Zu prüfen ist, ob der Kläger berechtigterweise die Gerichte in Anspruch genommen hat, um eine unangemessene Verzögerung der Bearbeitung seines Antrages zu verhindern (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, aaO., § 193 Rn. 12b). Dies gilt insbesondere dann, wenn innerhalb angemessener Frist kein Bescheid ergangen ist und für den Kläger aufgrund des Verhaltens der Beklagten nicht erkennbar ist, welche Gründe für die Verzögerung bestehen und ob in absehbarer Zeit eine Entscheidung getroffen wird. In diesem Fall soll dem Bürger das Kostenrisiko für die Erhebung einer Untätigkeitsklage abgenommen werden, da es für ihn in der Regel nur schwer erkennbar ist, ob und welche Gründe den Sozialversicherungsträger von einer zeitig früheren Entscheidung abgehalten haben (vgl. SG Duisburg Beschluss vom 13.02.2009 – S 10 R 193/07, juris).
12Andererseits muss die Beklagte bei Erledigung einer Untätigkeitsklage gem. § 88 SGG die Kosten bei Klageerhebung nach Ablauf der dreimonatigen Sperrfrist doch nicht erstatten, wenn sie einen zureichenden Grund für die Untätigkeit hatte und diesen Grund dem Kläger mitgeteilt hat oder er ihm bekannt war (vgl. LSG SachsAnh., Beschluss vom 04.04.2011 – L 8 B 13/07 AY, BeckRS 2011, 72562,ebenso Schmidt in: Meyer-Ladewig u.a.SGG, aaO., § 193 Rn. 13 c; SG Duisburg Beschl. v.13.02.2009 – S 10 R 193/07, juris). In diesem Zusammenhang kann auch der Kooperation der Beteiligten im Vorfeld der Untätigkeitsklage entscheidungserhebliche Bedeutung zukommen (vgl. Hessisches LSG Beschluss vom 03.05.2006 – L 9 B16/06 SO, juris). Darüber hinaus misst die Rechtsprechung aber insbesondere auch dem Umstand Bedeutung zu, ob die Ermittlungen zeitnah auf den Eingang des Widerspruchs aufgenommen worden sind (vgl. z. B. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen -LSG NRW – Beschl. v. 22.06.2007 – L 20 B 19/07 AY, juris).
13Unter Heranziehung der Gesamtheit dieser Grundsätze ist die volle Kostenerstattungspflicht der Beklagten dem Grunde nach hier gegeben und auch unter Berücksichtigung etwaiger amtsinterner Besonderheiten sowie unbeschadet der gegenwärtigen Corona-Pandemie gerechtfertigt. Die Untätigkeitsklage war hier gem. § 88 Abs. 3 SGG zulässig, da die Behörde unstreitig und offenkundig schlicht nicht innerhalb der gesetzlichen Drei-Monats-Frist über den Widerspruch des Klägers auf den Ablehnungsbescheid vom 27.02.2020 entschieden hatte. Auch wenn die Beklagte daran anschließend nicht untätig war, hat sie die Gründe für die Verzögerung der Entscheidung über den Widerspruch der Klägerin und insbesondere die Umstände zur Erhebung der Untätigkeitsklage hier im Januar 2021 doch abschließend ganz zu vertreten. Die Beklagte hätte zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides verurteilt werden müssen, weil der Kläger bis zur Klageerhebung am 13.01.2021 hier beim SG Münster mit einer Entscheidung über den Widerspruch rechnen durfte. Ihm waren Gründe, die die Beklagte an einer Entscheidung hinderten, durch die Beklagte nicht bekannt gegeben worden noch hätte sie solche im internen Ablauf beim beraterärztlichen Dienst der Beklagten kennen können geschweige denn kennen müssen. Die Beklagte hat hier ihren beratungsärztlichen Dienst zur Prüfung beigezogen. Dieser ließ danach jedoch annähernd zwei Monate ohne jede Sachaufklärungsaktivität , vgl. § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), verstreichen, war also vollends darin untätig, den medizinischen Sachverhalt bezüglich des Klägers medizinisch fachkundig bewerten zu lassen.
14Diese „in die Länge gezogene“ Tätigkeit wiederum ist nach Anfrage des Gerichts bei der Beklagten vom 26.03.2021 auch nicht den allgemein bekannten Verhältnissen der gegenwärtigen Corona-Pandemie geschuldet. Die anteilige Kostenerstattungspflicht der Beklagten ist vielmehr unbeschadet etwaiger „Corona-Folgen“ auszusprechen. Denn die Beklagte hatte hier bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Januar 2021 nicht entschieden. Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Beklagte nach Eingang des Widerspruchs des Klägers im März 2020 dafür anzuerkennende Gründe gehabt hätte. Nicht zur rechtfertigenden Erklärung einer unterbliebenen Verwaltungsentscheidung genügt die Einlassung der Beklagten mit Schriftsatz vom 12.04.2021 u.a. für den Zeitraum der Untätigkeit bei der beraterärztlichen Überprüfung vom 24.11.2020 bis 27.01.2021, dass „es in Spitzenzeiten dazu kommen könne, dass das Personal beim beratungsärztlichen Dienst vorübergehend nicht ausreicht , um alle ärztlichen Unterlagen , die eingereicht werden, zeitnah zu sichten und eine Entscheidung zu treffen.“
15Anerkannt sind nach Rechtsprechung und Literatur im Wesentlichen folgende vorübergehende besondere Belastungen: Solche auf Grund von Gesetzesänderungen, unter Umständen vorübergehende programmtechnische Schwierigkeiten infolge Änderung (BSGE 73, 244 (252); LSG Bln NZS 1993, 184; BayLSG 9.6.2009 – L 19 B 15/08 R; Ulmer in Hennig Rn. 14); Umzug oder organisatorische Änderungen (BVerwGE 42, 108; Richter/Kreische in PHdB-SozS § 3 Rn. 48); besondere Schwierigkeit insbes. hinsichtlich Sachverhalts (LSG BW 17.8.2017 – L 6 VU 2647/17 B; Ulmer in Hennig Rn. 5; vgl. auch BFHE 92, 170; Kopp/Schenke § 75 Rn. 13; Weides/Bertram NVwZ 1988, 673 (674)), Auslandsermittlungen oÄ, wobei Behörde die zur Beschleunigung erforderlichen Maßnahmen treffen und unter Umständen Zwischenbescheid geben muss (BVerwG Buchholz 310 § 75 VwGO Nr. 5; LSG Nds NdsRpfl 2001, 387; vgl. zu alledem Meyer-Ladewig u.a. , aaO., § 193 Rn. 7a SG Frankfurt/Oder 10.4.2013 – S 28 AS 1569/12). Hingegen ist kein zureichender Verzögerungsgrund schlichter Personalmangel ohne eine anzuerkennende vorübergehende Überlastung im obigen Sinne ( ebenso Meyer-Ladewig u.a. , aaO., § 193 Rn. 7b). Vorübergehende oder gar länger andauernde besondere Belastungen, wie sie wegen der strukturellen Änderungen des Rentenrechts von der Reichsversicherungsordnung (RVO) zum SGB VI ab 01.01.1992 aufgetreten sind , wurden als ein solcher zureichender Grund dafür , dass der Versicherungsträger über einen Widerspruch nicht innerhalb von 3 Monaten entscheidet, angesehen( LSG NRW Beschl. v. 20.03.1996 L 18 SJ 1/96 ,rechtskräftig ,unveröffentlicht, SGB INTERN NRW). Von einer vergleichbaren Situation kann hier angesichts des Vorbringens der Beklagten im Schriftsatz vom 12.04.2021 über „immer mehr und immer komplexer werdende Anträge auf Erwerbsminderungsrenten und die damit verbundenen Widersprüche“ keine Rede sein. Es bestand Personalmangel bei der Beklagten. Dieser führte zur Verzögerung weit jenseits der dreimonatigen Widerspruchs-Entscheidungsfrist. Dafür hat die Beklagte jetzt hier nach dem Gesetz eben die Kostenlast zu tragen. Im Übrigen wäre der Beklagten schon allein nach Aktenlage durch ihren beraterärztlichen Dienst– ohne Untersuchungen bzw. Außenkontakte angesichts des Corona-Geschehens seit März 2020 – eine Auswertung der Widerspruchsbegründung aus den Schriftsätzen des Klägers vom Juni 2020 bzw. Juli 2020 möglich gewesen. Warum dies aber seit dem ersten „Lock-Down“ Mitte März 2020 - faktisch bis nach dem 27.01.2021 überhaupt nicht erfolgte, hat die Beklagte auch mit ihrem oben bereits zweimal zitierten Schreiben vom 12.04.2021 für das erkennende Gericht jedenfalls nicht plausibel machen können. Vielmehr konnte der Kläger zu Recht weiterhin im Zeitpunkt der Klageerhebung im Januar 2021 nicht davon ausgehen, dass die Beklagte ohne vorherige Untätigkeitsklage alsbald tätig werden würde, zumal die Beklagte andererseits auch keinerlei Zwischennachricht/-mitteilung veranlasst hat ( auch dazu bereits LSG NRW Beschluss vom 27.12.2004 – L 4 B 10/04 RJ, rechtskräftig ,unveröffentlicht, SGB INTERN NRW).
16Zwar wurden generell bekanntlich durch die der Corona-Pandemie geschuldeten wiederholten , nach hiesiger Zählung mindestens drei längeren, „lockdowns“ Arbeitsabläufe in sämtlichen Behörden, kommunal, in den Ländern und auf Bundesebene, stark eingeschränkt. Sonstige Verzögerungen der Entscheidung wie hier hätte die Beklagte dem Kläger jedoch mitteilen können und auch sollen. Sie hätte die Klägerseite hinsichtlich der Auswertung der Widerspruchsbegründung genau über diese Umstände in Kenntnis setzen und dem Bevollmächtigten, vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 bis Satz 4 SGB X - im Gerichtsverfahren entspricht dies insbes. § 73 Abs. 6 Satz 6 SGG - , mitteilen müssen, zu welchem Zeitpunkt mit der Bescheidserteilung zu dem Widerspruch vom März 2020 gerechnet werden könne. Auch das stützt die Rechtsprechung hier, wonach bei Vorliegen eines zureichenden Grundes für eine nicht fristgerechte Entscheidung eine Zwischennachricht an den Betroffenen als erforderlich verlangt wird, aus der erkennbar wird, aus welchen Gründen der Bescheid noch nicht erteilt werden kann (vgl. LSG NRW Beschluss vom 04.01.1993 - L 10 S 17/92 =rv 1994, 176-177, dem folgend auch LSG NRW Beschluss vom 16.02.2007 – L 2 B 24/05 KN KR –, juris Rn. 9; vgl auch bereits OVG Lüneburg in : MDR 1968, 525 sowie Hessischer VGH in : DÖV 1973, 684).
17In Gesamtschau rechtfertigt all dies die Tragung der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Untätigkeitsklage S 14 R 29/21 durch die Beklagte in vollem Umfang .
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